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Zweiundzwanzigstes Kapitel.
Von einem Entschluß, den Herr von Migurac faßte

Man würde kaum glauben, daß Herr von Migurac, dem Tugend und Reichtum in gleichem Maße beschert waren, bei einem so klug eingeteilten Leben, in dem die Pflichten gegen die Welt und gegen die Philosophie so bewunderungswürdig vereinigt waren, nicht alle Wonnen des Herzens und Geistes in ihrer ganzen Fülle genoß. Es ist indessen eine vom Scharfblick des Abbés bemerkte und in seinem Tagebuch aufgezeichnete Tatsache, daß seine Laune, so liebenswürdig und heiter sie war, doch nach Ablauf einiger Monate einen Anflug von Melancholie bekam.

Soweit uns eine Mutmaßung erlaubt ist, ist dies auf verschiedene Ursachen zurückzuführen, unter denen die Bosheit der Welt keine der geringsten war. Es ist niederschmetternd, daß ein Mann wie Herr von Migurac, dessen ganzes Leben nur dem Glück der Menschheit geweiht war, der Böswilligkeit der Kritiker nicht entrinnen konnte. Man ist bestürzt, wenn man sieht, wieviel Pamphletisten, Schulfüchse und Federfuchser sich bemühten, seine geringsten Handlungen zu entstellen. Es verging sozusagen keine Woche, wo nicht irgendein Schuft versuchte, durch einen platten Artikel, dessen Lobsprüche ebenso hinterlistig waren wie die Verleumdungen, aus der Neugierde des Publikums eine Handvoll Taler herauszuschlagen, denn man war immer auf alles erpicht, was den philosophischen Marquis anbetraf.

Der Kummer des Herrn von Migurac wurde noch dadurch vermehrt, daß sich unter diesen Elenden Leute befanden, die er besonders achtete, darunter mehrere gute Freunde aus dem »Grauen Kakadu«. Sie waren am meisten darauf versessen, ihn des Dünkels oder des Wahnsinns zu zeihen und eine Menge willkürlich entstellter Geschichten zu verbreiten, die geeignet waren, ihn in eine schiefe Stellung zu bringen. Gerade als der Ruf seiner Schriften sich vermehrte und die Schriftsteller, die er zu Tisch einlud, ihn mit größter Wärme rühmten, bildete sich eine Art Verschwörung gegen sie, in der Verachtung und Verleumdung gepaart waren; und scheinbar war Herr Mottet in Person der Anführer.

Diese Angriffe betrübten Herrn von Migurac tief. Da er die Redlichkeit und die Gerechtigkeit der Gäste des »Grauen Kakadu« kannte, zweifelte er nicht, daß er ihr Verdikt verdient und daß ein verhängnisvoller Zufall sein Genie vom rechten Wege abgebracht hätte. Er beschloß also, sich seinen Kollegen offen anzuvertrauen und sie um Rat anzugehen.

Und so hallte eines Abends die Rue de la Huchette, die solche Ehre wenig gewohnt war, vom Rollen einer vierspännigen Kutsche wider, die vor der Tür der berühmten Schenke hielt. Die Gaffer, die allerseits an den Fenstern erschienen, sahen Herrn von Migurac aussteigen und auf die Klinke drücken; und plötzlich stand er vor der wie immer bei Krügen und Flaschen vereinigten Gesellschaft.

Es war, als ob der steinerne Gast die gelehrten Zecher besucht hätte: alles blieb regungslos und wie versteinert sitzen. Herr von Migurac setzte ihnen in ergreifendem Ton auseinander, daß er gekommen sei, um ihnen für ihre Kritiken zu danken. Dann wandte er sich an Herrn Mottet, der vergebens versuchte, sich hinter einem Schenktisch zu verstecken, und bat ihn, anzugeben, durch welches Mittel er die Kraft seines Genies wiedererlangen könnte. Herr Mottet, der magerer als je war und abwechselnd erblaßte und errötete, beteuerte mit einigen allgemeinen Redensarten, daß sein erlauchter Freund seine Betrachtungen mißverstanden habe, und bat um Entschuldigung, wenn er sich wegen eines Stelldicheins, das ihn fortriefe, schleunigst entfernte. Dies wurde ihm von allen andern nachgemacht, die sich beeilten, Herrn von Migurac zu umarmen und mit der Versicherung, daß sein Talent in keiner Weise abgenommen hätte, zu entfliehen.

Etwas aufgeheitert kehrte der philosophische Marquis zu seinen heimischen Penaten zurück. Aber wie groß war sein Schmerz, als er zwei Tage später die »Gazette des Lettres« las, für die Herr Mottet unter dem Namen Juvenal schrieb, und darin eine Fabel fand, in der die Unverschämtheit des ehemaligen Schäfers Alcidas, eines reich gewordenen Egoisten, dem es Freude machte, seine Kameraden durch die Pracht seiner Livreen und seiner Kutsche zu demütigen, in heftiger Weise gebrandmarkt ward. Herr Joineau fand seinen Herrn in Tränen, und Herr von Migurac weihte ihn in alle Einzelheiten seines Kummers ein und beklagte zugleich seinen eignen Niedergang und die Unnachsichtigkeit seiner Freunde. Herr Joineau machte ihn darauf aufmerksam, daß nicht sein Genius, wohl aber seine Vermögenslage sich geändert hätte, was zu vielen Dingen den Schlüssel abgäbe. Als ihn Herr von Migurac, der keine Spur von diesen Rätseln verstand, aufforderte, sich deutlicher auszudrücken, erklärte ihm der Abbé ohne Umschweife, daß nur die Eifersucht seine ehemaligen Gefährten beeinflußte, die sich so oder so für beleidigt hielten: wenn er sie zu sich einlüde, durch seinen Reichtum, und wenn er sie nicht einlüde, durch seine Verachtung. Gegen einen so abscheulichen Gedanken empörte sich Herr von Miguracs hochherziger Sinn. Er gebot dem Abbé durch eine Handbewegung Schweigen und rief:

»Beschimpfen Sie das menschliche Herz nicht, und glauben Sie, daß die Kränkung meines Selbstgefühls wenig bedeutet im Vergleich zu dem Abscheu, der mich ergriffe, wenn ich solche Treulosigkeit nur für möglich hielte.«

Doch der vergiftete Pfeil, den Herr Joineau in aller Unschuld abgeschossen hatte, blieb nicht ganz ohne Wirkung. Fortan gesellte sich zu dem Kummer, sein Talent schwinden zu sehen, noch der andre, daß Herr von Migurac manchmal denen mißtraute, die sich seine Freunde nannten.

Sein Zartgefühl wurde durch diese Entdeckung schmerzhaft verletzt. Und es ist bemerkenswert, daß sie ihn um so härter zu treffen schien, je mehr der Marquis die erste Glut der Jugend hinter sich ließ und der Vulkan aller Leidenschaften in ihm sich beruhigte, ohne jedoch seiner philanthropischen Begeisterung Abbruch zu tun. Jetzt, wo Herr von Migurac jeden persönlichen Egoismus abgestreift hatte und von Plutus' Gunst überschüttet ward, empfand er mit immer wachsender Gewalt alle Leiden der Kreatur. Gewissermaßen prallten alle auf ihn zurück, und er wünschte sich eine Menge Köpfe und Arme, um allen Unglücklichen zu helfen. Den einen Tag schmetterten ihn die Niederlagen der jungen amerikanischen Heere nieder, und er dachte daran, in ihren Reihen zu kämpfen. Am nächsten Tage blutete sein Herz für die letzten Polen. Wie schön wäre es, mit ihnen im Kampf gegen die habgierigen Monarchen auf einem Schlachtfeld zu sterben! Aber dann erinnerte er sich, wieviel Blut seine Hand schon vergossen hatte, und daß jede Gewalttat verabscheuenswert ist, selbst wenn sie berechtigte Gründe hat. So verlegte er sich darauf, Mittel zu finden, um die Lage der Völker zu verbessern, vermehrte die Pläne und Bittschriften zugunsten einer Herabsetzung der Steuern, ihrer gleichmäßigeren Verteilung und der Verbesserung der Strafjustiz. Und seine unerschöpfliche Zärtlichkeit umfaßte auch noch unsre tieferstehenden Brüder, die Tiere; denn er plante ein Altersheim für diese alten Diener des Menschen und sanftere Mittel, um denen, die unsrer unersättlichen Genußsucht geopfert werden, einen leichteren Tod zu geben.

Aber seine von so viel Liebe geschwellte Seele mußte trauernd jeden Tag ihre Ohnmacht erkennen. Denn er konnte sich nicht verhehlen, daß seine Bemühungen selten von Erfolg gekrönt waren, daß seine löblichsten Versuche nur Gleichgültigkeit und Spott begegneten und in ihren Wirkungen manchmal das Gegenteil von dem erreichten, was er sich erhofft hatte. Dann beklagte er seine Vereinsamung, und daß kein Herz vereint mit seinem schlüge. Sein Scharfsinn zwang ihn zu der Ueberzeugung, daß unter seinen Gästen und Freunden nicht einer war, der an den innersten Gedanken seines Wesens teilnahm; selbst der Abbé Joineau war mehr durch gewohnheitsmäßige Zuneigung als durch wahre Ideengemeinschaft mit ihm verbunden. Obwohl er nach reiflicher Ueberlegung zur Einsicht gekommen war, daß dem Weisen Keuschheit geziemet, hatte er sich doch nicht enthalten können, einige Verhältnisse anzuknüpfen, sowohl unter den leichtfertigen Schönen als auch mit einigen Damen, die in die Philosophie verliebt waren. Er bekannte sich darin schuldig, sprach sich aber dennoch frei in Anbetracht dessen, daß der Mensch Sinne hat und sich von ihren Forderungen nicht losmachen kann. Aber diese kurzen Liebschaften, bei denen die Fleischeslust die erste Stelle einnahm, verschafften ihm nur vorübergehende Freuden, an denen er weniger Geschmack fand, seit er seine moralische Betätigung über diesen ihm einst liebsten Zeitvertreib gestellt hatte. So kam es, daß er auf Madame von Châtelys, nachdem er sie lange bestürmt hatte, am selben Tage verzichtete, als sie ihm alles gewähren wollte, denn er hielt sich einer dauernden Neigung zu ihr nicht fähig. Die Welt neckte ihn damit, und sie selbst ließ sich bald darauf von einem Gardekapitän entführen; aber die Billigung seines Gewissens genügte, um ihn zu beruhigen, wenn sie ihm auch nicht die Heiterkeit wiedergab.

Ohne Zweifel war die Abnahme der Körperkräfte, die mit dem vierzigsten Jahre beginnt, die wahre Ursache dieser Gefühlswandlung. Der Leser, der dies weiß, wird nicht so überrascht sein, wie es die Neuigkeitskrämer waren, als um das Frühjahr 1783, bald nach dem mit England geschlossenen Frieden, der »Mercure de France« in verhüllten Ausdrücken die Heirat eines der berühmtesten philosophischen Edelleute ankündigte. Eine Nachricht, die erst auf Unglauben stieß und dann zu vielem Gerede Anlaß gab.

Mademoiselle Marie Agnes von Villecroix erschien Herrn von Migurac zum erstenmal bei dem großen Kostümfest, das ihre Frau Mutter zu Ehren ihrer Entlassung aus dem Kloster gab, im Karneval desselben Jahres 1783. Sie war als Najade gekleidet, in einem tief ausgeschnittenen Kleid von weißem Taft, das mit Schilf, Muscheln und Wasserstrahlen bemalt und mit silbern und grün schillernder Gaze drapiert war. Herr von Migurac, der als König Numa nicht weniger geschmackvoll gekleidet war, sollte bei einem Menuett ihr Gegenüber sein. Von Anfang an bemächtigte sich seiner eine ihm fremde Unruhe angesichts dieser jungen Schönheit, die durch den phantastischen Anzug noch anziehender wurde. Türkisblaue Augen leuchteten aus einer Haut wie Lilien und Rosen, und ein übermütiges Lächeln ließ perlengleiche Zähne sehen. Die Hand der Liebesgötter, von Venus geführt, hatte die werdenden Reize des Busens und der Schultern geformt. Eine entzückende Schelmerei, durch die Sittsamkeit und Kindlichkeit der Haltung noch gehoben, sprühte aus ihrem Blick. Herr von Migurac war von dieser Erscheinung ergriffen. Er war der Ansicht, daß ein so reizendes Mädchen ihm ein genaues Bild des Weibes gäbe, so wie die Natur es in dem Augenblick bildet, wo sich sein Herz der Tugend und der Wollust erschließt. Jedesmal, wenn er ihr in den Verschlingungen des Tanzes die Hand reichte, zitterte er, und als er den schlanken Leib umfaßte, verzehrte göttliches Feuer ihm das Mark.

Ein so heftiges Gefühl mußte ihm die Augen öffnen und ihn die Liebe, die mächtige Beherrscherin der Menschen, erkennen lassen. Seine erste Regung war Empörung. Wie? Eine so ausschließliche Neigung sollte dieses Herz knechten? Aber schon war er unfähig zu kämpfen, und eine plötzliche Erleuchtung enthüllte ihm die Absicht der Vorsehung.

Ja, wenn das Schicksal zugelassen hatte, daß er diesem anbetungswürdigen Geschöpf begegnete, so geschah dies, damit er aufhörte, die Zärtlichkeit, die seine Seele erfüllte, auf zu viele Gegenstände zu zersplittern. Wenn die Natur dem Menschen auch gebietet, seinesgleichen ausnahmslos zu lieben, so hat sie doch den Kräften eines jeden nur zugemutet, wenige glücklich zu machen. Es schien ihm, daß er die rühmlichste Aufgabe seines Lebens erfüllte, wenn er sich dem Glück von Fräulein von Villecroix weihte, und daß er gleichzeitig, durch diese Liebe gestärkt, neuen Mut aus ihr schöpfen würde, sich der Menschheit zu widmen.

Und so fand sich Herr von Migurac denn zitternd und schüchtern wie ein Jüngling mit großer Förmlichkeit bei der Gräfin von Villecroix ein und offenbarte ihr seinen Herzenswunsch. Die Gräfin bezeigte ihm einiges Erstaunen über diesen Schritt, und machte ihn darauf aufmerksam, daß ihre Tochter noch sehr jung, erst sechzehn Jahre alt sei, während er schon die zweiundvierzig überschritten habe. Aber Herr von Migurac brachte seine Leidenschaft mit solcher Wärme hervor, und der Ruf seiner Persönlichkeit und seines Vermögens gaben seiner Beredsamkeit so viel Nachdruck, daß Madame von Villecroix, nachdem sie mit ihrem Gatten Rücksprache genommen, ihm eine günstige Antwort zu geben geruhte. Und obendrein hatte er noch das Vergnügen, zu erfahren, daß Fräulein von Villecroix, als man sie von der Wahl ihrer Eltern in Kenntnis setzte, durchaus keinen Kummer darüber empfunden hatte; sie war vielmehr vor Freude gesprungen und hatte ihre letzte Puppe aus dem Fenster geworfen, indem sie ausrief, sie sei selig, einen schönen Mann, eine Kutsche und Diamanten zu bekommen. Und als Herr von Migurac ihr die Hand küssen durfte und sie allein miteinander blieben, warf sie sich ihm mit solcher Hingebung an den Hals, daß sich ihm das Herz umdrehte und Tränen in seinen Augen schwammen. Und zum erstenmal in seinem Leben erkannte er, daß die Dichter nicht übertrieben haben, wenn sie die Wonnen der Liebe als den Ursprung und das erhabene Ziel der Schöpfung feiern.


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