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Eines Morgens Ende März stieg Herr von Migurac gegen sechs Uhr aus der Eilpost von Bordeaux, die ihn im Dorf Présignan absetzte. Vor Kälte erstarrt und übrigens nur im Besitz von vier Sous, beschloß er, die drei Meilen, die ihn von Migurac trennten, zu Fuß zurückzulegen.
Eine matte Frühjahrssonne ging am Horizont auf, zerteilte die Morgennebel und goß ihr kaltes Licht über die kaum ergrünenden Felder, über das knospende Laub der Bäume und die noch kahlen, verlassenen Weingärten. Hier und da ertönte das Gackern des Federviehs, Hundegebell und das erste Gebrüll der erwachenden Herden.
Seit dreißig Jahren durchmaß Herr von Migurac zum erstenmal wieder die Fluren, die er an der Schwelle des Jünglingsalters verlassen hatte, und heftige, widersprechende Regungen zogen ihm durch das Herz. Einige einfache Betrachtungen, die sich seinem Geist naturgemäß aufdrängten, erschienen ihm in wunderbarer Bedeutung. Hier, wo die ersten Tage seiner Kindheit verflossen waren, kehrte er am Abschluß einer langen und stürmischen Laufbahn zurück, in der er so viele Dinge gesehen hatte, durch die er ein andrer geworden und dennoch derselbe geblieben war.
Bei gewissen Biegungen des Weges, wenn er die Umrisse eines Pachthofes oder eines Steinkreuzes erkannte, schien es ihm, als ob er erst gestern fortgegangen wäre. Und dann wieder, wenn er den rasenden Lauf der Zeit erwog, stellte er sich mit Entsetzen vor, was alles seit jenem Augenblick gestorben war, gestorben für alle Ewigkeit. Und die Eindrücke, die sich in seiner Seele drängten, waren so vielfältig und widersprechend, daß er nicht mehr wußte, ob seine Augen vor Schmerz oder Freude naß waren, und er gedachte der Rückkehr des alten Odysseus in seine Heimat Ithaka nach ebenfalls dreißigjährigem Fernsein. Aber die zärtliche und getreue Penelope erwartete den Wanderer am häuslichen Herde … Plötzlich gab ihm die Erinnerung an seine beiden Gattinnen einen schmerzhaften Stich ins Herz: an die, die er betrogen, da sie ihn liebte, und an die, die ihn betrogen, da er sie liebte.
Keuchend und in Schweiß gebadet trotz des frischen Windes, der ihn zum Husten reizte, mußte der Wanderer sich mehrmals auf eine Böschung am Wegrand setzen, um Atem zu schöpfen. Endlich erreichte er die Höhe des Hügels von Castelmoren und bemerkte vor sich in einiger Entfernung die bekannten Häuser des Fleckens und weiterhin die große Allee, die Dächer und Türmchen des Schlosses. Da kam ihm die Erinnerung, wie er sich vor einem Vierteljahrhundert an dieser selben Stelle umgedreht hatte, um der Heimat, die er verließ, ein letztes Lebewohl zu sagen. Und plötzlich schmolz sein Herz; etwas Gewaltiges, Unwillkürliches, Niegedachtes überwältigte ihn. Er warf sich schluchzend zur Erde und beweinte, er wußte selbst nicht genau was, die Toten, sich selbst und sein Leben, das, was gewesen war, und das, was hätte sein können, und die große Spanne dieser dreißig verschlungenen Jahre, so leer und so voll, die fast einen Greis aus ihm gemacht hatten.
Indessen ergriff er seinen Stock und richtete sich wieder auf. Nach einigen Schritten war er inmitten der Dorfhäuser. Ihr Anblick war wenig verändert, aber es schmerzte ihn, kein Gesicht zu erkennen. Höchstens ein oder zwei Greise schienen die Karikaturen von jungen Männern von damals zu sein. Die Hausfrauen öffneten ihre Fenster und warfen einen zerstreuten Blick auf sein abgemagertes, gebräuntes Gesicht. Die Burschen gingen auf ihrem Wege zur Arbeit an ihm vorbei, ohne die Mütze zu lüften. Nach und nach legte sich seine Bewegung, aber eine tiefe, bittere Traurigkeit ergriff ihn. Sogar hier auf heimatlichem Boden war er so allein, wie am andern Ende der Welt. Und seine Einsamkeit bedrückte ihn noch mehr.
Das Parkgitter war immer noch da. Am Ende der Allee erhob sich das väterliche Schloß. Aber die meisten Fensterläden waren geschlossen. Unkraut hatte die Terrasse überwuchert, mehrere große Bäume waren abgeschlagen. Alles atmete Trauer und Verfall.
Herr von Migurac betrat den Weg, auf dem er seine ersten Schritte gemacht hatte, überschritt die Schwelle, von der aus man seinen Vater fortgetragen hatte, um ihn zu begraben, und läutete an der Tür, die er in einer weit zurückliegenden Morgendämmerung leise hinter sich geschlossen hatte, um zu entfliehen. Es gab einen Ton, wie von einer zersprungenen Glocke. Nach einer Minute hörte man ungleiche Schritte über das Vestibül schlurren; die Ketten klirrten, die Tür drehte sich in ihren Angeln und in der Spalte zeigte sich das faltige Gesicht einer furchtsamen Alten, die eine altertümliche Mütze auf dem Kopfe trug und den Eindringling mißtrauisch musterte. Mit erstickter Stimme murmelte der Marquis:
»Maguelonne!«
Die Alte zitterte, blickte ihn sehnsüchtig an, und ihr ganzes runzliges Gesicht zuckte und zog sich in Falten; sie faltete ihre verschrumpften Hände und lallte mit den schlaff auf die zahnlosen Kiefern gesunkenen Lippen:
»Lulu!«
Und der Marquis warf sich in die Arme seiner Amme und verbarg sein Gesicht an ihrem welken Busen, wie er es vor einem halben Jahrhundert getan, wenn er in kindlicher Angst sich vor dem Leben fürchtete, oder wenn der vergebliche Versuch, die Sonnenstrahlen, in denen die Stäubchen tanzten, mit seiner kleinen Hand zu greifen, ihn Hoffnung und Enttäuschung lehrte.
Indessen kam auf das Rufen der Alten Herr Joineau hastig die eichenen Treppen herunter; sein Schritt war schwer, aber noch fest. Auch er umarmte den verlorenen Sohn mit Freudenrufen und Tränen. Und als alle drei sich im Eßsaal um den Tisch gesetzt hatten, begannen sie eine abgerissene Unterhaltung ohne Zusammenhang, in die sich die Erinnerungen von dreißig Jahren aufs Geratewohl mischten, bis plötzlich Herr von Migurac erblaßte und auf seinem Stuhl schwankte.
»Jesus Maria,« schrie die alte Magd, indem sie auf ihn stürzte, »was ist Ihnen, Herr Marquis?«
Aber er lächelte schon, um sie zu beruhigen, und murmelte in schwachem Ton:
»Es ist nichts. Die Aufregung der Reise und vielleicht ein wenig Schwindel … Einen Schluck alten Wein und einen Hühnerflügel …«
Herrn von Migurac entging der ängstliche Blick, den die Alte und der Abbé austauschten. Fünf Minuten später setzte Maguelonne einen Napf mit Kohlsuppe, eine kleine Scheibe gesalzenes Schweinefleisch und ein Stück Ziegenkäse vor ihn hin, dem der Marquis tapfer zusprach.
Während Herr von Migurac sich erholte und den unerschöpflichen Reden von Maguelonne und dem Abbé zuhörte, ließ er seine Augen mechanisch in dem altertümlichen Speisesaal umherschweifen. Er bemerkte, daß das Silber, das ehedem in den Schränken glänzte, verschwunden war, sah den abgenutzten Zustand der Möbel, die geflickte Soutane des Abbé, die dürftige Kleidung Maguelonnes und die magere Kost. Und indem er ein augenblickliches Schweigen benutzte, sagte er im Tone freundschaftlichen Vorwurfs:
»Herr Joineau, erlauben Sie Ihrem alten Schüler, Sie auszuschelten. Hatte ich Ihnen nicht bei meiner Abreise anempfohlen, von diesem Haus und dem dazugehörigen Einkommen wie von Ihrem Eigentum Gebrauch zu machen? Nun legen aber diese Soutane und das kärgliche Mahl genugsam Zeugnis dafür ab, mit welcher Bescheidenheit Sie meine Befehle ausgeführt haben. Denn Sie verschmähten früher weder die schönen Stoffe, noch haßten Sie die Freuden der Tafel. Ich will Sie nicht wegen einer so rührenden Gewissenhaftigkeit tadeln, aber gestatten Sie, daß ich hier eine andre Lebensweise einführe, da die Vorsehung mich an diesen Ort zurückgeführt hat. Ich wünsche, daß gleich morgen alle meine Bauern zusammengerufen werden, um hier mit einem ländlichen Fest meine Rückkehr zu feiern, und jeder soll zur Erinnerung ein schönes Stück Geld in der Tasche mitnehmen.«
Herr Joineau und Maguelonne tauschten wieder einen Blick aus, und diesmal entging er dem Marquis nicht. Er stockte, als er sah, daß ihre Augen voller Tränen standen, und rief:
»Was habt ihr denn?«
Sehr schonend und mehrmals von neuem beginnend, unterrichtete der Abbé ihn nach einer Pause über die Umwälzungen, die im Lande Platz gegriffen hatten, und Maguelonne vervollständigte seine Erzählung durch ein gelegentlich eingeschobenes Wort. Von den ersten Monaten des Jahres 1789 an hatte auf dem platten Lande eine außerordentliche Erregung geherrscht. Einige Redner aus Bordeaux und Périgueux waren gekommen, um die Bauern aufzuhetzen, und wenige Wochen hatten ausgereicht, um ihnen den Kopf zu verdrehen. Der Abbé und Maguelonne, die ehemals allgemeine Achtung genossen, stießen auf trotziges, feindliches Schweigen, wenn sie das Parktor verließen, und als der Abbé den Pachtzins eines wohlhabenden Pächters eintreiben wollte, hatte man ihn sogar mit Steinwürfen verfolgt.
Zwei Tage später hatte sich eine mit Stöcken, Heugabeln und Sensen bewaffnete Bande mit Gewalt durch den Park ergossen und gedroht, alles in Brand zu stecken, wenn man ihnen nicht sogleich die Türen des Schlosses öffnete. Kaum waren sie eingedrungen, als sie sich auf das Archiv stürzten und sich aller Familienpapiere, Urkunden, Schuldbücher und Pachtkontrakte bemächtigten und sie auf dem großen Rasenplatz triumphierend verbrannten. Beim Fortgehen ließen sie einen schrecklichen Trümmerhaufen zurück. Seit diesem Auftritt war keine Pacht mehr bezahlt worden. Die Holzungen wurden alle Tage frech geplündert. Die Dienstboten hatten gekündigt, da sie nicht mehr ihren Lohn bekamen. Sie gingen einer nach dem andern, und jeder nahm irgendeinen kostbaren Gegenstand mit, um sich schadlos zu halten, bis Maguelonne und Herr Joineau schließlich allein blieben. Sie hatten einige Kleidungsstücke verkauft und auf einem Beet Gemüse gezogen; davon lebten sie sehr bescheiden. Eine Bäuerin hatte ihnen von Zeit zu Zeit heimlich ein Huhn oder ein Stück Schweinefleisch gebracht.
Erst vor einigen Monaten war ein neuer Ueberfall auf das verfallene Haus geschehen. Gerichtspersonen, von einigen uniformierten Halunken begleitet, waren gekommen, um Herrn von Migurac vor den Magistrat zu laden. Als sie ihn nicht fanden, hatten sie die Alte und den Abbé einem peinlichen Verhör unterworfen und danach erklärt, daß der Marquis für ausgewandert erklärt und sein Vermögen mit Beschlag belegt sei. Sie hatten das Silber und einen großen Teil der Möbel mitgenommen. Seit dieser Zeit hörte die Beunruhigung nicht auf. Mehrmals hatte man dem Abbé gedroht, ihn ins Gefängnis zu werfen. Drei Schlösser in der Umgegend waren eingeäschert, Madame von Biniac, die frühere Aline von Perthuiseau, war kürzlich ermordet worden. Man sagte, daß die Gefängnisse von Bordeaux und Périgueux mit dem ersten Adel des Landes überfüllt wären.
Herr von Migurac war während dieser Rede mehrmals rot und blaß geworden. Auf seinem Gesicht wechselten Rührung und Zorn. Als er hörte, daß man zweimal mit Gewalt in sein Haus eingedrungen war, schleuderten seine Augen Blitze. Endlich brach er in Verwünschungen gegen solche Straßenräubereien und Frevel aus.
»Herr Marquis,« sagte der Abbé, »diese Leute führen stets die Worte ›Gleichheit und Brüderlichkeit‹ im Munde und prahlen damit, daß sie die Herrschaft der Gerechtigkeit einführen und die Vorrechte abschaffen wollen.«
Bei diesen Worten sah der Abbé seinen Herrn, der zwei Sekunden ruhig blieb, mit einem gewissen Ausdruck an. Aber dieser zuckte die Schultern und begann heftig:
»Ich werde den Anführern dieser Unglücklichen auf der Stelle die Augen öffnen, und ich werde sie schon zwingen, entweder einzugestehen, wie sehr sie die heiligen Worte, die sie sich anmaßen, mißbrauchen, oder gerade heraus zu bekennen, daß sie Wegelagerer sind!«
Herrn Joineaus und Maguelonnes Bitten gelang es, Herrn von Migurac zu überzeugen, daß er besser täte, sich zu gedulden, bis er wieder zu Kräften gekommen wäre, damit man, wenn sie etwa versagten, ihn nicht der Schwachheit zeihen könnte.
In der Folge hörte er sie ruhiger an, weil ihn die Mattigkeit überwältigte. Während der ersten Woche nach seiner Rückkehr stand er davon ab, seinen Plan wieder zur Sprache zu bringen. Er schlug die Stunden mit Schlafen und dem Lesen von Zeitungen tot, die Herr Joineau alle aufgehoben hatte. Außerdem irrte er mit kraftlosen Schritten im Park umher, suchte abwechselnd die trauten Stätten seiner Kindheit auf, trauerte über die Verwüstungen, die er bemerkte, und saß stundenlang vor dem Grab seines Vaters und dem von Madame Isabella. Man hätte glauben können, daß Stimmen aus dem Verborgenen ihn befragten und in seinem Herzen Antwort fanden, denn er schüttelte den Kopf, sprach mit sich selbst und schien in emsige Betrachtungen vertieft.
Aber etwa zehn Tage nach seiner Rückkehr, als man gerade vom Tisch aufstand, dröhnten mehrere Schläge gegen das Eingangsportal, und vor der bestürzten Maguelonne standen zwei große Kerle in einer Art Uniform, die sich Munizipalgardisten betitelten. Mit vielen Flüchen übergaben sie ihr einen schriftlichen Befehl, durch den Herr von Migurac nach der Mairie geladen wurde, um dort die Gründe seiner Abwesenheit zu Protokoll zu geben. Sie begleiteten ihre Botschaft mit Spottreden und unflätigen Bemerkungen, bis der Edelmann selbst dazukam und ihnen die Tür wies, und zwar in so gebieterischem Tone, daß sie trotz ihrer Unverschämtheit eiligst abzogen.
Obwohl Herr von Migurac in der ersten Entrüstung Maire und Mairie zum Teufel gewünscht hatte, überlegte er doch, daß dies eine gute Gelegenheit sein würde, um über die Ansichten der Dorfbewohner ins klare zu kommen. Aber ehe er sich zum Magistrat begab, machte er ungewöhnliche Toilette. Er legte alte Hofkleider an, die er das Glück hatte, in der Tiefe eines Koffers auszugraben, und an denen Gold auf Brokat blitzte, setzte die gepuderte Perücke auf, die er für gewöhnlich nicht mehr trug, und gürtete einen Hofdegen mit Perlmuttergriff um. So angetan, erschien er vor Maguelonne in solchem Glanz, daß sie die Hände vor Erstaunen faltete:
»Gnädiger Herr,« sagte sie, »der Glanz Ihrer Vorfahren leuchtet aus Ihnen.«
»Ich hoffe,« sagte der Marquis.
Indessen warf der Abbé schüchtern ein, daß dieser Prunk nicht verfehlen würde, den Fanatismus der Jakobiner zu schüren. Doch Herr von Migurac schloß ihm mit herrischem Tone den Mund.
»Zur Zeit, als diese Bauerntölpel sich nur zu glücklich geschätzt hätten, vor meiner Kutsche herzulaufen, habe ich sie öffentlich meine Brüder genannt und mich aller Ansichten und Vorrechte meines Standes entäußert. Heute gedenke ich keine Schonung zu üben angesichts ebenso verächtlicher wie abscheulicher Leidenschaften.«
Er ging sicheren Schrittes und wollte nicht, daß ihm jemand folgte.
Wo er vorüberging, waren die Fenster mit neugierigen Gesichtern besetzt, und die Kinder, die sein seidener, goldbetreßter Rock anlockte, rannten schreiend hinter ihm her. Aber sein Aussehen war so majestätisch, daß niemand ihn beleidigte. Den Hut auf dem Kopf trat er in den niedrigen Saal des alten Kastens, der Mairie genannt wurde, und erblickte drei Männer im Kittel, in denen er den Maire und dessen zwei Beisitzer erkannte. Sein Anblick ergriff sie derart, daß sie mechanisch die Mütze abnahmen und die Pfeife aus dem Munde zogen. In einer Ecke erspähte er auch die beiden Munizipalgardisten, die sich zu verbergen suchten.
»Meine Herren,« sagte er, indem er einen lebhaften Blick umherschweifen ließ, »Sie sehen vor sich Louis Lycurgue Marquis von Migurac. Nachdem er sein Leben der Philosophie geweiht, nachdem er die Grundsätze der Vernunft durch seine Feder und sein Leben verbreitet und bei den Antipoden eine Gegend gesucht hat, wo die Tugend herrschte, ist er unter das Dach seines Vaterhauses zurückgekehrt und dort als verdächtig behandelt worden, und die alten Diener seines Hauses hat er zitternd und elend gefunden und von denselben unterdrückt, die sich zu Vorkämpfern der sozialen Umgestaltung erklären.«
Die drei Männer hatten abwechselnd versucht, ihn zu unterbrechen, aber Herr von Migurac schloß ihnen mit ungestümem Redefluß den Mund. Je länger er sprach, desto mehr begeisterte er sich und setzte seinen Vortrag mit wachsender Beredsamkeit fort. Die Worte Freiheit, Menschlichkeit, Gleichheit verwoben sich auf seinen Lippen mit Mäßigung, Gerechtigkeit und Tugend, und zwar so vortrefflich, daß nach Verlauf von dreißig Minuten, als er, um Atem zu schöpfen, innehielt, die Rollen vertauscht zu sein schienen und er es war, der die Magistratsbeamten Mores lehrte. Zum Schluß wandte er sich an die Menge, die sich bei den Blitzen seiner Beredsamkeit nach und nach vor der Tür angestaut hatte, und hielt diese donnernde Ansprache:
»Brüder, laßt uns die Vergangenheit vergessen! Laßt uns nur daran denken, für die Zukunft zu sorgen. Die Sonne der Brüderlichkeit ist aufgegangen, laßt uns nicht dulden, daß die schwarze Wolke der Zwietracht sie verdunkle. Hütet euch vor neidischen und selbstsüchtigen Instinkten. Mögen Tugend und Vernunft eure einzigen Führer sein. Dann werdet ihr mich immer in eurer Mitte sehen, und wir können zusammen rufen: Es lebe die Nation! Es lebe die Freiheit!«
Ein begeistertes Raunen ging durch die elektrisierte Menschenmenge; die Mützen flogen in die Luft, und ein einziger Ruf erfüllte die Lüfte:
»Es lebe die Nation! Es lebe die Freiheit! Es lebe der Marquis von Migurac!«
Eine Viertelstunde darauf lockten dieselben Ausrufe den Abbé Joineau und Maguelonne ans Fenster, die ihren Augen nicht trauen wollten, als sie ihren Herrn im Triumph zurückkommen sahen. Die Dorfburschen hatten ihn auf ihre Schultern gehoben und wurden nicht müde, ihm zuzujauchzen.
Dieses Ereignis war insofern nützlich, als es Herrn von Migurac aufheiterte und seine Gesundheit wiederherstellen half. Die Fieberanfälle traten weniger heftig und seltener auf, und der Husten war verschwunden. Aber sobald sein Körper sich gekräftigt hatte, richtete sich sein Geist mit neuem Eifer auf die öffentlichen Angelegenheiten. Von der Mairie wurden ihm alle Tage Zeitungen zur Einsicht zugeschickt, die ihm Beweise schrecklicher Zwietracht und Sturmzeichen unerhörter Katastrophen gaben. Der Haß der Parteien, die Zwistigkeiten in bezug auf die Emigranten und die Geistlichkeit, die Gefahr eines auswärtigen Krieges, die Reibungen zwischen dem König und der Nationalversammlung waren für ihn ebensoviele Anlässe zu schlaflosen Nächten.
Der 20. Juni, an dem das Volk die Tuilerien angriff, vergrößerte seine Erregung. Er richtete an die Adresse aller Minister einige mit eigner Hand geschriebene Blätter, die er »Betrachtungen eines Philosophen« nannte. Er wies auf die Mittel hin, die geeignet wären, den Frieden im Königreich wiederherzustellen, und gab ein Muster für einen Aufruf, der das Volk vor den Leidenschaften und den Schmeichlern, die es aufwiegelten, warnen sollte. Und er legte alles, was er an Erfahrung und Genie besaß, am Altar des Vaterlandes nieder, sei es, um auf den Geist des Volkes einzuwirken, sei es, um die bedrohten Grenzen zu verteidigen.
Die Revolution vom 10. August und die darauf folgenden Ereignisse brachten seine Ueberreizung auf den Höhepunkt. Er tadelte das Attentat auf das Königtum und die Gefangennahme der königlichen Familie; aber die Niedermetzelung der Schweizer und kurz darauf die Septembermorde erschütterten ihn bis ins Mark. Seine Entrüstung kannte keine Grenzen, als ihm in einer Zeitung ein Artikel in die Augen fiel, der von Herrn Mottet unterzeichnet war und diese großen Taten guthieß. War das die Frucht der Philosophie? Er verbrachte schlaflose Nächte, und in den seltenen Augenblicken, wo er die Augen schloß, bedrückten ihn quälende Träume. Er sah sich selbst, wie er mit der Feder, die so viele Meisterwerke geschrieben hatte, die Königin Marie Antoinette erdolchte, der er damals die Hand geküßt hatte.
Die Folge seiner Unruhe war, daß er eines schönen Morgens dem Abbé und Maguelonne ankündigte, er würde nach Paris reisen.
»Bei solchen Vorkommnissen,« sagte er, »hat jeder Bürger die Pflicht, dem Vaterland zu Hilfe zu eilen. Die des Philosophen ist es außerdem, seine Kraft und alles, was ihm an Ansehen geblieben ist, daranzusetzen, um die Nebel des Irrtums zu zerstreuen und die Fackel der Gerechtigkeit wieder zu entzünden.«
Mit sich selbst war er über seinen Plan schon im reinen. Kaum in Paris angekommen, würde er sich zu erkennen geben und mit Wort und Feder tätig sein, um den König und die Jakobiner, die Atheisten und die Katholiken, die bevorzugten Stände und den Plebs miteinander auszusöhnen. Die ganze Nation sollte gegen den eindringenden Feind Front machen, ihn über die Grenzen zurückwerfen und sich nach einem siegreichen Frieden friedlich dem Kultus der Tugend hingeben.
Umsonst versuchten Herr Joineau und Maguelonne, Herrn von Migurac von seinem Vorhaben abzubringen. Vielleicht taten sie es nicht mit der äußersten Dringlichkeit, weil sie fürchteten, daß er von dem Fieber, das in ihm raste, krank werden möchte, oder weil sie wußten, daß seine Popularität im Dorf bereits erschüttert war, und besorgten, daß er demnächst doch verhaftet würde. Maguelonne machte ihm aus seinen Kleidungsstücken ein Bündel und steckte ihm, so sehr er sich auch sträubte, vier Goldstücke in die Tasche, die noch im Hause waren.
Von dem Tage an, wo Herr von Migurac seine Abreise bestimmt hatte, legte sich die Erregung in ihm. Er schüttelte seine Schwermut ab und schien sogar etwas von der munteren Laune seiner Jugend wiederzuerlangen. Als es Zeit war, in den Wagen zu steigen, umarmte er Maguelonne und den Abbé, die sich beide fast die Augen ausweinten, sehr zärtlich und sagte zu letzterem:
»Abbé, wenn ich in diesem Kampfe unterliegen sollte, so beklagen Sie mich nicht, denn dadurch wird mein Leben würdig gekrönt. Und wenn Sie Ihrem Gotte dafür Dank sagen, daß kein Herz die Tugend so geliebt hat wie dieses, so bitten Sie ihn, daß er sich der Unvollkommenheit meiner Taten erbarme.«