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Der Brief des Schulmannes, der mich aus dem Reiche der »geistigen Betätigung« hinauswies für »lebenslänglich«, kam zu einem Zeitpunkt, wo allzu viele geistige Mächte mich bedrängten: religiöse, metaphysische, sittliche und erotische, mit denen ich führerlos, in Redlichkeit fertig zu werden bemüht war. Das aufgewühlte Gemüt flüchtete zu den Musen und Grazien, aber mein Vater war nun entschlossen, »Dem Burschen müssen die brotlosen Künste abgewöhnt werden«. Und wenn ich mich heute in seine Lage versetze, so muß ich wohl zugeben, daß er nicht anders handeln konnte, denn er hatte jahrelang vergeblich Geduld geübt und hielt mich für einen undankbaren Flegel, den unverantwortliche Berater wirr und rappelig gemacht hätten. Die ewige Himmelei Gretes, so meinte er, sei mir zu Kopf gestiegen, der Verkehr mit Meding und Sontag habe mich von den Schulpflichten abgelenkt; meine Lesewut habe mich der »Wirklichkeit« entfremdet und in tausend Gesprächen mit dem »Busenfreund« hätten wir einander »Graupen in den Kopf gesetzt«. Jetzt aber solle strenge Zucht »Remedur schaffen« und »ein Exempel statuieren«. Am entscheidendsten aber erschien ihm ein Umstand, der wohl wirklich beachtenswert war.
Um die gleiche Zeit nämlich, wo der Schulkrach erfolgte, hatte mein Großvater in Düsseldorf einen harten Schlag erlitten, durch einen Streich seines Sohnes. Otto, der Sohn, hatte schon immer davon geschwärmt, daß er Kunstmaler werden und seine Geliebte heiraten wolle, ein reizendes, schwedisches Mädchen, namens Luise Stierna, die am Kölner Schauspielhause das Rollenfach der Naivsentimentalen spielte. Klüglich aber war Otto im Bankhause verblieben, bis sein Vater ihn zum Teilhaber der Firma gemacht hatte. Da aber hatte er in Abwesenheit des Alten alles flüssige Vermögen in zwei Teile geteilt und den einen Teil auf sein Privatkonto nach Paris überweisen lassen. Von dort schrieb er dem Vater, daß er nunmehr aus der Firma ausscheide, Kunstmaler geworden sei und »Lulling« geheiratet habe, mit der er sich künftig die schöne weite Welt ansehn werde.
Der alte Ahrweiler war niedergeschmettert. Um die gleiche Zeit aber erhielt er die Nachricht von meinem Schulelend. Und nun reifte in dem einsam gewordenen Manne ein freundlicher Gedanke. Er wollte seinen einzigen Enkel zu sich nehmen und zum Erben seiner Firma machen. Zum ersten Male nach langen Jahren der Verfeindung reiste er wieder zur Tochter. Er schlug meinen Eltern vor, man möge mich das Bankgeschäft lernen lassen. Und sobald ich unter der Leitung des alterfahrenen Prokuristen leidlich die Geschäfte fortführen könne, werde er selber sich zur Ruhe setzen.
Es war natürlich, daß all meine Angehörigen und sogar die Pflegemutter Grete diese Wandlung für eine schöne Fügung des Himmels hielten. Personen, deren Urteil mein Vater aufs höchste schätzte und denen das meine nicht gewachsen war, der Onkel Gans, der alte Blumenthal, die alten Bankiers Bleichröder und Ephraim Meyer redeten auf den Knaben ein: »Wenigen Jünglingen ist je ein so glückliches Los zuteil geworden. Du kommst in ein ›gemachtes Bett‹. Du kannst nach einigen Jahren des Lernens ein großes Vermögen ernten und dich dann ganz deinen Idealen überlassen.« Aber je mehr man mir den Entscheid annehmbar machte, um so tiefer versank ich in Trotz und Schwermut. Viel Verworrenes ward in mir aufgewühlt. Der durch Grete gepflanzte Glaube, daß ich ein »Dichter« sei. Der Wahn von Klages, daß der Germane ein »Idealist«, der Jude dagegen nur ein »Materialist« sei. Ein unklarer Heroismus, ja ein Märtyrerhochmut. Ich glaubte an den Scheideweg gestellt zu sein und wählen zu müssen zwischen Heldentum und Glück. Auf der einen Seite rief nach mir »die Einsamkeit der Heroen«, auf der andern lockte die »Eitelkeit der Welt«. Ich wußte nicht, was ich wollte, aber ich wollte das Höchste. Es war sicherlich ein irrendes Heldentum, aber meine Qual war echt. Kein Knabe hat wohl je reineren Herzens geirrt.
Einer der reichsten Bankiers der Stadt, Moritz Simon, mit Vater und Großvater befreundet, übernahm es, mich für die Übersiedlung ins Düsseldorfer Bankhaus vorzubereiten. Und wenn ich nur ein Mindestmaß an gutem Willen mitgebracht hätte, so hätte ich mir keinen verständnisvolleren Lehrherrn wünschen können, als den weisen, wohlwollenden Herrn Simon. Er war Junggeselle und verwendete sein Vermögen auf ein schönes Ziel. Er wollte die Juden vom »Schacher« erlösen und zu produktiver, körperlicher Arbeit umerziehn. Zu diesem Behuf hatte er in Ahlem bei Hannover die erste jüdische Landwirtschaftsschule gegründet. In ihr wurden auf seine Kosten hundert jüdische Knaben aus ganz Europa zur Landarbeit und Gartenbau erzogen; sie stellten die ersten Kolonisten für Palästina.
Im Bankhaus »Alexander M. Simon«, in der Schillerstraße, sollte ich also die Lehrzeit durchmachen. Ich stand in dem mit Stehpulten und Drehstühlen angefüllten Kassaraum, in welchem am hellen Tage drei Gaskandelaber brannten und ordnete Papiere: »Hie Mäntel, hie Briefe«. Ich war schwermütig und recht unausstehlich. Der Prokurist, Herr Goldschmidt, schlank und eitel, machte Hantelübungen und erzählte Witze. Der erste Kommis, Herr Isenstein, ein tüchtiger munterer Zwerg, begriff nicht, daß Obligationen mir so gleichgültig seien wie Aktien, und Aktien so gleichgültig wie Obligationen. Er versuchte es mit Güte. Er versuchte es mit Strenge. Schon am ersten Tage gab es Kopfschütteln, als der Chef unter dem mir zum Ordnen übergebenen Haufen von Kreditpfandbriefen ein Goldschnittbändchen hervorzog: »Sinnen und Minnen. Gedichte von Robert Hamerling«. Die Bankangestellten hielten mich für geistesgestört. Wenn aber Herr Isenstein besonders »nett« sein wollte, dann sagte er: »Pillendreher« (ich hieß im Geschäft Pillendreher; der Himmel weiß warum), »wenn du dich machst, dann nehme ich dich mit auf die Börse.« Das versprach er, so wie man einem Kinde verspricht, es solle in den großen Barnum-Zirkus mitgenommen werden. Aber die Börse ekelte mich. Ich hielt es für die höchste sittliche Pflicht, allen »Verlockungen des Mammonismus« meine bewährte Unausstehlichkeit entgegenzusetzen. Nicht mal für Briefmarkenkleben war ich zu gebrauchen. Wenn ich auf die Post geschickt wurde, so kam ich nicht wieder. Wenn aber der Konsul (so nannten wir Moritz Simon) väterlich mich ins Gebet nahm und aus mir herausfragte, was ich denn wohl von der Zukunft erwarte, dann kam nach langem Drucksen schließlich das Wort: »Dichter«.
Moritz Simon war ein vernünftiger Mann. Er sagte zu meinem Vater: »Der Junge ist krank. Gib ihn auf meine Gartenbauschule. Vielleicht hat er Liebe für die Gärtnerei. Ist er aber auch dazu unbrauchbar, so wird er wenigstens körperlich ertüchtigt.«
Mein Vater grollte und polterte. Erbte ich das großväterliche Bankhaus, so waren wir gerettet. Blieb ich verstockt, dann war vorauszusehn, daß wir alle mittellos vorm Leben kapitulieren müßten. Vorerst aber steckte man mich nach Ahlem. Der Direktor, Herr Silberberg, übte keinen Zwang aus. Er betrachtete mich als einen hübschen »pathologischen Fall« und wollte beobachten, was ich nun unternehmen werde. Aber ich unternahm gar nichts. Ich drückte mich von jeder Arbeit. Ich aß und schlief, sprach mit niemandem ein Wort, guckte nie in die Warmhäuser, kümmerte mich nicht um Traktor und Lokomobile, warf keinen Blick auch nicht auf die denkwürdigsten Versuche mit Tomaten, Artischocken und Mais. Aber stundenlang lag ich unterm Apfelbaum und döste. Von Zeit zu Zeit zückte ich ein Notizbuch. Aber selbst wenn Herr Silberberg meine Ergüsse heimlich gelesen haben sollte, so wird er dadurch nicht klüger geworden sein, denn es waren dunkle, verzwickte Gedanken. Lebendig wurde ich nur, wenn von Dichtern gesprochen wurde. Aber auch den Dichtern gegenüber blieb ich unduldsam, unausstehlich. »Goethe? Nun ja. Großer Mann. Aber Fürstenknecht.« »Heine? Nun ja. Amüsant. Aber Bajazzo.« – Die Lehrer sagten: »Der junge Mensch ist rappelig.« Die Schüler: »Vollkommen überkandidelt.« Die Wahrheit war: Ich war zu tief in mich selbst verstoßen; war noch unsicher, unklar und sollte alles aus mir selber nehmen. Unbeugsam war ich nur in dem einen Vorsatz, daß ich mich eher totschlagen lassen würde, als die Million des Großvaters entgegennehmen.
Viele hundert Verse bewahren die fanatisch überspannte Gemütslage jener Tage:
»Wer jene heilge Glut vermag zu wahren,
Die nie uns zagen, uns nie altern läßt,
Hat, wenn auch unverstanden Leid ihn preßt
Das Köstlichste vom Dasein doch erfahren.
Er wird, im Höchsten unbeirrbar fest
Keusch wie ein Kind noch sein in Silberhaaren,
Er hält den Schmutz, den rings um ihn sie scharen,
Nicht wert, daß er der Sohle Saum ihm näßt.
Er läßt die Lumpe schmähn, ein heilger Seher
Er weiß: Sein Ahnen muß die Welt erfüllen,
Denn ihrem Geiste steht der seine näher.
Mag Dummheit siegen, Wahnsinn ihn umbrüllen,
Mag er als Menschheitsopfer auch verröcheln,
Er wird nur lächeln, mitleidinnig lächeln.«
Weder das Gymnasium, noch das Bankgeschäft, noch die Landwirtschaft konnten einen solchen »Idealismus« verdaun.
Zu Hause tobte Verzweiflung. Vergebens fragte mein Vater: »Was in aller Welt soll aus dir werden?« Ich antwortete auf solche Frage, wie Karl Moor einem nichtswürdigen Tyrannen geantwortet hätte.
Es gab abscheuliche Szenen, in denen wir uns bedrohten. Es kam vor, daß wir gegeneinander tobten, bis beide in Tränen ausbrachen. Oder ich warf, wie in Krämpfen mich auf den Boden, schrie und drohte, alles kurz und klein zu schlagen.
Als kein Ausweg mehr zu sehen war, wurde die hundertmal verfluchte Tante Grete doch wieder nach Hannover gerufen. Sie kam und tat das zunächst Vernünftigste. Sie sorgte dafür, daß Vater und Sohn einander möglichst wenig zu Gesicht bekamen. Ich wurde mal wieder für einige Zeit auf den Wohldenberg entlassen, indes besuchte Grete meine Lehrer und mühte sich, daß man mich doch noch mal auf die Schulbank zurücknehmen möge. –
Es war ein Glück für mich, daß der Direktor Capelle zweifellos zu weit gegangen war, als er dem Schüler die Befähigung zu »geistiger Betätigung« auf Lebenszeit absprach. Denn daß ein solches Zeugnis nicht stimmen könne, das mußte auch der blödeste Pädagoge einsehn.
Sontag, der Familienfreund, wurde auf Grahn losgelassen. »Alle Pauker sind Narren«, sagte Carl Sontag. Und Grahn stimmte ihm bei, denn erstens schmeichelte es seiner Eitelkeit, sich in einer närrischen Berufsschicht als Ausnahme zu fühlen und zweitens hätte er gern den Direktor Capelle geärgert, den er nicht leiden konnte, und drittens war ich ein gut zahlender Fall für Privatstunden. Wichtiger aber wurde ein denkwürdiger Brief, den Meding an meinen Vater richtete. Wenn morgens der Stenograph auf den Wohldenberg kam, so durfte ich zuweilen mich neben ihn hinter den Wandschirm setzen und belauschen, was der rastlos diktierende Schriftsteller vor sich hinsprach. Es waren sehr buntscheckige Feuilletons. Er nannte sie »Plaudereien an deutschen Kaminen«. Ich behauptete keck, das sei gar keine Kunst, und das könne ich auch machen. »Nun, so diktiere statt meiner«, sagte Meding. Was ich nun vor seinen Ohren zusammenfabelte, das war zwar für den Druck unbrauchbar, gab aber dem Lauschenden die Gewißheit, daß in mir ein eigentümliches Talent um Ausdruck rang. In diesem Sinne schrieb er denn an meinen Vater, nicht ohne Schärfe betonend, daß ein Unrecht geschähe, wenn man mich zwänge, gegen meine offenbaren Anlagen ein Landwirt oder ein Bankier zu werden. Der Brief wurde durch Grahn an den Schuldirektor weitergegeben.
Der Direktor Capelle, von vielen Seiten bedrängt, machte alsbald einen Rückzug, indem er einen zweiten Brief schrieb, der leider nicht mehr erhalten ist, dessen Sätze aber, soweit ich mich erinnere, folgendermaßen lauteten: »Es hat mir fern gelegen, die besondersartige Begabung des Schülers anzuzweifeln. Ich wünschte lediglich zum Ausdruck zu bringen, daß er für den Klassenunterricht unbrauchbar sei. Vielleicht versuchen Sie es mit Privatunterricht.«
Nunmehr wurde vereinbart, daß ich durch die Lehrer des Lyzeums Einzelunterricht erhalten solle. Am Ende des Quartals sollte dann durch eine Prüfung festgestellt werden, ob ich doch noch nachträglich in die Obersekunda (die Klasse Grahns) aufgenommen werden könne.
Mein Vater brachte auch diese Opfer. Es war vergebens. Ich fiel durchs Examen. Es lag zum Teil daran, daß ich nicht schulgerecht denken und arbeiten konnte, zum Teil aber auch an der stillschweigenden Übereinkunft der Lehrer und des Direktors, ihr einmal abgegebenes Abschlußzeugnis nicht ohne Not zurückzunehmen. Immerhin riet man, mich noch einmal die Untersekunda wiederholen zu lassen.
Mein Vater war bedauernswert. Er erklärte: »Macht was ihr wollt. Ich kümmere mich fortan nicht mehr um den Jungen.« Und so kam ich denn inmitten des Schuljahres neuerdings auf die Schulbank. Ich war nun zwar von dem Freunde um eine Klasse getrennt. Aber außerhalb der Schulstunden durften wir ungehindert miteinander verkehren. Unsere Väter hatten edel resigniert. Denn mein Vater wünschte mich so wenig wie möglich zu erblicken, und Vater Klages wähnte, daß ich für Ludwig, der ja trotz meiner, nach Obersekunda versetzt worden war, nun nicht mehr gefährlich werden könne, seit Ludwig gesehen hätte, wie tief ein Mensch, der seine Schularbeiten vernachlässigt, sinken kann.
Grete Ehrenbaum blieb für Monate bei uns. Sie wohnte neben der Mansarde überm Rotdorn. Ich aber hauste in der Mansarde, ohne daß mein Vater sich weiter um mich kümmerte. Auch die Nachhilfe bei Grahn war mir jetzt erlassen, denn ich wiederholte ja nur das mir schon bekannte Schulpensum. Für die Schule arbeitete ich so wenig wie möglich. Die Lehrer hatten nach den vielen Privatstunden und dem schlechten Ergebnis kein allzu klares Gewissen. Sie behandelten mich vorsichtig und schonend. Jetzt konnte ich unterm Pult nach Herzenslust »Jordans Nibelungen« lesen. Und außer den Nibelungen hatte ich meinen Klages. Es kam eine schöne Zeit.