Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Otto hatte mir ein Buch empfohlen, welches die Freundschaft Marie Bashkirtseffs mit dem Maler Bastien-Lépage zum Thema habe. Es hieß: »Der Rangierbahnhof«. Und seine Verfasserin Helene Böhlau. Es war ein Werk von wundersamer Schönheit, und ich schrieb darüber begeisterte Worte in der »Gesellschaft«, ohne zu wissen, daß die Dichterin in meiner Nähe wohne. Da erhielt ich eine Einladung von ihrem Gatten.
Omar al Raschid Bey (sein ursprünglicher Name war Arndt-Kürnberg) war ein in Rußland aufgewachsener deutscher Jude. Als Leiter des Geographischen Instituts lebte er mit Frau und drei Kindern in Weimar und war schon nahezu fünfzig Jahre alt, als die blutjunge Helene Böhlau, Tochter eines Weimarer Verlagsbuchhändlers, als seine Schülerin in sein Leben trat. Unter seiner Anleitung schrieb sie ihre ersten ganz dichterischen Geschichten: altweimaraner Idyllen aus sonniger Vergangenheit, darin die Luft der Goethezeit fortwirkte. Aber ihre Eltern stemmten sich gegen die Freundschaft mit al Raschid und auch dessen Familie wünschte den Vater und Ernährer festzuhalten. So flohen die beiden mit Empfehlungsschreiben Moltkes in die Türkei, wo al Raschid Mohammedaner wurde, die junge Helene heiratete und an seine erste Frau nach türkischem Recht den Scheidebrief schrieb, dessen Gültigkeit nach deutschem Rechte angefochten wurde. So standen sie in einem schweren Kampf.
Sie waren von Konstantinopel nach München gekommen; soeben war ihnen ein Sohn geboren. Helene al Raschid, froh und schön und jung schuf aus der überströmenden Fülle des hochgestimmten mütterlichen Herzens Bücher voll eines zarten Lyrismus und empörten Zorns. Indes grübelte der versonnene ausdruckskarge Mann an der Hobelbank hastlos und rastlos. Aus seinem an Kant und Schopenhauer orientierten Gedankensystem wurde nach seinem Tode (1912) ein wundervolles Bruchstück unter dem Titel »Das hohe Ziel der Erkenntnis« (Ananda Upanishad) herausgegeben. Die Freundschaft mit diesem Denker wurde für mich in Schülerschaft und Widerspruch auf Jahre hinaus entscheidend, denn durch ihn lernte ich zuerst die Weisheit Asiens kennen und das erste Buch, das ich hingegeben las war das »Oupnek'hat«.
Die schöne Patriarchengestalt im ergrauenden Bart zeigte sich unter Menschen und in den Straßen nie anders als im Burnus und Tarbusch, mit hohen Schaftstiefeln, im weiten gelbgrauen Radmantel. Sein Fühlen war im Ewigen daheim, sein Wort von letzter Würde. Er war kein Mensch, sondern ein in Menschlichkeit eingekerkerter Gott. Von welchem fernen Sterne war dieser einzige Mann auf die Erde verschlagen? Da die Menschen solche Fremdlinge nicht anders zu deuten vermögen als aus den Eitelkeiten und Absichten, die sie alle verstehn und einzig glauben, so war al Raschids Fremdheit allen Mißdeutungen und Mißverständnissen ausgesetzt, die er, in sein Geheimnis gehüllt, nicht begriff und nicht einmal bemerkte. Obwohl ich in langen Jahren mit ihm vertraut war und auch seine früheren wie späteren Angehörigen kannte, so vermöchte ich doch über Werdegang und Bedingungen dieses ebenso einfachen wie seltsam geklüfteten Mannes nichts zu sagen. In einem Roman von Gabriele Reuter »Frau Oberlin und ihre Söhne« ist das Weimar jener Tage geschildert, die beiden Brüder Obrist, ihre stolze Mutter, Helene Böhlau und al Raschid; ich kannte diese alle, aber finde, daß die Gestalten unrichtig gesehen sind.
Uns beunruhigte eine und die selbe Frage. Das Rätsel des Wissens selbst. Warum, woher, ist das Element in uns wach geworden? Wozu der Geschichte bildende Wille? Warum Zeitlinie und Ziel? Und was ist das Ziel? Meine Antwort (nie über das Selbstbekenntnis hinauslangend), lautete: »Was von der Lebensseite gesehn meine Wunde ist, das ist von der Geistesseite beurteilt: ihre Heilung.« – Klages antwortete: »Geist ist der Mörder. Er schlug als Blitz in die Lebenszelle und spaltete sie in die Zweiheit Leib und Seele, sich selber zwischen beide drängend und beide vernichtend.« Al Raschid aber machte sich zum Fürsprecher des Geistes, des Todes: »Das Leben will Voll-Endung im Geist. Denn aller Wille jeglichen Lebens ist doch zuletzt ein Wille, nicht zu wollen.« Seine letzte Erkenntnis ließ sich zusammenfassen in die Worte aus einem alten indischen Texte »Vom Herzen der Erkenntnis-Vollendung«, die er sich zur Grabschrift bestimmte und die nun im Münchener Waldfriedhof auf seinem Steine stehn:
»Wer hinaus ist über den letzten Gegensatz, den ekelt das Reden und den ekelt das Schweigen. Denn vor den Wonnen der Erkenntnis kehren alle Worte um und alle Gedanken ... Wer aber diese selige Lust erfahren hat, der fürchtet sich vor nichts mehr. Was außer ihm ist, das ist weh.«
Al Raschid also suchte Erlösung zum Geist, Klages vom Geist, ich durch den Geist.
Im Frühjahr 1897 faßten wir den Plan, auf längere Zeit nach Südtirol zu übersiedeln. Wir mieteten uns einfache Stuben in dem Städtchen Klausen. Das ist ein langgestrecktes Städtchen rechts vom Flusse Eisack an der Brennerbahn. Nördlich über der Siedlung hängt auf schroffen Felsen die Burg Säben. Ich wohnte am Nordende des Ortes beim Faltingoier, al Raschid am Südende beim Kantioler. Abgesehen von einem kurzen Aufenthalte in Matrei und mancherlei Ausflügen nach Gries, Meran und Bozen blieben wir bis ins folgende Jahr hinein in unserer schneeumwehten Einsamkeit. Wir erlebten die Weinlese. Die Trauben wurden in Bütten geworfen und mit den Füßen zerstampft. Das Tal der Eisack war die goldenen Werktage entlang erfüllt vom Gesang glücklicher Menschen, die inmitten ihrer Heiligen und Klöster selig und trunken wie in der Heidenzeit dem großen Pan zujubelten. Wir sahn dann den Winterschlaf des Tales, als die Wasser in blaublitzende Eiskristalle gewandelt, Grotten und Höhlen bauten und die Holzhäuschen an den Bergen unter der Schneedecke verschwanden. Wir sahen an unvergeßlichen Abenden, wie das Alpenglühn die Firne der Dolomiten entzündete und bald nach Weihnachten fanden wir auf den Hügeln gelbe Himmelschlüsselchen. Mit uns hauste ein kleiner Kreis wunderlicher Gesellen, allerlei Künstlervolk, in der Stille. Es hing eine lustig breite Holzaltane überm Fluß. Dort erschlief der kleine Omar sich Gesundheit, indes sein Vater uns die schmerzüberwindende Lehre kündete, nach welcher alles Leben eine kurze Krankheit ist. Wir kamen dort allabendlich zusammen. Jugendlicher Trost wider die buddhistische Entsagung ließ mich ein philosophisches Werk beginnen. Es führte den Titel: »Spiele und Freuden im Garten Epikurs.« Ein Menschenalter später habe ich seine wesentlichen Stücke wieder verwendet zu den kleinen philosophischen Dichtungen »Dämonen«, dem dritten Bändchen einer Naturtrilogie. Die beiden ersten handeln von den Tieren und Blumen.
Mit al Raschids war aus München ein siebzehnjähriges Mädchen gekommen, zäh, genial, unbedenklich. Da sie in der kleinen Kolonie das einzige hübsche Mädel war, so waren Gäste wie Einheimische, der Arzt, der Notar, der Wirt, der Krämer, alle in sie vernarrt. Und da sie ein wildes Albenwesen war, so hatte sie ihren Spaß daran, aller Köpfe zu verdrehen und allerwege Verwirrung zu stiften, weswegen ich sie »das Familienunglück« benannte. Mit ihrem zottigen gelben Hündlein Lotte, auf das sich so viele Reime machen ließen, stolzierte sie als die bayrische Artemis in den Bergen und wenn sie nicht grade ihren Pflichten nachging, al Raschids System abzuschreiben oder Helene Böhlaus »Halbtier« auf Druckfehler nachzuprüfen, so lernte sie bei mir Latein und da sie unheimlich gescheit und herrischen Willens war, so hatte sie alsbald unsre Techniken abgeguckt und schon übertroffen.
Überall wo ein kleiner Kreis überfeinerter Wesen nur auf sich selber angewiesen ist, da entstehn leicht kleine Empfindlichkeiten und Reibereien. Es fehlt die notwendige Ablenkung der Gefühle. Man ist einander zu nah, zu sehr an einander gehaftet und nimmt seine und der andern Launen und Stimmungen zu pathetisch. Und so entsteht bei dem einen der Wahn, er werde zurückgesetzt, beim zweiten Eifersucht und Groll, beim dritten Wehmut und die Sucht, sich minderwertig zu fühlen. Die kleinen Erlebnisse des Alltags schwingen zu tief und zu stark. Nachdem wir drei Monate in der Einsamkeit bei einander hockten, steckten wir alle in so überreizten Seelenzuständen, daß Sturm und Gewitter drohten. Paula aber schien nur eine einzige Liebe zu fühlen: den Meister und sein Werk. Sie hatte sich so tief in al Raschids Gedanken hineingekniet, daß sie ihm unentbehrlich geworden war. Für das unbeteiligte Auge aber wurde es schon sichtbar, daß wieder einmal drei hochgesinnte Seelen in jenes tragische Dreieck stürzten das unlöslich ist, wenn alle drei Menschen einander ehren und keine dem andern wehe zu tun vermag. Weder konnte al Raschid noch allein arbeiten ohne die Mithilfe seiner einzigen, ganz in seiner Sache aufgehenden Jüngerin. Noch vermochte Helene Bühlau, die viel zu tief in die eigene Schöpferwelt versponnen war, um völlig in der buddhistischen Philosophie ihres Gatten aufgehn zu können, diesem die junge, ihm allein zugehörige Seele zu mißgönnen. Paula aber, die jüngste und zäheste, tat ja nur das selbe, was vor Jahren auch Helene Bühlau einer anderen angetan hatte. Wie sollte das enden?
In mancherlei unklare verworrene Gefühle verstrickt machte ich mich schließlich frei durch die Flucht. Der Tod meines Wirtes, des alten Faltingoier und die Heirat meiner Schwester brachten die willkommene Gelegenheit abzureisen. Meine geliebte Schwester heiratete den Fabrikanten Eduard Leffmann in Aachen; die beiden sind mir lebenslang Hafen und Zuflucht gewesen. Zu Anfang des Jahres 1898 befand ich mich wieder bei der alten Rauh in München. Bald danach kam auch Helene Böhlau nach München zurück, al Raschid aber fuhr mit Paula nach Zürich, wo sie Sprachstudien für sein Werk begannen. Damit war eine Lage eingetreten, in welcher die beiden Frauen zu Nebenbuhlerinnen um den Mann werden mußten. Man soll für Freunde, soll auch für Kinder und Enkel nie Schicksal spielen. Doppelt unerlaubt aber wäre mir jede Einmischung erschienen gegenüber al Raschid, der mir Briefe schrieb auf Bögen, denen aufgedruckt war der wunderliche Spruch: »Tu nichts Gutes, kommt nichts Schlimmes.« Aber das Schicksal hatte einen Knoten geschürzt, den keiner der drei Freunde mehr auflösen konnte, weil jeder von ihnen mehr an die zwei anderen als an sich selber dachte, jeder mehr geneigt war, sich selbst zum Opfer anzubieten, als den andern ein Opfer aufzuerlegen und weil jeder der drei das Bewußtsein einer Schuld trug gegenüber den andern. So reifte in mir der Vorsatz, Paula als die jüngste und stärkste müsse losgelöst und selbständig gemacht werden, wobei ich auf die Hochherzigkeit ihrer Natur und auf ihre Jugend baute. Zunächst mußten Geldmittel gesichert sein, um Paula ein selbständiges Studium zu ermöglichen. Mehrere Freunde trugen dazu bei. Sodann reiste ich nach Zürich mit dem Vorsatz, al Raschid, der bis zur Lähmung aller Entschlußfähigkeit litt und sich sorgte, nach München zurückzubegleiten und Paula zu endgültiger Trennung zu veranlassen. Über die Beweggründe dieser selbstgewählten Sendung, den Schicksalsgott für meine Freunde zu machen, vermochte ich damals, vermöchte ich auch heute mir keine Rechenschaft zu geben. Die Hoffnung, Paula für mich selber zu gewinnen, die vielleicht doch im untersten Unbewußten mitwirkte, hätte ich nie mir selber zugegeben; das Wesentlichste aber war: Ich fühlte die Notwendigkeit eines Wendepunktes, spürte die Gefahr der Selbstauflösung, in zwecklosem Träumen und passivem Dahinvegetieren und ewigem Beschäftigen mit dem eigenen Ich. Mich verlangte nach Aufgabe und Tat. Jetzt hieß es »Landgraf werde hart« und »Das Ganze sammeln«. Denn wo war mein Ziel? Wo mein Lebensinhalt? Wofür lebte ich eigentlich? So wurde in mir die folgende Vorstellung herrschend und bezwingend: »Wie vor sieben Jahren tritt noch einmal an das Grab deines Lehrers Johannes Scherr. Halte Gerichtstag über dich selbst. Revidiere die Lebensvorsätze, die du damals beschworen hast und beginne neu.« Und grade zu dem Zeitpunkt, wo ich diese ganz persönliche Wende plante, kam durch die Konflikte des Freundes al Raschid der Zwang, nun wirklich nach Zürich reisen zu müssen. Von dieser Fahrt versprach ich mir die Wandlung.
Am Morgen der Abreise, am 10. Februar 1898, kam ein Brief, der für mein Leben entscheidend wurde. Er kam aus Berlin und war unterschrieben: Maria. Eine Unbekannte schrieb aus Anlaß des vor kurzem erschienenen Buches »Weiber«. Sie schrieb, um ihren Unwillen und ihre Besorgnis zu bezeigen, daß ein Mann, den sie aus seinen Schriften zu kennen geglaubt habe und für den sie schrankenloses Vertrauen gehegt hatte, nun einen ihr unbegreiflichen unerwarteten Weg einschlug. Nach dem strengen Inhalt und der lapidaren Handschrift zu schließen, kam der Brief von einer charaktervollen aber großzügigen und warmherzigen aristokratischen Dame, welche ihrer Enttäuschung Ausdruck geben wollte an den Eskapaden eines jungen Dichters, auf den sie Hoffnungen gesetzt und dessen Werk ihr imponiert hatte. Der Brief traf mich ins Mark. Zunächst deswegen, weil er mir zum ersten Male bewußt machte, daß ich gar nicht so verlassen war wie ich glaubte, daß es unbekannte Freunde gab, die sich um meinen Weg kümmerten, denen meine Bücher etwas bedeuteten und deren Glauben und Vertrauen ich verpflichtet sei, weil sie in mir einen Führer und Lehrer in den Wirren des Lebens und der Zeit sahen. Aber noch wichtiger war, daß die leise Anklage dieses vornehmen Briefes die Sprache meines eigenen Gewissens redete, welches mich gerade jetzt aufgerufen hatte zu einer Neuordnung des Lebens. Und so geschah es, daß ich in Zürich, vom Grabe Scherrs kommend, eine lange Antwort schrieb, eine Antwort, die halb meine Selbstzerrüttung offenbarend, halb schon das neue Zusammenraffen und Erheben verheißend, nichts anderes war als eine Gesamt-Lebensbeichte, welche alles Suchen und Sehnen, Hoffen und Enttäuschtwerden des bis dahin durchlaufenen Weges offenbar machte, aber zum Schlüsse die Unbekannte darum bat, daß sie, als die starkgeistige Warnerin, trotz aller Irrtümer und Umwege, den Glauben an ihren Dichter nicht verlieren und fortan mit ihrer Kameradschaft ihm helfen möge, einen heldischeren Weg zu finden.
Nach dem herzzerreißenden Abschied al Raschids von Paula reisten wir über den Bodensee. Al Raschid war so schwer erkrankt, daß wir einige Tage in einem altertümlichen Gasthaus in Lindau verweilen mußten; dann erst konnten wir nach München weiterfahren.
Das Lebensschiff der Freunde fuhr fortan wieder im klaren frischen Strom. Al Raschid und Helene Böhlau lebten ihr reiches starkes Leben in Schwabing, und Paula wurde die Lebensgefährtin Martin Bubers; unter dem Namen Georg Münk hat sie mehrere schöne Bücher geschrieben. Mein eigener Weg aber erfuhr die jäheste Wende just damals, als er zu einiger Sicherheit gelangt zu sein schien.
Bei der Rückkehr aus der Schweiz fand ich in München die Antwort der Unbekannten. Sie erwiderte Offenheit mit Offenheit, indem auch sie ihre Lebensbeichte dem neuen Freunde übermittelte. Dem Schreiben lag ihr Bildnis bei, das Bild eines jünglinghaften, noch nicht zwanzigjährigen, erstaunlich schönen Mädchens aus einer dem alten Kaiserhaus verwandten Adelssippe. Es war begreiflich, daß ein solches Begegnis in die Phantasie eines einsamen jungen Menschen einschlagen mußte. Unter Marias Gestalt trat zum erstenmal die Liebe und das will sagen der Tod in meinen Weg und sprach: »Alles bis hierher Erfahrene war nur ein mißlungener Versuch; jetzt erst kommt das Leben und fordert: Stirb und Werde.«
Hier aber ende die Geschichte einer Jugend.
Sie ist das erste Stück einer Trilogie, deren zweites handeln muß von Himmel und Hölle, Hingabe und Verrat, Heroismus und Irrsinn, bis dann endlich mit dem letzten Stück, am Grabe Miriams, unsres Kindes, eine Seele in mein Leben kam, der ich Klärung und Frieden danke.
Dieser Jugend Geschichte war Geschichte einer Freundschaft. Des Mannes Geschichte wurde die einer Liebe. Und der Rest: Bau des Grabsteins für Miriam, mein Kind.
Freundschaft kam in mein Leben im Bilde von Ludwig Klages. Liebe im Bilde Marias. Ihnen blieb ich verbunden, so unüberbrückbar auch der Abgrund wurde, der zwischen uns zeitverhafteten Menschen sich auf tat.
Was Ludwig Klages betrifft, so bin ich zweifellos der einzige Zeitgenosse gewesen, der von früh an, wollend oder nichtwollend, ihm geschwistert blieb, wirklich und ehrlich mit ihm gerungen hat und seine Sendung gesehn hat, und somit der einzige zeitgenössische Kritiker seines überzeitlichen Werkes geworden ist.
Aber der Faden, der die Personen verknüpfte, ist zerrissen in dem Zeitpunkt, wo die wahre Wirklichkeit, Liebe und Tod, alle Wirklichkeit der Gedanken und Wahrheit der Bücher elementarisch über den Haufen spülte, wo der Freund für das Werk, ich für das Leben entschied (denn alles was ich leistete war nur Lebensspur), wo der Freund sich errettete in seine Klause und Doktrin des Flammenrausches, indes ich den Sprung in die Flamme machte, die mich zu Asche brannte.
Wenn ich den Zeitraum 1898 bis 1912, vom ersten Auftauchen Marias bis zum Versinken ihres Zauberbilds im Grabe Miriams, heute vom Hafen aus überschaue, einen Zeitraum gräßlicher Not und ahasverischen Irrens, so ist es mir, als ob um einer dunklen Schuld willen, die mit meiner Geburt selber begonnen hatte, die schwer zu versöhnende Erinnys sich an meine Schritte heftete und dafür sorgte, daß immer, wenn ich je bodenständig und froh zu werden glaubte, ein Sturz in den Abgrund erfolgte, bis das letzte Opfer, das Kind, sie versöhnte; gleichwie meine Vorväter nie ein Haus bauten, ohne ein Stück fragmentarisch zu belassen zur Mahnung, »daß wir nirgend in der Welt in der Heimat sind und nur Knechte waren im Lande Mizraim«.
Die Jahre wandeln vorüber. Zunächst im täglichen Austausch zweier wahlverwandter Seelen, die in einander wuchsen. Hingabe und heldische Größe auf Seiten der Frau. Beschämender Kleinmut, zagendes Mißtrauen auf Seiten des weitsichtigeren Mannes. Bis sie den Mut fand zu bitten: »Gib mir dein Kind.« Das aber geschah – o Finger der Erinnys – zur selben Frist, wo der Großvater, auf dessen Versprechungen ich mein Leben aufgebaut hatte, starb und sein Testament offenbar machte, daß er keines seiner Versprechen gehalten hatte, so daß ich den Sturz in die Armut erfuhr im gleichen Augenblick, wo ich mein Los band an die verwöhnte Aristokratin. Und von nun ab: Mittelpunkt des ganzen ferneren Lebensweges: der tägliche Kampf um das tägliche Brot.
Harte Jahre, fleißige Jahre. Nachholen vernachlässigter Studien und Examina, aber da es zu glücken schien und wir aufatmeten, wieder der Schwertstreich der Erinnys: die Sippe mischt sich ein. Das selbstherrliche Mädchen wird ausgestoßen, aufs Pflaster geworfen, enterbt; jede Kränkung und Beleidigung muß hingenommen werden. Schlimm die äußere Not, aber schlimmer, weil unverzeihlich dem eigenen Gewissen: der wankende Mut, der versagende Glaube. Dann folgen schöne Jahre, unser tiefes Glück, unsre schmale Not. Gemeinsame Arbeit, gemeinsames Ziel. Geburt Judiths 1901. Geburt Miriams 1902. Die Erinnys schwieg. Und ich wurde, unverzeihlicher als jede Schuld des Zweifels, ein ruhiger Bürger. Niemals aber darf der Mann vergessen, daß Freundschaft und Liebe, Begeisterung wie Rausch keine Dauerware sind, daß die Freundschaft an jedem Tage neu verdient, daß die Liebe zu jeder Stunde neu erworben werden muß, daß jede Gemeinschaft der Seelen auch ein Ringen der Seelen ist für einander, um einander, gegen einander, daß verflucht ist jede Stunde, die nicht Harnisch trägt, unfruchtbar jeder Tag, der nicht Wunden hinterläßt, oder der Mensch muß verkommen in dem eklen Behagen seiner verächtlichen Pferche, genannt Pflicht und Familie, Ehe und Staat.
Als dank der Gönnerschaft meines letzten Lehrers Theodor Lipps helfende Stipendien, dank der Freundschaft mit Hermann Lietz gesicherte Unterkunft als Lehrer an den neuen deutschen Landerziehungsheimen mir geboten ward, da endlich glaubte ich nun angelangt zu sein in einer behütenden Herberge.
Aber just da schlug jäh die Erinnys ihren schrecklichsten Schwertschlag und jäh erwachend fand ich mich in einer Räuberhöhle und meine Nächsten umgewandelt in Menschen, die den Ahnungslosen auf einen Turm geführt hatten, damit er um so tiefer aufs Pflaster stürze.
»Drei Menschen, auf eine Klippe geraten, gehn dem Hungertode entgegen. Da bietet sich der Älteste unter ihnen den andern zur Nahrung an. Sie amputieren ihm die Arme. Dadurch erhalten sie sich einige Tage, nach deren Verlauf sie von einem Schiffe bemerkt und gerettet werden. Nun stelle man sich vor, daß alle drei am Leben blieben und frage, in welches Gefühlsverhältnis wohl der Krüppel, welcher sich opferte, nun zu den beiden andern geraten sein mag, die durch Annahme eines Opfers, das Liebe bringen muß aber nie verzeihn kann, an ihm zu Henkern wurden.« »Schopenhauer, Wagner, Nietzsche« (München 1900), Seite 474.
Jahre des Wahnsinns. Jahre der Verlassenheit. Wie habe ich sie durchdauert?
Ich war Zweierlei in einem: Jener Douglas, der seinen König so tief liebt, daß er lieber in der Heimat als Stallknecht dienen möchte, als in der Fremde aus goldener Schüssel schmausen; jener Ritter Delorgues, der in den Löwenkäfig stieg, um den Handschuh der Geliebten zu holen, weil er nur so vor ihr bestehen konnte, dann aber, um vor sich selber zu bestehn, nie wieder ihr verzeihn, nie wieder zu Weib und Kindern zurückkehren durfte, mochten sie Liebe winken, so viel sie mögen. Und doch hätte der Delorgues wie der Douglas lebenslang festgehalten an der einen nie erstorbenen Liebe, wenn nicht der äußerste Schmerz, der äußerste Schlag der Erinnys auch die Liebe mitgerissen hätte in das kleine Kindergrab, das zu hüten Sinn des Lebensrestes wurde.
Die Jahre wandeln vorüber. Der schwere Stein der Ewigkeit senkt sich auf unser Vergessen, Schnee bedeckt alles und Liebe und Haß sind gleich wert geworden.
Vielleicht war in unserm Gegenspiel auch eine Liebe, vielleicht auch in unserm Leiden schon ein Haß. Wir werden den ewigen Prozeß nie entscheiden und dauern wird er, so lange noch auf der Erde Menschen hassen und lieben. Warum nur, warum haben wir auf dieser freudearmen Erde einander nicht die Treue gehalten?