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Ein betrogener Ehemann ist nichts so Rares, daß er die Menge an sich fesseln könnte. Als man sein Gesicht und den Anstand, mit dem Herr von Migurac sein Unglück trug, gesehen hatte, waren die schönen Damen und die Federfuchser, die irgendeine Torheit von ihm erhofften, enttäuscht. Ohne Zweifel hätte man den Weg nach der Einsiedelei von Auteuil nicht mehr gefunden, wenn nicht der »Mercure de France« in seiner Mainummer von 1787 eine Anmerkung in geheimnisvollen Wendungen veröffentlicht hätte, die die allgemeine Aufmerksamkeit erregte. Unter der Rubrik »Nachrichten vom Hof und aus der Stadt« las man nämlich:
»Wie die Alten sagten, ist das Unglück der beste Lehrmeister der Weisheit. Die Falschheiten Kupidos haben schon mehr als ein getäuschtes Herz den strengen Lehren Minervas zugänglich gemacht. Es ist uns zu Ohren gekommen – und dies ist kein leeres Gerücht –, daß der Marquis von X., der wegen der Vornehmheit und Originalität seines Charakters ebenso berühmt ist wie durch die Erzeugnisse seiner Feder, infolge eines ehelichen Mißgeschicks einen Entschluß gefaßt hat, durch den, wenn alle unsre betrogenen Ehemänner ihn nachahmten, die Wüsten Afrikas und die beiden amerikanischen Weltteile rasch bevölkert würden. Der Männer und mehr noch der Frauen überdrüssig, hat er, wie man sagt, den Plan gefaßt, den Frieden und die Tugend unter andern Himmelsstrichen zu suchen, in unerforschten Gegenden, wo die Natur dem Menschen näher steht und nicht aufhört, ihren heilsamen Einfluß auf sein Herz auszuüben …«
Zufällig war die Nachricht in jedem Punkte zutreffend. Wie wir schon sagten, lastete jene Traurigkeit, von der er schon wiederholte Anwandlungen gehabt hatte, seit seinem Mißgeschick schwerer denn je auf ihm. Er fühlte sich gealtert, gebrochen und mutlos, als wenn sich die ganze Schlechtigkeit der menschlichen Seele und alles Ungemach des Alters auf einmal vereinigt hätten, um ihn zu Boden zu schmettern. Vielleicht hätte er sich in dieser düsteren Stimmung zu einem verzweifelten Entschluß hinreißen lassen und, die Wünsche der Natur mißachtend, die selbst den Verlauf unsers Schicksals bestimmt, mit eigner Hand seinem Dasein ein Ende gemacht; die Versuchung dazu hatte ihn schon mehrfach angewandelt. Aber beim Lesen eines Buches von Herrn Rouillé d'Orfeuil, betitelt: »Die Analyse der Gesetze«, war ihm ein unerwarteter Gedanke gekommen, der seine schmerzerfüllte Seele erwärmte und erleuchtete.
Er hatte alle seine Tage dem Wohle der Menschheit gewidmet und ließ die unvergänglichen Beweise seiner Tätigkeit zurück. Hatte er jetzt nahe an der Schwelle des Alters nicht das Recht, an seine Ruhe zu denken und sich, um sie zu genießen, in eine jener wunderbaren Gegenden zu flüchten, deren empfängliche Bewohner die klaren Lehren der Natur ungetrübt empfangen? Ja, die Gesellschaft ist verdorben, aber es gibt auf Erden noch Orte – Herr Rouillé d'Orfeuil bewies es in überraschender Weise –, die noch nicht vom Gifte der Zivilisation zersetzt sind. Die Menschen leben dort nach ihren ursprünglichen Instinkten; sie sind glücklich, weil sie keine verfeinerten Bedürfnisse haben, und tugendhaft, weil nichts ihnen einen Begriff vom Laster gegeben hat. Ja, diese von den Seeleuten Wilde genannten Menschen sind die wahrhaft Zivilisierten, während die Europäer die wahren Wilden sind. Wenn Herr von Migurac sich ihre wohltuende Nähe, die Reinheit ihrer Sitten, die prächtigen Naturschauspiele, die Majestät der Urwälder, der Dschungeln, der Pampas oder Savannen vorstellte, so fühlte er sein Herz sich erweitern, und ein leises Lüftchen kühlte die blutenden Wunden seiner Seele. Dort war die Wahrheit, dort war das Heil.
Herr von Migurac war der Meinung, daß jeder Aufschub zwischen Entschluß und Tat verlorene Zeit ist. Nachdem er am Nachmittag das Buch des Herrn Rouillé d'Orfeuil beendet und ein paar Stunden über die daraus zu ziehenden Schlußfolgerungen nachgedacht hatte, kündigte er Herrn Joineau beim Abendessen seinen Entschluß an, den Rest seiner Tage unter den Wilden zu verbringen, da es ihm verhaßt wäre, sein Leben unter entarteten Völkern hinzuschleppen.
Der Abbé war zuerst sprachlos und dann erschrocken; er versuchte auf tausenderlei Art, ihm seinen Plan auszureden. Besonders bewies er ihm, wie unbegründet seine Hoffnung wäre und wieviel Böses ihm unfehlbar von seiten der Eingeborenen bevorstände. Er möchte sich doch nur der Martern, denen sie die Missionare aussetzen, und der schrecklichen Erzählungen der Seeleute erinnern. Aber Herr von Migurac lächelte mitleidig und antwortete:
»Abbé, wem soll ich mehr Glauben schenken? Ihrer Vernunft, die ein Ausfluß der allgemeinen Vernunft ist, oder Erzählungen, die vielleicht durch Irrtum oder Lüge entstellt sind? Sagt Ihnen denn Ihre Vernunft nicht, was durch das göttliche Wort bestätigt wird: daß der Mensch gut und verträglich geschaffen ist? Glauben Sie mir, die Missionare und Seeleute haben nur deshalb die schlechte Behandlung der Wilden erfahren, weil sie ihnen nach der Freiheit trachteten. Nun, ich werde ihnen keine Doktrin und keine Kleider aufdrängen, sondern im Gegenteil in aller Demut bei ihren Tugenden in die Schule gehen.«
So schrieb also Herr von Migurac denselben Abend an mehrere befreundete Schiffskapitäne und bat sie, ihm mitzuteilen, wann ein Schiff zu den Antipoden unter Segel ginge. Denn mit glänzender Urteilskraft zog er den Schluß, daß die Sitten der Eingeborenen auf der andern Seite der Erde aller Wahrscheinlichkeit nach den unsern am meisten entgegengesetzt sein müßten. Und bald nachher veröffentlichte er, um sein Herz zu erleichtern, das Erzeugnis seiner Feder, das er für das letzte hielt, nämlich den »Abschied eines Philosophen von dem verderbten Europa«. Er schilderte darin in aller Schlichtheit sein Unglück, den Ueberdruß, der sich seiner bemächtigt hatte, und den Einfall, jenseits der Meere dem Glück und Frieden nachzugehen, die ihm in der Alten Welt fortan versagt wären.
Der Erfolg dieser kleinen Schrift war ungeheuer, und so frei Herr von Migurac auch von allen Eitelkeiten der Zivilisation war, so kann man doch annehmen, daß er bei einem solchen Triumph nicht gleichgültig bleiben konnte. Weder die Aufführung von »Figaros Hochzeit« von Herrn Caron de Beaumarchais, noch die Halsbandgeschichte der Königin und des Herrn von Rohan erregten mehr Aufsehen. Die Abreise des philosophischen Marquis lenkte für einen Augenblick die allgemeine Aufmerksamkeit von der bevorstehenden Versammlung der Notabeln sowie von den finanziellen Schwierigkeiten des Königreichs ab. Ganze Reihen von Kutschen setzten einen Schwarm von Besuchern und Besucherinnen vor seiner Tür ab. Er hätte mehrere Sekretäre haben müssen, um alle empfangenen Briefe zu beantworten, und eine Menge Mägen, um alle Abendessen zu verdauen, zu denen er eingeladen wurde. Der Abbé Joineau hat sich ein Vergnügen daraus gemacht, die zusammenzurechnen, die seines Wissens um die Ehre baten, ihn auf seiner Expedition begleiten zu dürfen. Er zählte nicht weniger als zwei Herzoginnen, und zwar solche, die das Recht hatten, in Gegenwart der Majestäten zu sitzen, sieben Edelleute des besten Adels, achtzehn Damen von Stande und Bürgermädchen, sechs berühmte Schriftsteller, neunundzwanzig liederliche Mädchen und vierundvierzig andre Personen von verschiedenen Berufsarten, darunter den Henker der Stadt Soissons. Herr von Migurac nahm solche Bitten höflich auf, setzte aber allen die gleiche unerschütterliche Weigerung entgegen: er hätte beschlossen, jede Verbindung mit der zivilisierten Welt abzubrechen, und keine noch so anziehende Gesellschaft wäre imstande, ihn seinem Schwur untreu zu machen.
Aber der glänzendste Beweis für die Begeisterung, die sein erhabener Plan erregte, war der Besuch des Herrn von Courtanveault, des Oberhofmeisters der Königin, der bei ihm erschien, um ihm mitzuteilen, daß Marie Antoinette selbst mit dem ausgezeichneten Manne zu reden wünschte, der den Traum so vieler Weisen verwirklichte. Obwohl Herr von Migurac den Verkehr bei Hofe jederzeit verschmäht hatte, glaubte er doch, sich dem Wunsche einer so hervorragenden Person, noch dazu einer Dame, nicht entziehen zu können, und nachdem man sich über den Tag geeinigt hatte, begab er sich nach Versailles.
Er wurde nach dem Dorfe Klein-Trianon geführt, wo ihn die Königin im Beisein von Madame Campan und zwei andern Hofdamen in einem ländlichen Lusthain empfing. Sie hatte ein einfaches Perkalkleid an, ein Busentuch von Batist um und einen Strohhut auf. Zwei weiße Lämmchen sprangen um sie herum und erinnerten Herrn von Migurac an die, die mit Marie Agnes spielten. Und diese Erinnerung erfüllte sein Herz ohne Zweifel mehr mit Rührung, als es die königliche Majestät tat.
Die Königin fragte ihn eingehend nach den Beweggründen, die ihn bestimmt hatten, einen solchen Plan zu fassen, und zeigte bei der Erzählung seiner traurigen Schicksale das rührendste Mitgefühl. Als er sich nach halbstündiger Unterhaltung erhob, um Abschied zu nehmen, sagte sie in einem Tone, der merken ließ, welchen Anteil sie an der Sache nahm:
»Mein Herr, nehmen Sie alle Wünsche mit, nicht die einer Königin, da Sie sich zum Haß des Königtums bekennen, sondern die einer Frau mit gebrochenem Herzen, die Sie im Schoße des äußeren Glückes mehr als einmal um den unschuldigen und friedlichen Zauber Ihrer Einsamkeit beneiden wird.«
Und sie hielt Herrn von Migurac die Hand hin, die er ergebungsvoll küßte. Beim Fortgehen drückte er sein Erstaunen aus, den König nicht zu sehen, da er doch nach den Worten der Königin an seinem Unternehmen lebhaften Anteil genommen hatte. Es wurde ihm geantwortet, daß Seine Majestät durch das Pamphlet, in dem er seinen Großvater gebrandmarkt hatte, verstimmt sei, was er ziemlich merkwürdig fand, und daß Höchstdieselben auch sehr mit einer großen Schlosserarbeit beschäftigt wären, eine Entschuldigung, die ihm bei weitem den Vorzug zu verdienen schien.
Unter den Leuten, an die Herr von Migurac sich gewandt hatte, war ein Herr Jean Horace von Vielcouvert, Kapitän der Fregatte »La Reluisante«. Dieser ließ ihn wissen, daß es sich für ihn sehr glücklich träfe, da er in zwei Wochen von Cherbourg aus in See stechen würde, um im Stillen Ozean eine Forschung von wissenschaftlichem und kommerziellem Charakter vorzunehmen. Wenn er sich mit ihm einschiffen wollte, würde er ihn gern an irgendeiner Küste absetzen, die für seine Wünsche wild genug wäre.
Herr von Migurac antwortete ihm sofort, daß er ihm entgegenreisen würde. Er sagte einigen Freunden Lebewohl, beauftragte den Abbé, seine Schulden zu bezahlen, und bewog ihn, wieder nach Schloß Migurac, dem einzigen Ueberbleibsel seines Vermögens, zurückzukehren, um fortan dort zu leben. Und nachdem er ihn sehr zärtlich und nicht ohne Tränen umarmt hatte, vertröstete er ihn auf ein Wiedersehen in der andern Welt, wenn es eine gäbe, und ging nach der Post in Neuilly. Obgleich es noch früh war, drängte sich eine große Menge Menschen um das Posthaus und machte bei seiner Ankunft respektvoll Platz. Als er in den Postwagen gestiegen war, spielte eine Musikkapelle, die man vorher gar nicht bemerkt hatte, einen Marsch von Grétry; ein junges, weißgekleidetes Mädchen trat auf ihn zu und überreichte ihm einen Blumenstrauß. Er umarmte es väterlich und befahl abzufahren. Als der Wagen sich in Bewegung setzte, blickte er aus dem Fenster und schwenkte sein Taschentuch. Wo er durchfuhr, weinten die Frauen, warfen ihm Blumen zu und hielten ihm ihre Kinder hin, damit er sie segnete.
Herrn von Miguracs Reise an Bord der »Reluisante« dauerte fünf Monate. Er benutzte die Zeit, um die Offiziere zur Philosophie zu bekehren und sich mit den Sitten der Wilden gründlicher vertraut zu machen. Die ganze Schiffsmannschaft wunderte sich höchlichst, daß er schon so gut Bescheid wußte, ohne je dort gewesen zu sein. Der Schiffsgeistliche, der in Madagaskar gelebt hatte und zwei Bootsmannsmate, die bei den Eingeborenen von Borneo in Sklaverei gewesen waren, versuchten vergebens, es mit ihm aufzunehmen. Am Ende der Fahrt hatten sie bei ihren Reisegefährten allen Glauben eingebüßt, und gut die Hälfte der Mannschaft wäre Herrn von Migurac blindlings gefolgt, wenn er sie hätte mitnehmen wollen.
Man bewunderte namentlich, mit welchem Scharfsinn er sich vorbereitet hatte, die Sprache der Naturmenschen zu verstehen, was allein ihm einige Schwierigkeit hätte verursachen können. Er suchte herauszufinden, welche Wesen aller Wahrscheinlichkeit nach der Natur am nächsten stünden, und studierte besonders das Gebaren und das Geschrei von fünf oder sechs gefangenen Affen, die zur Unterhaltung der Schiffsmannschaft dienten, und von zwei kleinen Kindern, von denen das eine acht Monate alt war und das andre in den ersten Wochen der Reise geboren wurde. Durch vielen Fleiß setzte er es durch, in vollendeter Weise zu grunzen, zu kreischen und wie ein kleines Kind zu schreien, so daß niemand in Zweifel zog, daß er beim Landen einem ganzen Stamm Eingeborener eine feierliche Ansprache halten könnte.
Indessen näherte man sich dem Reiseziel, und der Kapitän fragte Herrn von Migurac, in welcher Gegend er zu landen wünschte. Er ließ sich eine Seekarte bringen, bat, ihm die von den Seeleuten am wenigsten besuchten Küstenstrecken zu bezeichnen, und legte seinen Finger auf einen Punkt der Westküste von Neuguinea. Seine Wünsche wurden genau ausgeführt, und einige Tage später befand sich die Fregatte in Sicht dieses Gestades.
Herr von Migurac umarmte die Offiziere und dankte ihnen für ihre Zuvorkommenheit. Dann stieg er in ein von sechzehn Leuten bemanntes Boot, das nach einer Fahrt von wenigen Minuten in einer sandigen, kleinen Bucht mitten in einer düsteren, fremdartigen Landschaft anlegte. Herr von Migurac sprang mit einem Satze an Land, erlaubte nur ungern, daß man ihm ein Fäßchen mit Wasser und einige Lebensmittel ließ, und nahm mit wunderbarer Heiterkeit die Abschiedsgrüße der Matrosen entgegen, die kaum ihre Tränen zurückhalten konnten.
Unbeweglich stand er auf dem Sande und sah ihnen zu, wie sie sich wieder einschifften, die Ruder ergriffen und sich in taktmäßigem Schlage entfernten. Dann nahm er ernst seinen Dreispitz von seinem gepuderten Kopfe und sandte ihnen einen letzten Gruß zu, setzte ihn wieder auf und wandte ihnen und der Zivilisation den Rücken. Dann schritt er mit entschlossener Miene gegen den Wald vor, der einige hundert Klafter von der Küste begann und aus dem die unbekannten Stimmen von Vögeln und Vierfüßlern drangen.