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4. Meine Mutter

Sie kann ich nicht aus der Schattenwelt zurückrufen als ein fest geprägtes zu Person geronnenes Bild, sondern sie atmet und webt nur fort in den Wolken und in den Flüssen, im Blühen der Pflanzen und in den Krumen der Erde, denn im Gegensatz zum Vater war in ihr nichts von wollender Persönlichkeit. Es blieb kein geistiger Gehalt und keine gemeißelte Form. Wie sah sie aus? Ihrer Gestalt fehlte das feste Knochengerüst. Sie neigte weniger zum Animalischen als zum Pflanzenhaften. Zu Bindegewebe, Wasser und Fett. Sie hatte verlegene Bewegungen und eine unsichere, bescheidene Haltung. Breite Nase, großen, etwas schiefen Mund und schlechten Rücken. Weich, verquollen, ohne Halt und Haltung. Es war, wie wenn ein Kaninchen, ein Häschen zusammengesackt dasitzt. Und so war auch ihre Seele auf das Weiche und Duldende angelegt. Sie war nicht schön. Aber ihre Augen waren tief und schön. Diese großen, braunen, harmlosen und rührenden Augen beherrschten ihr gutes, gutmütiges Antlitz.

»Du sollst nicht gerecht sein wollen gegen sie, denn wohin käme auch der Beste angesichts der Gerechtigkeit. Nein! Sprich von ihr wie sie war in der Stunde, wo du sie am tiefsten liebtest.« Wann aber ist diese Stunde gewesen? Ich habe, so lange ich zurückdenke, an meinen Eltern gelitten. Erst der Tod hat mir das Bild dieser Eltern verklärt und lieber gemacht, je tiefer sie in die Ferne der Vorzeit schwanden. Aber da meine Mutter mehr als dreißig Jahre länger als mein Vater gelebt hat, so hat auch ihre Unzulänglichkeit und Schwäche länger auf mir gelastet, und es liegt die Gefahr nahe, daß einige Bitterkeit meine Aufzeichnungen verfälscht.

So will ich mir denn immer wieder vorhalten, daß jede Anklage doch nur zurückfällt auf den Anklagenden. Ich weiß, daß der Vollendete kein Wesen mehr anklagt, als einzig sich selber. Ich weiß, daß alle Fehler meiner Eltern auch in mir selber dauern. Ich weiß auch, daß niemand leben kann, ohne am andern mitschuldig zu werden. Wenn ich das Verlöschen im Tode segne, so geschieht es, weil es mich erlösen wird von einem unabwendbaren Wissen um die Schuld aller an allen.

Trete ich nun mit den alles billigenden Augen des Liebenden vor das Gedächtnis meiner Mutter, dann sehe ich ein rührend wehrloses, ganz harmloses, ganz argloses Wesen, das vermöge seiner Wertlosigkeit, Arglosigkeit und Duldung Schicksale besteht, welche eine selbstbewußtere, stärkere Natur nie hätte überstehen können.

Von ihrem Vater wird sie, einundzwanzig Jahre alt, verheiratet und kommt aus der schwankenden Hand des Vaters in die launenhafte des Gatten. Vom Gatten wird die Schwangere zum Vater zurückgeschickt, vom Vater abermals dem Gatten überantwortet. Damit ist das Wachstum ihrer eigenen Möglichkeiten abgebrochen. Auf sich selber kann sie noch nicht stehn, an Mann und Vater sich nicht mehr lehnen. So vergeht ihr das Leben im künstlichen Halte der Lügen. Immer finden sich freiere und stärkere Freundinnen, denen sie blind ausgeliefert ist. Die erste dieser Freundinnen war Grete Ehrenbaum, meine Pflegemutter. Die letzte Maria, die einst meine Frau war. Eigene Entscheide hat sie nicht gekannt, und wo sie aus der eigenen Person zu handeln sich vorsetzte, da versteifte sie sich auf das Törichte. Als sie nach langer trauriger Ehe, in welcher zwei Wracks nebeneinander lagen, durch den Tod des Mannes frei wurde, da klappte gleichsam noch hinterdrein ein Restchen Selbstbestimmung und Selbstgefühl. Als Ausgleich für den unbewußten Druck lebenslanger Hörigkeit spielte sie nach dem Tode ihres Herrn vor sich selber die starke Frau und wünschte, von andern bestätigt zu hören, daß sie frei sei, vorurteilslos und selbstherrlich. Sie wurde eine Führerin in der deutschen »Frauenbewegung«. Sie empfand sich selber als Monistin, Atheistin, Sozialistin. Sie fiel denen zu, die diese Selbständigkeit ihr glaubten. Es stand nichts dahinter. Nichts, als der Selbstbetrug menschlicher Eitelkeit. Denn in den fünfundzwanzig Jahren ihres Duldertums war sie reiner als in den weiteren dreißig Jahren, wo sie, durch den Tod ihres Vaters abermals zu Geldbesitz gekommen, ihre Geldmacht wie ihre Freiheit beständig mißbrauchte und nichts zuwege brachte als Torheiten. Von ihr Geschenke annehmen zu müssen war qualvoll. Von ihr abhängig sein: furchtbare Tortur. Denn man kann Eisen hämmern, aber Kautschuk läßt sich nicht hämmern; er ist unbesiegbarer als Eisen. Und so war die weichliche Eitelkeit der Mutter zäher und selbstsüchtiger als je die starre Eigenbezüglichkeit des Vaters gewesen war. Es kam ihr einzig darauf an, in ihrer kleinen Umwelt etwas zu gelten und zu scheinen. Die Heroen und Denker kümmerten sie nicht. Hätte man sie auf die Unsterblichkeit verwiesen, sie hätte geantwortet: Was hab ich davon?

Die Lieblingsbücher meiner Mutter waren die Romane von Dickens und ein anonymes englisches Buch »John Halifax, gentleman«, das sie in englischer Sprache, die sie gut beherrschte, immer wieder las. Aber ihre eigentliche Welt war die Welt Adalbert Stifters. Die »Studien« Stifters las sie von ihren Mädchenjahren bis in ihr Greisenalter unzählige Male. Es bestand eine Wahlverwandtschaft ihrer Natur zu diesen Büchern. Alle Hauptseiten ihres Wesens sind in den Geschichten Stifters aufs edelste verklärt, und sie erblickte in diesem verschönernden Spiegel sich selbst mit ihren Tugenden und mit ihren Grenzen. Ein harmloser Lebensglaube, eine gleichmütige Demut vor dem Schicksal, ein romantischer Sinn für zarte Gefühle und kampflose Idyllik, eine breite zeitabgekehrte Ausführlichkeit, ihr Hang zu allem Sinnigen, Poetischen und Lieblichen und zugleich ihr Hang, allen schweren Streitfällen und heldischen Entscheidungskämpfen still aus dem Wege zu gehn. Das alles lebte in Stifters Welt wie in der ihrigen, denn sie war eine Natur ganz ohne Falsch; keine ungemeine Natur, aber eine Natur ohne Gemeinheit. Indessen: es fehlte der feste Faden, um den die schwankenden Eigenschaften sich hätten lagern und anschließen können zum Kristall. Es fehlte das Karat, der gesinnungsfeste Oberbau. Welche Kraft wohl war es, die so viel Demütigung ertragen konnte, so schwere Sklaverei ohne Aufbegehr, ohne den Gedanken an Rache?

Ich fürchte, es war jene Sklavenseele, die zufrieden ist, wenn man ihre Ketten fleißig vergoldet. Ich fürchte, es war jene Eitelkeit, die genügend Selbstachtung darin findet, daß man von andern hochgeachtet wird. Sie war ja immer eine Dame der besten, zahlungsfähigsten Gesellschaft. Sie war immer anständig gekleidet und hatte immer gut zu essen. Sie brauchte niemals ernstlich zu arbeiten. Sie litt niemals ernstlich Not. Und das waren ihre Hauptsachen.

Gab es Tränen, so wurde reichlicher gekocht. Wenn Tragödien am Himmel standen, so duckte sie sich wie der Vogel während des Gewitters und flog wieder auf, wenn der Schauer vorüberging. Wohl nahm sie in ihren besten Stunden Anläufe zu höherem Flug. Aber das dauerte nicht lange. Trägheit und Behagen waren zu mächtig. Es war der Erfolg, die Macht und das Geld, was beide Eltern herzensträge machte. Es war das Geld, die Macht und der Erfolg, darum sie warben, dahin sie wollten, und was ihnen das im Menschenleben Entscheidende war. Darin unterschied sich mein Elternhaus in nichts von Millionen andern Häusern des Zeitalters. Ich habe nichts so verachten gelernt wie den Erfolg, das Geld und die Macht. Jede Macht ist böse, auch meine Macht. Jeder Erfolg verdummt, auch mein Erfolg. Menschen gibt es nur unter Besitzlosen. Besitzende sind Tiere!

Sie war nicht gut und sie war nicht böse. Und man kann auch nicht sagen, daß sie, wie die Mehrzahl der Menschen, sowohl das Eine war als auch das Andere. Nein, sie war wirklich weder das Eine noch auch das Andere. Sie hatte alle Eigenschaften und keine. Denn sie war nichts als das Gefäß, dahinein wechselnde Stunden wechselnde Inhalte schütten. Nichts als das Sprachrohr, durch welches ein Irgendetwas redet, das stärker ist als sie selber. Denn ihre Bestätigung empfing sie immer von Etwas, das außerhalb ihrer selber lag, aber zu dessen Träger sie sich machte, wobei sie Opferkraft und Hingabe bewies, aber immer nur bis zur äußersten Grenze eines trägen Dämmerlebens.

 

Am 8. Februar 1872 wurde ich geboren in dem Hause Ecke Andreas- und Georgstraße, welches damals die Nummer dreißig trug und einem Fabrikanten namens Bahlsen gehörte. Wenn ich recht berichtet bin, erfolgte die Geburt gegen zehn Uhr morgens, nachdem meine Mutter am Abend zuvor im Hoftheater Shakespeares Drama »Richard II« besucht hatte. Als die Wehen begannen, schickte mein Vater zu seinem bittersten Gegner, einem alten Chirurgen namens Dommes und bat diesen, die Entbindung der Frau zu übernehmen, ein berechnender Trick, durch den er seinen Gegner sich zum Freunde machte, was zur Folge hatte, daß ich einige Jahre später nach dem Tode dieses alten Arztes mit dessen Instrumentarium mein ärztliches Studium bestritten habe; dessen Praxis ging auf meinen Vater über.

Meine Mutter war während des Jahres der Schwangerschaft zum Schatten abgemagert. Mit ihrer Rückkehr zum Gatten begann ein Gift- und Würgekrieg, der sechsundzwanzig Jahre dauerte. Ich war ein kaum lebensfähiges Kind von zweiundeinhalb Pfund Gewicht, mit blauen, wie man anfangs fürchtete, blinden Augen, verschrumpft und winzig. Daß ich am Leben blieb war um so erstaunlicher, als ich in den ersten Monaten eine Alkoholvergiftung erlitt, denn die Mutter hatte keine Milch und die hinzugezogene Amme, eine Ungarin, war, was zu spät sich herausstellte, Trinkerin. Erst als nach drei Monaten die Amme gewechselt wurde, begann ich mich zu erholen, ich weiß nicht ob zur Freude des Vaters, der mich vom ersten Tage an mit unfrohen Gefühlen betrachtete, weil er in mir durchaus das Abbild der Mutter und der ihm verhaßten Familie Ahrweiler sah.

Die neuere Seelenkunde hat viel Licht getragen in die Vorgänge der frühesten Kindheitstage. Wir wissen, daß alle Gefühle der Kindheit, welche später in die Weite ausströmen, insbesondere die frühesten Liebesregungen, sich zunächst an die kleine Nestwelt des Hauses heften. Wenn dem so ist, dann ist jedenfalls sehr früh in meine Welt der Riß gekommen. Zwar kann ich mich nicht erinnern, ob ich als kleines Kind mich mit der Mutter eng verbunden fühlte, aber genau weiß ich, daß ich, sobald ich anfing bewußt zu werden (und da ich frühe litt, so ward ich auch frühe bewußt), schon meine Loslösung zu wirken begann, eine seelische nicht minder wie eine körperliche Loslösung von beiden Eltern, welche gegenüber der Mutter sich auch als leiblicher Widerwille, ja als starker Ekel kundgab, gegenüber dem Vater aber vorwiegend ein Grauen war, Entsetzen und blasse Furcht. Der Austausch von Zärtlichkeiten war mir von Seiten beider Eltern stets zuwider. Küsse, Streicheln, selbst freundliche Worte waren mir stets eine Pein. Ich begann früh mich zu verkriechen. Ich suchte immer nach Ecken, wo ich keinen zu sehn, keinen zu hören brauchte. Die Zerklüftung, die dies abnorme Wachstum in mir zuwege brachte, war so stark, daß es mir heute scheint, als sei mein Leben auf eine einzige Aufgabe draufgegangen, einzig allein auf die Aufgabe, diesen Abgrund zu durchlichten und Herr zu werden und Meister der in mir selber liegenden Schwierigkeit. Denn schon die früheren nachsinnlichen Aufzeichnungen, die ich bewahre, aus dem sechzehnten und siebzehnten Lebensjahre, drehen sich immer um eine und dieselbe Not: »Kann eine Pflanze den Boden verleugnen, daraus sie wuchs? Bin ich nicht selber just die Frucht der Menschen und Umstände, die ich hasse und zerstören möchte? Bin ich nicht belastet, minderwertig, mißraten, verpfuscht? Wäre es nicht das Beste, alle und alles in die Luft zu sprengen? Ist es nicht das einzig Folgerichtige, dich selbst in die Luft zu sprengen?« – Die Liebe zum Tod war in mir, ehe ich die Liebe zum Leben erlernte. Immer bedroht und rundum verneint, ohne Panzer und Waffen, drückte ich, statt meine Stacheln nach Außen zu kehren, alle Dornen in die eigene Brust, immer mich selbst zerfleischend und untergrabend. Das Wertvolle freilich, was ich damit gewann, war eine tiefere Kenntnis der Menschen als diese meist von sich selber haben. Ich wurde sehr früh menschenwissend. Doch wäre es verkehrt zu glauben, daß ich ein frühreifes Kind war oder über mein Alter hinaus begabt, weise oder genial. Mein Entwicklungslauf verlief im Gegenteil sehr langsam und gleichsam in Schlangenlinien. Da ich aber jede einzelne Stufe viel zäher und mit größerer Leidenschaft verteidigte, als andere normale Kinder das tun, so konnte der Trug des frühen Fertig- und Reifseins entstehen und selbst die besten Menschenkenner hinwegtäuschen über die Vorläufigkeit jeder meiner Stufen.


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