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Am Morgen nach seinem achtzehnten Geburtstage erwachte Louis Lycurgue sehr spät in dem hohen Himmelbett, in dem schon mehrere Vorfahren geschlafen hatten. Es dauerte lange, bis er die Augen aufschlug, vor denen noch die Bilder des Festes, die verführerischen Erinnerungen an holde Frauenbusen und reizende Schultern gaukelten. Indessen mußte er doch endlich mit schläfriger Stimme den Kammerdiener rufen; dann reckte er sich gähnend und kleidete sich an. Das frische Wasser und der Sonnenschein belebten seine Geister wieder. Er ließ sich gerade seine Schokolade munden, als es mit leisem Finger an die Tür pochte. Eine Kammerfrau erschien und meldete Louis Lycurgue auf Befragen nach ihrem Kommen, daß seine Mutter ihn im Empfangssalon erwarte, um eine ernste Unterredung mit ihm zu führen.
Als er dies hörte, gähnte der junge Mann kräftig und bedauerte, sich nicht wieder ins Bett legen zu können. Die ernsthaften Unterredungen waren nicht sein Fall, am wenigsten an diesem sonnigen Morgen, am Tage nach einer Lustbarkeit. Aber er kannte seine Pflicht zu gut, um nicht Madame Olympias Gebot Folge zu leisten, Nach einigen Augenblicken der Ueberlegung entschloß er sich, sie ohne Zaudern zu befriedigen, damit er um so früher wieder frei würde und seinen spanischen Halbbluthengst zwischen die Schenkel nehmen könnte, um ein paar Stunden im Walde zu galoppieren.
Der erste Blick, den er beim Eintritt in den Empfangssalon warf, erfüllte ihn mit bösen Ahnungen über die Dauer und den Ernst der Audienz. Madame Olympia saß kerzengrade und schwarz gekleidet in ihrem großen Lehnstuhl aus dem vorigen Jahrhundert vor einem sehr großen Tisch, der ganz mit Listen, Akten und Papieren aller Art bedeckt war. Ihr gegenüber war ein Lehnstuhl frei. Neben ihr lag in einem Stuhl ganz erschöpft mit ergebener Miene und über dem Bauche gefalteten Händen der Abbé Joineau. Louis Lycurgue unterdrückte eine instinktive Regung, zu entfliehen und die Tür hinter sich zuzuschlagen. Er küßte seiner Mutter die Hand, nickte dem Abbé freundschaftlich zu und scherzte heiteren Tones über das feierliche Aussehen dieser Versammlung. Aber Madame Olympia würdigte seine Worte keiner Beachtung, lud ihn mit gebieterischer Gebärde ein, Platz zu nehmen, und sagte:
»Mein Sohn, seit du ein Mann zu werden beginnst, habe ich dich zu verschiedenen Malen aufgefordert, deinen Vermögensverhältnissen eine Betrachtung zu widmen. Du bist mir immer ausgewichen, indem du deine Unerfahrenheit und dein Vertrauen zu mir vorschütztest.«
Mit liebenswürdiger Gebärde erklärte Louis Lycurgue, daß dieses noch unverändert bestände, und versuchte sich zu erheben. Aber mit Bestimmtheit fuhr die Marquise fort:
»Da du jetzt dein achtzehntes Jahr vollendet hast, würde ich gegen meine Pflicht als Mutter verstoßen, wenn ich dich länger in Unwissenheit über den Stand deines Besitzes ließe. Ich bitte dich also, dem Vortrage, den Herr Joineau uns über diesen Gegenstand halten wird, ein aufmerksames Ohr zu leihen.«
Mit eintöniger Stimme las der Abbé die Listen vor, auf denen die Besitzungen, ihr Wert, der Pachtzins, die Höhe der in Bordeaux angelegten Summen, die Herkunft und der Gesamtbetrag aller Einnahmen verzeichnet standen. Louis Lycurgue hörte mit unterdrücktem Gähnen zu, indem er an seinem Rockärmel kratzte und abwechselnd seine beiden Pantoffeln von kirschrotem Atlas besah. Sobald der Abbé schwieg, beteuerte er, daß alles vollkommen sei und daß er eine solche Verwaltung gutheiße.
»Sehr gut,« sagte die Marquise, »haben Sie die Güte, Herr Abbé, jetzt die Liste der Ausgaben vorzunehmen.«
Ganz abgespannt hörte Louis Lycurgue die einzelnen Posten der Ausgaben für Küche, Kleidung, Marstall, Löhne der Kammerdiener, Kutscher, Stalljungen und so weiter an und schielte dabei nach dem knospenden Eichenlaub.
»Was hältst du davon?« sagte seine Mutter.
»Es muß eine Holztaube sein,« erwiderte der junge Mann und spähte nach einem Vogel, der auf einem Zweige hüpfte.
Aber er entschuldigte sich hastig wegen seiner Zerstreutheit und erklärte, daß ihm das alles sehr genau zu stimmen scheine, obwohl eigentlich nicht der Rede wert.
»Deine Zufriedenheit ist mir angenehm, mein Sohn,« erwiderte die Marquise. »Ich bitte dich aber zu bemerken, daß die Summe deiner Ausgaben die deiner Einkünfte beträchtlich übersteigt.«
Louis Lycurgue stimmte zu. »Machen es nicht die meisten Edelleute so?«
»Gewiß,« stimmte die Marquise bei. »Deshalb habe ich auch, als du trotz meiner Vorstellungen über die Ausgaben deinen Aufwand an Pferden und Kleidern nicht einschränken wolltest, nicht auf meinem Willen bestanden. Was gedenkst du aber jetzt zu tun?«
Der junge Marquis kratzte sich hinterm Ohr. Nun, er würde auf die englische Kutsche verzichten, die er sich hatte kommen lassen wollen, und auf die Meute von Dachshunden, die Herr von Jalaruc ihm so preiswert anbot. Auf diese Weise würde er seine Ausgaben nicht vermehren, sondern sich darauf beschränken, es mit einem Falkenier zu versuchen. Mit einem Anflug von Ungeduld hielt Madame Olympia ihm entgegen, daß er, indem er seine Ausgaben nicht vermehrte, sie ebensowenig verminderte, und daß also seine Lage dadurch nicht besser würde. Louis Lycurgue runzelte die Brauen und dachte nach. Aber plötzlich erhellte sich sein Gesicht.
»Die Wucherer, Madame, sind nicht umsonst auf der Welt. Wenn sie den Löwenanteil bekommen, werden sie uns gern eine Summe vorschießen, die uns für ein Lustrum oder zwei Ruhe verschafft.«
Madame Olympia zuckte ihre majestätischen Schultern.
»Aus welcher Quelle konnte ich denn nach deiner Ansicht sechs Jahre lang schöpfen, um deine Ausgaben zu bestreiten? Wisse, daß deine Besitzungen zu zwei Dritteln des Wertes mit Hypotheken belastet sind, und daß es weder in Bordeaux noch in Périgueux einen Geldverleiher gibt, der dir hundert Taler borgen würde.«
Bei dieser Mitteilung erachtete Louis Lycurgue es für notwendig, einen ernsten Ausdruck anzunehmen. Aber er wurde wieder heiter und knipste mit den Fingern.
»Warum leben wir nicht auf Borg? Ist es anständig, wie ein Bürger bar zu bezahlen? Wenn ich unsern Lieferanten einen Wechsel ausstelle, werden sie sehr gern ein oder zwei Jahre auf die Bezahlung ihrer Waren warten und diese Zeit benutzen, um ihre Rechnungen gehörig in die Höhe zu treiben.«
»Mein Sohn,« sagte die Marquise, »erfahre denn, daß deine ausstehenden Schulden, abgesehen von den Hypotheken, vierzigtausend Taler betragen, und daß die Kanaillen, die du mit deinem Vertrauen beehrtest, weit entfernt sind, dir Kredit zu geben; vielmehr haben sie gegen dich Klagen eingereicht und beabsichtigen dich gerichtlich zu verfolgen.«
Der Marquis starrte seine Mutter verwirrt an. Der Gedanke, sie zu fragen, warum sie ihn nicht gewarnt hätte, kam ihm nicht; aber der Sonnenschein dünkte ihm minder hell und um so schwärzer Madame Olympias Kleid. Von Trübsal überwältigt, seufzte er:
»In diesem Fall, Madame, sehe ich keinen andern Ausweg, als uns der Härte des Schicksals zu unterwerfen und uns mit äußerster Sparsamkeit einzuschränken.«
»Wie, mein Herr Sohn,« sagte die Marquise mit spöttischem Gesicht, »ist das deine Tapferkeit? Weißt du nichts andres, als vor der Gefahr dich zu ducken, und soll der Glanz deines Hauses, den dein Vater wiederhergestellt hat, in deinen Händen verlöschen?«
Beim Namen seines Vaters stieg dem jungen Manne die Zornröte in die Stirn, und er fuhr auf: »Zeigen Sie mir einen Gegner, den ich durchbohren soll, und ich werde Ihnen den Beweis geben; aber unter so unglaublichen Verhältnissen wird mein Urteil verwirrt … wenn nicht der Dienst des Königs mich rettet …«
»Willst du ohne Equipierung und ohne Kredit dein edles Blut den Befehlen von Schulfüchsen und Rechtsverdrehern beugen?«
Der junge Mann fühlte, wie die Kehle sich ihm zuschnürte und die Augen ihm feucht wurden. Vergebens heftete er sie auf den Abbé, in der Hoffnung auf Hilfe, die nicht kam; dann nahm er, ohne Rücksicht auf seine kunstvolle Haartracht, den Kopf in beide Hände und rief mit verzweiflungsvoll brechender Stimme:
»Bei Gott, Madame, ich muß Ihnen sagen, daß meine Weisheit zu Ende ist. Ich sehe keine Lösung, als im Tode die Ruhe zu suchen, die das Leben mir nicht mehr geben kann … Aber wenn ich an Sie denke …«
Die Marquise freute sich im stillen, daß sie ihren Sohn dahin gebracht hatte, wo sie ihn haben wollte. Sie ließ einen befriedigten Blick nach dem Abbé hinübergleiten und erwiderte in milderem Tonfall:
»Es handelt sich nicht um Tod oder Selbstmord, ich möchte sogar sagen: ganz im Gegenteil. Du hast dein Glück in der Hand und brauchst dich nur zu bücken, um es aufzuheben.«
»Und das wäre? …« stammelte der Marquis.
»Dich zu verheiraten,« erwiderte Madame Olympia.
»Ah!« staunte der junge Mann.
Er versank in Träumerei, denn ein so wunderbares Abenteuer hatte er nicht erwartet. Aber nach einigem Nachdenken begann er:
»Madame, ich kann Ihnen nicht verhehlen, daß dieser Vorschlag mich in Erstaunen setzt. Meine Jugend gestattete mir die Hoffnung, daß Sie ein solches Opfer nicht so früh von mir fordern würden. Ich muß Ihnen gestehen, daß ich mich frage, ob ich fähig bin, schon jetzt ein Band zu knüpfen, dessen Bedeutung Ihnen Herr Joineau besser auseinandersetzen wird. Ich fürchte, die Glut meiner Leidenschaften macht mich wenig geeignet, der, die meinen Namen tragen wird, die Treue zu halten, die ich ihr schulde.«
»Mein Sohn,« entgegnete die Marquise, »solche Bedenken machen dir Ehre, und ich würde betrübt sein, wenn du sie nicht hättest. Aber zuerst laß mich dich daran erinnern, daß die hohe Gesellschaft früher zu heiraten pflegt als das kleine Volk, damit nicht ein vorzeitiger Tod ihrem Namen den Erben raubt. Ferner darfst du das Mißtrauen, das du in dich selbst setzest, nicht bis zu dem von dir bezeichneten Punkte treiben. Ich kenne den Adel deines Herzens zur Genüge, um zu wissen, daß du in der Minute, wo du der zukünftigen Marquise von Migurac Treue gelobst, auch den aufrichtigen Wunsch haben wirst, deinen Schwur zu halten. Sollte in der Folge dein Wille schwach und das Fleisch stärker sein, so ist das zwar ein verdrießlicher, aber in der besseren Gesellschaft leider nur zu oft vorkommender Uebelstand, der deiner Ehre keinen Abbruch tut, vorausgesetzt, daß du bereust und für deinen Fehler Ablaß erhältst. Ist's nicht so, Abbé?« setzte sie, sich an den dicken Mann wendend, hinzu.
Herr Joineau machte eine zweifelhafte Bewegung mit dem Kopf, und ein sehr gelegener Hustenanfall hinderte ihn, seine Meinung klarer auszudrücken. Frau von Migurac begnügte sich mit dieser Zustimmung und wandte sich wieder dem Jüngling zu, der fortgesetzt schwieg.
»Uebrigens will ich dich zu nichts zwingen, mein Sohn, und wenn du einen andern Ausweg aus deiner Verlegenheit siehst, werde ich nicht in dich dringen, eine Handlung zu begehen, deren Schwierigkeiten du sicherlich übertreibst.«
Der Marquis blieb stumm. Obwohl sein Widerwille nicht besiegt war, hielten seine immer lebhaften Gedanken schon unter den Fräuleins der Umgegend Umschau, welche von ihnen wohl am geeignetsten wäre, Marquise zu werden. Plötzlich blieben sie mit Wohlgefallen bei der weißen Aline von Perthuiseau, der Freundin seiner Kindheit, stehen. Mit einem Schlage war sein Kummer verflogen, und er erklärte vergnügt, daß er nach reiflicher Ueberlegung den Gründen seiner Mutter nachgäbe, und daß es ihm schiene, als ob Aline von Perthuiseau …
Doch Madame Olympia unterbrach ihn. Fräulein von Perthuiseau wäre ohne Zweifel sehr wohlerzogen, aber sie hätte nur eine Mitgift von fünfzigtausend Talern, kaum so viel, um seine einklagbaren Schulden zu bezahlen. Wie wollte er nachher die mit Hypotheken belasteten Ländereien ablösen und auf anständigem Fuße leben?
Louis Lycurgue bestand nicht darauf, und die Marquise hielt Musterung über alle adligen Jungfrauen der Nachbarschaft. Sie kritisierte ihre Person mit der Strenge eines königlichen Werbeunteroffiziers und schätzte ihr Vermögen mit der Genauigkeit eines Gerichtsschreibers ein. So sehr, daß, als sie endlich alle Edelfräuleins gemustert und wieder Atem geholt hatte, ihr Sohn mit einer Mischung von Ironie und Neugierde zu ihr sagte:
»Nun, Madame, also an welche Tür sollte ich klopfen? Denn da Sie so viele Schwiegertöchter verworfen haben, vermute ich, daß Sie schon eine gewählt haben.«
Frau von Migurac nahm alle Kraft zusammen, senkte die Augen, erhob sie wieder und heftete sie über den Kopf Louis Lycurgues hinweg auf das vergoldete Blattwerk eines Spiegels. Dann sagte sie mit fester Stimme:
»Maître Moriceau, der Einnehmer der Salzsteuer in Bordeaux, der mit dem Marquis, deinem Vater, andauernde Beziehungen unterhielt, besitzt ein Vermögen, das die Bescheidensten auf nicht weniger als drei Millionen Taler schätzen. Er hat eine Tochter, die er zu verheiraten wünscht.«
Der junge Mann schoß so heftig von seinem Sessel in die Höhe, daß das Holz krachte und dem Abbé, der gerade im Begriff war einzuschlummern, ein Schreckensruf entfuhr.
»Sind Sie etwa willens, Madame, die Tochter eines Gelderpressers in das Ehebett eines Migurac zu bringen?«
Die Marquise spielte nachlässig mit den Spitzen ihrer Robe. Sie ließ ihren Sohn seinem Zorn Luft machen und gestand ihm dann mit sanften, schmeichlerischen Worten zu, daß Heiraten unterm Stande allerdings bedauerlich wäre. Er könne sich aber überzeugen, daß außer mehreren Verbindungen dieser Art, die sie anführte, die Monarchen selbst keine Ausnahme darin machten, denn ein König von Frankreich habe die Tochter eines Florentiner Silberschmieds zur Ehe genommen. Es bleibe nur die Frage übrig: Wäre es besser, daß ein erlauchtes Haus kläglich erlösche, oder solle es im Gegenteil durch die Aufnahme plebejischen Blutes verjüngt werden und durch neuen Glanz seine Fortdauer sichern? Wenn der selige Marquis noch lebte, würde er diesen Plan mit ganz andern Augen ansehen. Denn er habe ja vorgegeben, jede Art von Vorrecht zu verachten, und behauptet, daß die Menschen von Natur gleich wären. Wenn man auch solchen Ansichten nicht beipflichte, so sei es darum doch nicht nötig, eine Verbindung dieser Art von vornherein abzuweisen, wenn sie so vorteilhaft und, wie die Marquise betonte, so notwendig sei. Sie müsse sich wirklich auch noch wegen ihrer Gedankenlosigkeit entschuldigen. Sie habe ganz vergessen, ihren Sohn von einem Urteil des Parlaments in Bordeaux in Kenntnis zu setzen, das den Pferdehändler des Marquis ermächtigte, innerhalb dreier Monate Schloß und Marstall bis zum Höchstbetrag seiner Forderung unter den Hammer zu bringen, falls sein Wechsel nicht eingelöst würde.
Umsonst, daß Louis Lycurgue sich wehrte, Einspruch erhob und sich sträubte. Bei der klüglich heraufbeschworenen Erinnerung an seinen Vater konnte er nicht gefühllos bleiben; denn allerdings würde der verstorbene Marquis einen Teil seiner Bedenken gering geachtet haben. Doch er behielt ein geheimes Unbehagen, dem Ausdruck zu geben er sich nicht enthalten konnte. Er fragte seine Frau Mutter, ob sie es nicht erniedrigend finde, mit etwas so Kostbarem wie dem Adel des Blutes Handel zu treiben.
Madame von Migurac blickte ihn mit aufrichtigem Erstaunen an.
»Wie kommst du darauf, mein Sohn, daß hier ein Handel stattfände? Jedes Geschäft setzt einen Austausch gleicher Werte voraus. Nun, sei überzeugt, daß Maître Moriceau, so verliebt er auch in seine Taler ist, nicht daran denkt, sie gegen das Marquisat von Migurac in die Wagschale zu werfen. Falls du gewillt bist, sein Schwiegersohn zu werden, so wäre ihm all sein Gold und all sein Blut nicht genug, und er müßte sich ebenso wie seine Tochter ewig als dein Schuldner betrachten.«
Louis Lycurgue seufzte tief und fragte mit unsicherer Stimme:
»Haben Sie das junge Mädchen gesehen?«
Madame von Migurac zog ein brillantenumrahmtes Medaillon aus dem Busen und hielt es ihm hin. Er erblickte ein wohlgeformtes Gesicht mit hübschem Ausdruck, das er trotz seiner Voreingenommenheit ohne Mißfallen betrachtete. Während sein Blick milder wurde, setzte Madame von Migurac nachlässig hinzu:
»Mademoiselle Isabella Moriceau hat im Kloster der adligen Damen vom Herzen Mariä eine vollendete Erziehung genossen. Habe ich dir gesagt, daß ihre Mitgift dreihunderttausend Taler beträgt? Und daß Maître Moriceau in dem Wunsch, seine Freude über eine so erlauchte Verbindung zu bezeigen, außerdem versprach, deine laufenden Schulden zu bezahlen und deine Besitzungen gänzlich auszulösen?«
Louis Lycurgue sah den Abbé, seine Mutter und das Miniaturbild nacheinander forschend an, und dann den Abbé noch ein zweites Mal.
»Herr Joineau,« sagte er, »wie denken Sie darüber?«
Der Abbé bewegte energisch den Hals, und man erwartete, Bedeutendes von ihm zu hören, aber eine hartnäckige Erkältung quälte ihn, und zum andern Male schnitt ihm der Husten das Wort ab. Die Marquise maß ihn strengen Blickes und wandte sich wieder an ihren Sohn.
»Ein Umstand, der dich überraschen wird, ist, daß dies junge Mädchen, dem du bei der Hochzeit von Fräulein von Bligny aufgefallen bist, sich sterblich in dein Gesicht und dein ganzes Wesen verliebt hat. Sie ist siebzehn Jahre alt.«
Louis Lycurgue schwieg. Durch die Fensterscheiben sah man das üppige Laub des Parkes, den linken Flügel des Schlosses, den blauen Himmel und die lachende Sonne. Es schien ihm hart, so viel Schönem zu entsagen. Indem er von neuem das Bildnis von Mademoiselle Moriceau genau ansah, konnte er sich nicht verhehlen, daß er ihre Gunst begehrt haben würde, wenn sie die Frau eines andern gewesen wäre, und daß es wirklich abgeschmackt wäre, sie zu verachten, weil sie ihm außer ihrer Liebe ein schönes Vermögen zubrachte … Und das Ergebnis seiner sehr unklaren und gemischten Ueberlegung war dies: »Wohlan, ich werde sie mir ansehen.«
Zwei Monate später, Schlag zwölf Uhr, vollzog der Herr Erzbischof von Bordeaux in der Kathedrale selbst die Trauung von Louis Lycurgue, Marquis von Migurac, Vicomte von Aubetorte und Herr andrer Ortschaften, mit Mademoiselle Isabella Moriceau, Tochter des Steuereinnehmers Maître Moriceau. Eine große Menschenmenge, welcher der vornehmste Adel der Gegend noch besonderen Glanz verlieh, drängte sich im Schiff, um die jungen Gatten zu beglückwünschen, deren Anmut, Frömmigkeit und Freigebigkeit die Zeitungen um die Wette priesen.