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Wie ein Schriftsteller sehr richtig bemerkt hat, tritt der Charakter eines Menschen hauptsächlich in der Art seiner Vergnügungen zutage. Dies läßt sich mit noch größerem Recht von Kindern behaupten, und wir wissen es dem Abbé Joineau Dank, daß er über die Spiele seines Zöglings und die Art, wie er sie auffaßte, Buch geführt hat.
Der Abbé Joineau hätte es für angenehm und der Vernunft entsprechend gehalten, wenn Louis Lycurgue den Ueberschuß seiner werdenden Kraft in den Uebungen verausgabt hätte, in denen er von Pierre Antoine und Gilles unterwiesen ward, und daß er sich im übrigen daran gewöhnt hätte, an friedlichen Zerstreuungen Gefallen zu finden, wie sie unter Leuten von guter Gesellschaft Brauch sind, als da sind: Tricktrack, Lotto, Damenspiel oder Schach, schließlich auch Stickerei und Zupfarbeit. Doch mußte er mit Bedauern bemerken, daß diese unschuldigen Künste, die ihm selbst so sehr zusagten, den ausgesprochenen Neigungen seines Schülers widerstrebten. Nicht daß der junge Vicomte schwer von Begriffen gewesen wäre, weit gefehlt! Sein Geist faßte im Gegenteil ungewöhnlich rasch auf, und er brauchte nur wenige Augenblicke, um sich die Feinheiten eines Spiels, selbst eines so verwickelten Spiels wie des Schachs, anzueignen. Aber was ihm fehlte, war Ausdauer. Sobald der Reiz der Neuheit vorüber war, dünkte ihn diese ganze Wirtschaft mit Würfeln, Rechenpfennigen und Karten eine langweilige Kinderei. Nachdem er dem Abbé mehrmals Würfel, Spielmarken und Würfelbecher ins Gesicht geworfen hatte, mußte dieser darauf verzichten, ihn zum Partner zu behalten. Er tröstete sich, indem er gemeinschaftliche Sache mit Jungfer Seraphine machte, die den Klerus liebte und deren Formen dem Auge wohlgefällig waren. Seine Zufriedenheit wuchs bei dem Gedanken, daß sein Zögling sich wenigstens nicht den Gefahren des Spiels hingeben würde, worin er leider ein schlechter Prophet war.
Kurzum, der stürmische Sinn Louis Lycurgues zog die Gesellschaft gleichaltriger Kinder den Fetzen von Papier, Pappe und Holz vor. Zum Unglück war der Adel in jener Gegend von Périgord wenig vertreten, und das Schloß Perthuiseau, das nächste von Migurac, war gute vier Meilen entfernt. Louis Lycurgue wäre noch häufiger dort gewesen, wenn die Baronin ihn dazu ermutigt hätte. Aber die ängstliche, zaghafte Dame fürchtete seine Anwesenheit, und ihre Empfindung wird vielleicht in der Folge gerechtfertigt erscheinen.
Wir wollen aber sogleich feststellen, daß dieses Mißtrauen nicht dem Charakter des jungen Edelmannes galt: von der Reinheit seiner Seele legen einige von dem Abbé berichtete Züge Zeugnis ab. – Eines Tages in seinem zehnten Lebensjahr, als er aus der Kutsche stieg, meldete ihm Fräulein Gertrud, die Gouvernante von Fräulein Aline von Perthuiseau, daß diese von einem bedenklichen Halsleiden befallen sei. Da das Uebel ansteckend war, konnte er trotz seiner Tränen nicht zu ihr gelassen werden. Er wandte sich also mit tiefbetrübter Seele wieder nach dem Wagen, als es ihm plötzlich in den Sinn kam, wie feige es sei, die Spielgefährtin ihren Schmerzen zu überlassen. Vielleicht war er sogar die Ursache ihres Unglücks, denn acht Tage zuvor hatte er sie verleitet, mit ihm regungslos in einem Wassergraben zu stehen, um Frösche zu fangen. Dieser Gedanke gab ihm einen plötzlichen Entschluß ein, und als Dame Gertrud wieder in das Zimmer trat, das sie vor wenigen Augenblicken verlassen hatte, war sie bestürzt, den kleinen Vicomte dort zu finden. Er war hereingekommen, man wußte nicht wie, und benetzte die feuchte Hand seiner Freundin mit Tränen. Er beschwor sie, ihre Krankheit ihm zu geben, wenn nicht ganz, so doch halb, so daß sie entsprechende Linderung hätte und ihm die Seele minder wund sei, wenn auch sein Körper litte.
Zur selben Zeit trug es sich zu, daß die Kinder während eines Spaziergangs im Park durch eine Kuh erschreckt wurden, die sich losgerissen hatte und mit gesenkten Hörnern auf sie zukam. Schon flohen sie, so rasch die Beine sie tragen wollten, voran Louis Lycurgue als der Schnellste. Als er aber zurückblickte, sah er die Hörner auf Fräulein Aline gerichtet, die der Schrecken gelähmt hatte und die noch so klein war. Er machte kehrt, stieß ein lautes Geschrei aus, um das Tier aufzuhalten, und warf sich ihm entgegen, während die andern irgendwo Zuflucht suchten. Die Knechte aus dem Stall kamen auf die Kunde herbeigelaufen und glaubten, ihn zerstückelt zu finden; aber er saß friedlich unter dem Bauch der Kuh, die er in seinen Hut melkte, während sie ihm das Gesicht leckte.
Wir folgen den Aufzeichnungen und finden das folgende Erlebnis, das er mit einem Küchenjungen von Perthuiseau hatte. Er fand den Sudelkoch mit geröteten Augen, wie er sich im voraus den Hintern rieb, denn der Küchenmeister hatte ihn dabei überrascht, wie er in die Sauce spuckte, und ihm eine gehörige Tracht Prügel versprochen. Von seinem Gejammer gerührt, befahl ihm Louis Lycurgue, seine Kleider abzulegen und sich hinter einem Holzstoß zu verbergen. Nachdem er selbst sie angezogen und sein Gesicht verhüllt hatte, hielt er dem Koch sein Hinterteil hin, der es mit Stockschlägen und Fußtritten übel zurichtete. Aber der Kerl hatte den schlechten Einfall, eine Ohrfeige als Abschluß hinzuzufügen. Darauf drehte sich der junge Vicomte wie ein Rasender um, denn er hatte nur sein Gesäß und nicht seine Wangen zum Opfer gebracht und sprang ihm mit solcher Wucht an den Hals, daß der arme Kerl zu Boden rollte und starr vor Entsetzen liegen blieb, als er ihn erkannte. Louis Lycurgue hob ihn auf und reichte ihm sehr großmütig die Hand zum Kusse hin. Darauf begab er sich auf die Suche nach dem Küchenjungen, um ihm seine Lumpen wiederzugeben, und betraf ihn dabei, wie er gerade ein Meisennest ausgehoben hatte und sich damit ergötzte, die Vögelchen zu rupfen. Diese Grausamkeit empörte den jungen Vicomte. Er fiel mit Faustschlägen über den Bauernlümmel her, und zwar so herzhaft, daß der andre nicht viel Vorteil davon hatte, vom Koch, der ihn übrigens auch noch zu finden wußte, verschont zu sein. Louis Lycurgue hob das Nest auf, in dem die Tierchen jämmerlich piepsten, und überlegte, daß sie in diesem Zustand notgedrungen verhungern oder an ihren Wunden sterben müßten. Deshalb nahm er einen großen Stein und machte sie vollends tot, indem er die Augen voller Grauen schloß. Herr von Perthuiseau, der gerade dazukam, gab ihm einen strengen Verweis, und da er nicht den Angeber spielen wollte, um sich zu rechtfertigen, behielt er den Ruf der Roheit. – Der Abbé Joineau stellt eine Betrachtung über die Folgen der Großmut seines Schülers an, und melancholisch zieht er den Schluß, daß dieses Abenteuer das Symbol seines Lebens vorstellen könne, wo auch häufig der Wunsch nach Besserem das Schlimmere erzeugte.
Wie dem auch sei, solche Handlungen hätten doch die Besorgnis von Madame von Perthuiseau keineswegs gerechtfertigt. Um sie zu erklären, müssen wir bekennen, daß der ungestüme Sinn Louis Lycurgues ihn manchmal zu Abenteuern hinriß, bei denen nicht er allein leiden mußte. Eines Nachmittags schritten die Edeldamen des Schlosses durch eine schattige Allee zum Teich, um die Schwäne mit Kuchen zu füttern, als sie zu ihrem Erstaunen hinter den Büschen ein jämmerliches Gestöhn vernahmen. Und siehe da! Durch das Blattwerk entdeckten sie Louis Lycurgue, Charles von Perthuiseau und Xavier von Boisredon, die sich um die Wette, jeder auf eigne Rechnung, ein Federmesser ins Fleisch stießen. Mit glänzenden Augen erklärte Fräulein Aline sich bereit, dem die Rose zu reichen, die sie in ihrer Hand trug, der den Einfall zu diesem Lanzenstechen gehabt hätte und als Sieger daraus hervorginge. Denn während Charles von Perthuiseau bei dem ersten Ritz zögerte und Xaviers Augen sich mit Tränen füllten, hatte Louis Lycurgue mit zusammengebissenen Zähnen die Klinge schon einen guten Daumenbreit in seinen mageren Arm gestoßen. Als der Abbé Joineau ihn deswegen hart anließ, erwiderte er ganz einfach, daß es ihm schlecht anstünde, einen jungen Edelmann wegen einer elenden Schramme zu tadeln, während er ihm die Tat eines jungen Spartaners, der sich von einem Fuchs den Leib hatte zerfressen lassen, als bewunderungswürdiges Vorbild dargestellt habe.
Ebenso gereichte ihm seine Raschheit zum Schaden. An einem Tage, an dem der Bischof von Périgueux gekommen war, um in der Dorfkirche eine sehr schöne Predigt über die Barmherzigkeit zu halten, fand sich eine erlesene Gesellschaft auf der Terrasse des Schlosses zum Imbiß zusammen. Da sah man unter den Baumreihen eine Bande von Taugenichtsen im Hemde mit nackten Armen und Beinen auftauchen, in denen man mit Verblüffung die Nachkommenschaft des ersten Adels der Provinz erkannte. Als sie heulten und die Ausrufe der Entrüstung, mit denen sie empfangen wurden, stillschweigend hinnahmen, trat Louis Lycurgue vor und erklärte mit fester Stimme, indem er Seiner Hochwürden gerade ins Gesicht sah, daß sie einer Zigeunerbande begegnet wären, deren zerlumpte Kinder bei dem Nordwind vor Kälte gezittert hätten. Er habe seine Freunde aufgefordert, ihnen ihre Kleider zu überlassen. Sie würden sich dadurch die Heiligkeit und die Freuden des Paradieses verdienen, da der Ritter Martin schon für einen halben Mantel die Heiligsprechung erlangt habe. Mit Genugtuung fügte er hinzu, daß die Scham nicht verletzt worden wäre, da sie ihre Hemden behalten hätten. Madame Olympia wollte in Vorwürfe ausbrechen, doch verzieh sie ihrem Sohne auf Fürbitte des Bischofs von Périgueux, der lächelnd sagte, daß seine Beredsamkeit die Hauptschuld daran trage. Aber im Verlauf der Mahlzeit fiel die Abwesenheit des jungen Edme von Castillac auf, und Louis Lycurgue offenbarte ohne Umschweife ihren Grund: Weil er seine Hose nicht hatte hergeben wollen, war er zur Strafe für seinen Geiz an einen Kastanienbaum gebunden worden, von wo man ihn tatsächlich, halbtot vor Kälte, losmachte.
Derartige Heldentaten trugen Louis Lycurgue das Mißtrauen mehrerer Schloßherrinnen ein. Vergrößert wurde es noch infolge eines Abenteuers, des letzten dieser Art, das wir erwähnen wollen, nämlich das Duell mit dem drei Jahre älteren Baron von Mardieu. Dieser hatte ihm im Scherz einen halben, verdorbenen Pfirsich rauben wollen, mit dem ihn Mademoiselle Aline von Perthuiseau beehrt hatte. Louis Lycurgue schalt ihn einen Unverschämten und Räuber und forderte ihn heraus. Nachdem beide ihre kleinen Degen gezogen hatten, fingen sie an, sich gehörig damit zu sticheln, als zum Glück zwei Lakaien dazu kamen, sie in die Arme nahmen und zu Händen ihrer erschrockenen Hofmeister überantworteten.
Von diesem Tage an wurde Louis Lycurgue gar nicht mehr in die Schlösser der Nachbarschaft eingeladen. Madame Olympia empfand etwas Aerger darüber, unterdrückte ihn aber in der Meinung, daß ein so edles Blut wie das Louis Lycurgues notgedrungen Handlungen begehen müßte, die spießbürgerliche Seelen in Erstaunen setzen könnten. Herr von Migurac fühlte eine tiefere Verstimmung wegen seines weniger gleichmäßigen Temperaments, doch da er nicht verkennen konnte, daß die Triebfeder seiner meisten Vergehen gut war, liebte er den Knaben um so mehr und hegte die Hoffnung, daß die Jahre ihn ruhiger machen und zu größerer Weisheit erziehen würden.
Der Gefährten seines Ranges beraubt, mußte Louis Lycurgue wohl oder übel andre finden und mit der Dorfjugend gemeinsame Sache machen. Madame Olympia hätte das Unpassende einer so kläglichen Gesellschaft gern dadurch wett gemacht, daß man zwei bis drei von den schmucksten aussuchte, sie säuberte und ihnen eine Livree anzog, damit sie als persönliche Gefährten des jungen Gebieters jederzeit zu seinem Befehl ständen, um sich respektvoll mit ihm zu belustigen, wenn er sich dazu herabzulassen geruhte. Aber Herr von Migurac setzte diesem Plan einen unbeugsamen Widerstand entgegen. Er erklärte, daß Louis Lycurgue sich entweder allein langweilen oder sich mit seinen Kameraden balgen und von ihnen prügeln lassen solle, auf ganz gleichem Fuße. Gesagt, getan, und Madame Olympia erlaubte sich ungeachtet ihrer eignen Wünsche nicht, dem ausdrücklichen Willen ihres Gatten entgegenzutreten. Es dauerte nicht lange, bis die Bauernlümmel die Ermahnungen ihrer Mütter, ehrerbietig zu sein, vergaßen; und auf die Püffe des jungen Vicomte antworteten ihre plebejischen Fäuste mit wunderbarem Schwung, so oft und so gut, daß Louis Lycurgue mehr als einmal mit blauen Augen und blutendem Gesicht heimkehrte. Als er das erste Mal von Claude Peyrade, dem Sohn des Stellmachers, derb geschüttelt worden, fiel es ihm ein, sich bei seinem Vater darüber zu beklagen. Darauf fragte ihn der Marquis, ob er nicht meine, daß man in Zukunft seinen Gefährten die Hände binden solle, damit er sie nach Belieben schlagen könne, wie es sich für einen Mann gebührt. Bei diesem Spott errötete Louis Lycurgue, schwieg still und ließ die Sache fallen. Aber als er kurz darauf Claude Peyrade begegnete, brach er einen Streit vom Zaun und streckte ihn mit einem Faustschlag zu Boden.
Uebrigens ist es auffallend, wie rasch Louis Lycurgue über die Kinder seines Alters trotz der Freiheit ihrer Spiele eine unbestreitbare Macht gewann. Möglich, daß ihr Gehorsam altvererbten Knechtsgefühlen entsprang; vielleicht auch beugten sie sich unwillkürlich einer Edelnatur, die zum Herrschen geboren war. Jedenfalls fiel Louis Lycurgue die Wahl und Leitung ihrer Unternehmungen ohne Widerspruch zu. In friedlichen Stunden brachte er in ihren Spielen die Lehren seines Vaters oder die des Abbés zu Anwendung. Er ließ sie im Gehölz Städte von dürren Zweigen errichten, Flüsse ableiten und Brücken bauen, und verwirrte sie durch begeisterte Reden, in denen es von abstrakten, hochtrabenden Worten rasselte. Er war ihr Führer bei den großen Jagden auf Tannzapfen, Pilze und wilde Maulbeeren. Besonders aber marschierte er an der Spitze bei kriegerischen Unternehmungen gegen die Burschen von Saint-Margut, einer Nachbargemeinde, die von Alters her mit den Bauern von Migurac in Fehde lag. Unter dem Einfluß der Gefahr und des Zorns entbrannte seine Seele bis zur Siedehitze; er verteilte und empfing Schläge wie Achill im Kampfe mit Hektor oder wie Roland zu Roncevalles; und tyrannisch verlangte er blinde Unterwerfung von seinen Gefährten. In diesen Augenblicken schienen die Sanftmut und natürliche Billigkeit, die ihm eigen waren, ganz vernichtet, und zum Erstaunen des Abbé wie zur großen Besorgnis des Marquis trieb ein unbezähmbarer, rasender Geist ihn an.
So hörte eines Abends der Marquis, als er auf seinem Klepper zum Schloß zurückkehrte, ein unmenschliches Geschrei. Beim Näherkommen sah er Louis Lycurgue mit gerunzelten Brauen stehen, zu seinen Füßen wälzte sich ein halbnackter, schluchzender Bauernjunge und leckte ihm den Staub von den Schuhen. Zwei andre hatten ihn soeben grausam gepeitscht, und der Rest der Horde stand schweigend im Kreise umher. Als sein Vater ihn zur Rede stellte, blickte Louis Lycurgue ihn fest an; in seinem Gesicht zeigte sich nichts von Scham, aber ein unbeugsamer Stolz, als er erklärte, daß Pierrille ihm den Gehorsam vor dem Feind verweigert und ihn verspottet habe, weil er Latein lerne; er habe ihn sowohl wegen dieser Unverschämtheit wie auch wegen seiner Untreue züchtigen lassen. Herr von Migurac befahl seinem Sohn, ihm zu folgen, und während er neben ihm ging, machte er ihm mit ernster Stimme klar, daß er die Grenzen des Spiels übertreten und durch die Stärke der Züchtigung die Menschenrechte seines Kameraden und die offenbaren Pflichten der Brüderlichkeit verletzt habe. Louis Lycurgue hörte ihm zu, ohne ein Wort zu sagen, und der Marquis beklagte im stillen seinen verstockten Sinn. Plötzlich sprang der Knabe davon. Herr von Migurac blickte auf und sah ihn dem kleinen Pierrille nachstürzen, der durch die nahe Wiese humpelte. Sobald der Bauernjunge seinen jungen Herrn von weitem erblickte, ergriff er die Flucht, während Louis Lycurgue ihm auf den Fersen folgte und ihn mit einer Stimme anrief, die der seines Vaters, wenn er wütend war, glich. Der Marquis fürchtete, daß sein Sohn sich aus Entrüstung über seine Vorhaltungen zu einer beklagenswerten Heftigkeit hinreißen lassen möchte, und gab seinem Pferde die Sporen; aber das Tier vermochte nicht über die Hecken zu setzen, und erst nach mehreren Umwegen erreichte er die Flüchtlinge. Da kniete Louis Lycurgue in einer Pfütze zu Pierrilles Füßen und umfaßte dessen unsaubere Knie, während der Knabe stumpfsinnig einen Stock betrachtete, den sein junger Gebieter ihm in die Hand gegeben hatte. Als Louis Lycurgue seinen Vater sah, rief er ihm voller Bekümmernis zu:
»Vater, Vater, ich glaubte, es würde mir gar nicht gelingen, den Unglücklichen einzuholen, um ihn um Verzeihung zu bitten. Aber bitte, veranlassen Sie ihn doch, mit mir nach Belieben zu verfahren, um das Unrecht, das ich ihm angetan habe, wieder gutzumachen. Denn seit ich ihn gebeten habe, mir ins Gesicht zu spucken und mir die Knochen entzwei zu schlagen, tut er nichts als weinen und um Gnade flehen, und seine Hosen stinken abscheulich.«
Der Marquis atmete auf, lächelte und forderte seinen Sohn auf, sich zu erheben. Als er in seinem Herzen über diesen Vorfall und viele ähnliche nachsann, erfüllte ihn Furcht, daß der Knabe selbst leiden und um sich her Leiden verbreiten würde, ebenso sehr durch seine besten wie durch seine schlimmsten Eigenschaften. Denn da er seine Vergehen mit derselben Gewalttätigkeit wieder gutzumachen suchte, mit der er sie begangen, so war das Gute, das er sich vornahm, häufig schlimmer als das Böse, das er dadurch wieder gutzumachen trachtete. So hatte er die kleine Pächterstochter Marichetta, die über ihr Schwarzbrot die Nase rümpfte, bis zu Tränen geärgert; am nächsten Tage empfand er Gewissensbisse und zwang sie, einen ganzen Topf eingemachter Früchte hinunterzuwürgen, wovon sie drei Tage einen kranken Magen hatte. Durch den Mißerfolg seiner guten Absicht niedergeschmettert, hatte er selbst zur Buße die doppelte Menge gegessen und fürchtete nun zu platzen. Um seine Dummheit wieder gutzumachen, fastete er mehrere Tage, denn er hatte gehört, daß die Menschen trotz ihrer natürlichen Gleichheit nicht nach Bedürfnis essen, und er hielt die Gelegenheit für günstig, sich auf einmal alle Pein zuzufügen, die ihm ungerechterweise erspart worden war.
So wenig methodisch auch die Handlungen des Knaben oft waren, so erkannte der Marquis doch täglich deutlicher den Adel seiner Seele, und seine Zärtlichkeit wurde doppelt wachsam. In ihren täglichen Unterhaltungen bemühte sich der Marquis mit großer Geduld, ihn durch sein Beispiel, seine Betrachtungen und seine Lebensführung zu der Einsicht zu führen, daß er in sich selbst einen Führer besäße, der, wenn er es verstände, ihn um Rat zu fragen, zuverlässiger wäre als alle Theorien der Menschen, nämlich die Vernunft. Der Marquis tat dies, ohne durch absprechende Behauptungen die Lehren, die andre ihm vielleicht gegeben hatten, zu widerlegen, und ohne seinem jungen Geist die Ansichten aufzudrängen, die er selbst sich von den Dingen gebildet hatte. Seine Vernunft zu wecken, ihn fähig zu machen, die wundervollen Lehren der Natur unmittelbar zu empfangen und daraus ein Wissen zu schöpfen, das wirklicher wäre als alle Buchweisheit: das war sein Ziel. Und manchmal glaubte er es fast zu erreichen, denn in dem Maße, wie Louis Lycurgue heranwuchs, schien er seinem Ungestüm weniger blind nachzugeben und für Augenblicke imstande zu sein, seine Leidenschaften zu mäßigen. Er fing an nachzudenken und manchmal mit einer gewissen Kraft Schlüsse zu ziehen. Worte, die ihm entschlüpften, bezeugten die Tätigkeit seines Geistes und ließen den Abbé und Madame Olympia häufig erzittern. Seine Fragen nach der menschlichen Gesellschaft, nach den Regierungen und den gesamten Einrichtungen der Welt verrieten seine Begierde nach Wahrheit. Die Pracht der Natur berauschte ihn; die Helligkeit der aufgehenden Sonne entlockte seinen Augen Tränen. Die Majestät der Wälder mit ihren uralten Wipfeln erschütterte ihn mehr als der Glanz der Kirchen; und an Sommerabenden versenkte sein kindlicher Blick sich träumerisch in die Unendlichkeit des gestirnten Himmels …
Aber um sein zwölftes Jahr wurde seine junge Seele und vielleicht die ganze Richtung seines zukünftigen Lebens gewaltig durch ein unvorhergesehenes Ereignis erschüttert: ich meine den Tod des Marquis Henri.