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»Und mein Teil ist mehr
Als
dieses Lebens schlanke Flamme.«
»Meine Heimat ist ein düster wolkenverhangenes Land.
Dort blüht die Heide, die Birke weht an der Felder nebligem Rand.
Zäh ist die Birke, im steinigten Fels sie noch Wurzel faßt,
Aber sie trägt das lieblichste Laub und im Frühling den zartesten Bast.«
Zu der Zeit, wo wir als Knaben in ihren Gassen spielten, war die Stadt Hannover eine der freundlichsten Residenzen im deutschen Staatenbunde. Die Stadt, zwischen Wäldern am Flusse Leine, einem Nebenflusse der Aller gelegen, hatte um 1880 etwa achtzigtausend Einwohner, deren Mehrzahl immer noch halb bäurisch lebte. Sie wohnten in Wiesen und Gärten auf einer weiten Feldmark, und die mit dem Kopfe arbeiteten, die Bürger und besonders die sogenannten hübschen Familien bezeichneten die Ackerbauern als »unsre Gartenkosaken« oder wie man gerne sagte als die »Pisen«.
Die Dörfer der Umgebung wie Hainholz, Limmer (wo der grobe Jakobus Sackmann predigte), Vahrenwald, Döhren, Riklingen, List, heute kohlenstaubumwehte, von mühereichen Arbeitsmenschen übervölkerte Industrieviertel, waren damals noch einsam verträumte Waldflecken. Die Altstadt aber, am »Hohen Ufer« der Leine, wonach angeblich die Stadt ihren plattdeutschen Namen Hohenowere erhalten haben soll, schlief, von den alten Wällen umschirmt, mit vielen Türmen hinter vielen Toren.
Die wichtigsten dieser alten Tore waren das Leintor, das Steintor und das Tor des heiligen Aegidius, welcher Heilige in der katholischen Zeit vor der Einführung der Reformation (1533) Schutzpatron war für alle norddeutschen Städte. In Gefahren und Nöten beteten die Bürger zum Stadtheiligen: »O Aegidi, Aegidi«, woran noch heute erinnert ein nur den Hannoveranern eigentümlicher Ausruf beim Anblick feindlicher Dinge: »Gitte gitte«.
Wahrzeichen und Mittelpunkt der Stadt war der Turm der um 1350 vollendeten Marktkirche, aufragend mit breitem Giebelreiter neben dem aus hellen Klinkern und glasierten Ziegeln gebauten backsteingotischen Rathaus.
Um die Stadt im weiten Bogen grünte der dichte Ring von Busch und Wald, genannt die Eilenriede, ursprünglich wohl das Ellern-Ried. Noch heute sind das an dreitausend Morgen Eichen- und Buchen-Bestand. Von drei Seiten wuchs der Wald bis in die Gassen der Stadt und ließ nur an der vierten Seite, nach Süden zu, eine Ebene offen, die sogenannte Masch, ein wasserreiches Wiesen-Flachland, in welchem drei Wasserläufe, von den Harzbergen kommend, genannt Leine, Ihme und Ohe, sich begegnen und an deren blauen Randsäumen Waldhänge und baumreiche Hügel sichtbar werden, genannt der Deister, wohl von Dixter, das heißt Dichtwald.
Die Stammesherzöge der Niedersachsen pflegten von diesem fruchtbaren Gelände zu sagen: »Das Land zwischen Deister und Leine, das ist's was ich liebe und meine«. Andrerseits aber ging auch das Sprichwort: »Je näger de Deister, um so gröter de Beister«.
Die entferntere Umgebung der Stadt nach Berlin, Köln, Bremen und Hamburg hin, ist keineswegs so anmutig-lieblich wie das waldige Leinetal. Die Landschaft gleitet über in eine ruhige Tiefebene, eine blaurote sandige Heide, welche sich bis zur Küste der Nordsee hinabzieht. Die schwermütigste Landschaft in Deutschland.
In meiner Jugend wurde das Gebiet zwischen Braunschweig, Celle und Lüneburg vielfach ausgeödet und vernutzt durch Hüttenwerke, Kalischächte und Industrieanlagen. Aber wenige Orte dürften so rasch eine ähnlich schlimme Wandlung erfahren haben, wie ich sie in fünfzig Jahren an meiner Heimatstadt beobachten konnte. In meiner Kindheit war sie eine sauberfeine, wenn auch nüchterne Kleinstadt voll bürgerlicher Tüchtigkeit. In meinem Alter: eine lärmerfüllte, von geschäftigen Ameisen wimmelnde Anhäufung profaner Häuser voller Händlertum, Beamtengeist und erfüllt mit der Notdurft harter Arbeit, unjung und die fahlste unsrer Städte.
In der Kindheit meines Vaters dürfte das grüne Nest der Welfen ausgesehen haben so, wie es von Karl Philipp Moritz in seinem Jugendroman »Anton Reiser« geschildert worden ist, ein Städtchen im Busch, mit mancherlei Getier wie Marder, Biber, Luchs und Fuchs und durchsungen von vielen heute ausgestorbenen Vogelarten. Zählte doch der Vogelkenner Paul Leverkühn schon im Jahre 1880 im Bezirk des Arnswaldtschen Gartens, einem Quartier, in welchem heute nur Sperlinge zirpen, zwanzig Singvogelarten, die während unsrer Jugend verschwanden.
Noch zeigen kleine Nachbarstädte: Hameln, Goslar, Göttingen, Hildesheim, Bückeburg jenes gute altertümliche Antlitz. Aber das Wilhelminische Zeitalter verwischte das altväterische Gesicht mit der seelenarmen Gleichförmigkeit der Industrie. Die Bauart, der Lebensstil und sogar die Gesichtszüge der Menschen wurden gleichartig, und die Steine, welche alte Landesgeschichte erzählen, sind allmählich zerbröckelt.
In meine Frühzeit ragte die Überlieferung der welfischen Geschichte. Unter den Bewohnern, die einander kannten, bestand eine Stammesgemeinschaft und fand ihre Symbolik in den Schicksalen des welfischen Herrscherhauses. Und da die Könige von Hannover auch Könige von England waren, so liefen manche Fäden hinüber nach Großbritannien, zumal zur Weltstadt London. »Dem Reisenden« – (so steht es geschrieben in den »Briefen eines in Deutschland reisenden Deutschen«) – »erschien um 1800 die Stadt Hannover fast wie eine britische Kolonie«, denn auf den Schulen waren viele Engländer, weil die Märe ging, daß man in Hannover das reinste und beste Deutsch spräche, und manche Stadtteile, besonders die neuere Calenberger Vorstadt, in welcher die drei bedeutendsten Schriftsteller Leisewitz, Detmold und Feder wohnten, erinnerten an Altlondon, an das Reich Georg des Ersten, Zweiten und Dritten.
Herrenhausen, die Sommerresidenz dieser drei Könige, war auch die Residenz meiner Kindheitsträume. Nahe dem nach dem Muster von Versailles im Stile Le Nôtres angelegten Heckengarten, einem barocken Park voller Wasserkünste, steifer Taxuswände und Berninischer Statuen, zwischen denen Leibnitz den Hofherren in Allongeperücken und den Hofdamen in Reifröcken Vorträge gehalten hat über die »Vortrefflichkeit der Welt«, nahe diesem höfischen Garten stand ein behäbiges Bauernhaus, daran meine ersten Erinnerungen geknüpft sind. Die immer herabgelassenen, geheimnisvoll blauen Rolläden des Schlosses, der Marstall mit den berühmten apfelfarbenen Isabellen, der vergoldete Prunkwagen, das Mausoleum des Königs Ernst August, neben dem ein Bienenstand sich befand, an welchem vorbeizugehen mir verboten war, die Azaleen und Rhododendren im »Paradiese« des Berggartens, das alles hat in die ersten Träume meiner Kindheit eingewirkt.
Es gab noch manche Spuren der alten Kultur, gegen welche die späteren Häufungen von Bauten, Tafelbildern und Denkmalen in der Zeit nach 1870, unter der Herrschaft Preußens, nur leer anmuten. Da hingen an vergessenen Stätten einzelne Gemälde von Lawrence, Gainsborough, vom jüngeren Holbein. Da gab es auf verwilderten Friedhöfen wunderschöne Merkwürdigkeiten. Das Grab Alis, des riesigen Türken und das der »vornehmen Dame, die an zu enger Schnürbrust verstarb«, sowie das berühmte Grab auf dem Gartenkirchhofe, das durch ein Birkenbäumchen geöffnete Grab, an dessen schwerem vom Baum emporgehobenen Steine die Inschrift stand: »Dieses auf ewig gekaufte Grab darf nie geöffnet werden«. Dicht daneben das Grab der Lotte Kaestner, »Goethes Lotte«. Dann auf dem Nikolaikirchhofe neben der Kreuzkirche, im Dorfe Wilkenburg und sonst noch mancherorts Epitaphe von Jeremias Sütel und Peter Köster. Damals war noch die ganze Altstadt an der Leine, Kleinvenedig genannt, ein blumen- und epheuumranktes Mittelalter, gleich Hildesheim und Braunschweig. Und mit den Blumen rankte Legende an den Steinen empor. Ich wußte, ich weiß noch heute, wer vor hundert Jahren in diesen Häusern gelebt hat; ich fühlte mich einverwoben in mein Volk.
Aber als ich nun heranwuchs und begann, über mich und meine Umwelt zu denken, da begann auch der schmerzhafte Vorgang des Entfremdens, und ich erkannte schon in jungen Jahren, daß viele frische Quellen des Geistes und des Gemütes gleich der meinen in Land und Stadt Hannover aufgesprudelt waren, ohne daß der schwere breite Menschenschlag je den Wunsch gehabt hätte, aus all den herrlichen Quellen zu trinken. Und so erschien dem Heranreifenden die Heimat wie eine fest geschlossene, ja feindlich geballte Faust, welche sich niemals öffnen würde, weder um mütterlich zu schenken noch auch nur, um von ihrem gebewilligsten Sohne eine Gabe zu nehmen.
Viele gleich mir hatten hier geatmet, Künstler, Denker und Gelehrte, – ich ging sehnsüchtig ihren Spuren nach –, aber immer lebten sie in Hannover ungekannt oder zufällig. Es war nicht recht begreiflich, warum sie gerade in dieser Landschaft wurzeln mußten, warum sie nicht allenfalls auch eine andere schöne Stadt Deutschlands sich zum Wirkungskreis hätten auswählen können. Das breite Volk ließ sich seine Denker und Dichter eben nur gefallen, so wie die wechselnden Regierungsbeamten oder wie die anbefohlenen Garnison-Kommandeure. Hier war gut hausen für alte verdiente Generale: Scharnhorst, Caprivi, Waldersee, Hindenburg oder für die politischen Größen: Justus Möser, Stüve, Windthorst, Bennigsen, Miquel und Karl Peters. Aber die Singvögel blieben einen Sommer lang, dann entflohn sie vor den herben Schlehen.
Die stumpfe Gleichgültigkeit der niedersächsischen Bevölkerung gegen den Geist trat besonders zu Tage am Leben der beiden stärksten Genien, die in Hannover das Bildungswesen zu organisieren versuchten: Albrecht von Haller und Gottfried Wilhelm Leibniz.
Hätte nicht eine Provinz, welche geistige Größe zu nützen weiß, einem Manne gleich Haller, der die Anatomie, Physiologie und Biologie von heute begründete, jede Hilfe gewähren, jede Erleichterung schaffen müssen? Statt dessen ließ man ihn ziehen, wie denn eigentlich alle Geister von höherem Range nur vorübergehend im hannoverschen Lande gelebt haben und es wieder verließen, wenn anderswo sich die bessere Wirkungsmöglichkeit bot. In den Gedichten des alten Johann Heinrich Voss fand ich merkwürdige Strophen, die von einem Besuche Vossens in Hannover, ich glaube im Jahre 1780, erzählen. Er kommt aus dem Lande Hadeln. Er nennt die Stadt Hannover »die Stadt der feineren Cherusker«. Er kommt zugereist mit dem Wunsche, das Grab Leibnizens zu besuchen, als das Grab des größten Genius, der in Hannover gewirkt hat. Der war im Jahre 1716 verstorben. Und nun erlebt Voss, gleich dem Cicero, der vergeblich nach dem Grab des Archimedes fragt, daß in vierundsechzig seither verstrichenen Jahren der Philosoph und sein Grab vollständig vergessen waren. Kein Mensch in Hannover kann ihm über Leibniz berichten. Schließlich verweist man ihn an einen neunzig Jahre alten Juden, welcher den Leibniz noch persönlich gekannt habe. Das war der Mathematiker Rafael Levy. Der führt Voss in die Neustädter Kirche zu einer Stelle, an der man hundert Jahre später in der Tat die Reste Leibnizens gefunden hat und welche heute gekennzeichnet ist durch einen Stein mit der Inschrift: »Ossa Leibnizii«. Es ist mir gelungen, das Grab dieses Mathematikers Levy zu finden. Es befindet sich auf dem Bergfriedhofe der Juden an der Christuskirche. Er war Lehrling im Bankhause meines Großonkels Simon und wurde durch einen Zufall mit Leibniz bekannt. Als Leibniz auf seinem Morgenspaziergang an einem Neubau vorüberkam (es war das Eckhaus am Postkamp nahe dem Klagesmarkte), da fiel ihm ein Knabe auf, der sich mit den Maurern herumstritt und geometrische Figuren in den Sand zeichnete. Leibniz blieb stehen und hörte, daß der Jüngling den Maurern einen statischen Fehler nachwies, wobei er ein sicheres geometrisches Wissen zeigte. Der Philosoph erkundigte sich nach dem Namen des jungen Menschen, und da er hörte, daß er ein Banklehrling sei, so ging er alsbald zu dessen Chef und erbot sich, den begabten Lehrling in Mathematik zu unterrichten. Er fand an diesem Schüler so viel Gefallen, daß er ihn schließlich zu sich nahm in das große Haus an der Schmiedestraße, welches heute das sehenswürdigste Gebäude der Stadt ist, über dessen schönem Renaissance-Portal ein einziges stolzes Wort prangt: »Posteritati«. Dort blieb Levy bis zum Tode Leibnizens. Der hatte die Gunst des Hofes verloren. Dem Volke war er immer fremd geblieben. Das Volk sah in ihm den leibhaftigen »Gottseibeiuns« und nannte ihn den Herrn von Glöbenix. Er starb völlig vereinsamt. In seinem letzten Lebensjahre arbeitete er mit Levy an der Erfindung einer Rechenmaschine. Levy war der einzige, der bei dem sterbenden Leibniz weilte und ihn zu Grabe trug, so wie im benachbarten Braunschweig auch der unwürdig gestellte Gotthold Ephraim in den Armen eines Juden starb. Es war recht komisch, als man um 1890 in Hannover entdeckte, daß man zwar nach Leibniz eine Straße, einen Platz und eine Keksfabrik benannt und ihm ein Denkmal errichtet, aber seinen Namen fälschlich »Leibnitz« geschrieben habe. Um jene Zeit wurde der Sarg Leibnizens in der Gruft unter der Neustädter Kirche herausgefunden, und zwar war er kenntlich durch blaue Farbe und an dem Bilde einer Spirale, welches ihm aufgemalt war. Was bedeutet die Spirale? Ich habe dafür die folgende Erklärung. Sie war für Leibniz das Symbol des Entstehens und Vergehens (evolutio und involutio), indem, je nach dem Standpunkt der Betrachtung, sie gleichzeitig uns vor Augen bringt das aus unsichtbarem Punkte, der »Monade«, herausrollende und das aus seiner Entfaltung im Räume wieder ins mütterliche Dunkel zurückrollende Leben. Die Stadt Hannover ist ein wichtiger Knoten- und Durchgangs-Punkt im deutschen Reiche. Jeder Deutsche ist wohl einmal durch Hannover gereist. Viele haben für kurze oder lange Zeit hier Aufenthalt genommen, aber nur wenige haben zwischen den nüchternen Rübenfeldern gleich mir ein langes Leben verbracht.
Daß in Hannover die beiden Brüder Friedrich und August Wilhelm Schlegel geboren wurden und mithin die deutsche Romantik hier ihr Mutterhaus hatte, übrigens das ödeste Haus der Stadt, daß der Dramatiker Leisewitz, der Dramaturg Klingemann, der Schauspieler Iffland, die Theatermaler Ramberg, Pape, Gay, die Dichter Grabbe und Griepenkerl, die Sänger Niemann und Schott, die Schauspieler Devrient und Grunert hier oder in der nahen Umgebung gelebt haben und mithin die deutsche Theatergeschichte in Hannover einen Mittelpunkt hat, all das ist ebenso zufällig, wie es Zufall ist, daß in meinen Tagen die Dichter Frank Wedekind, Otto Erich Hartleben, Karl Henckell, Börries v. Münchhausen, Wilhelm Meyer-Förster in Hannover geboren wurden und die selbe schreckliche Schule wie ich besucht haben. Und Zufall ist es, daß Händel, Spohr, Brahms, Joseph Joachim, Hans von Bülow mehrere Jahre und daß Heinrich Marschner fast sein Leben lang in Hannover Musik machten. Und Zufall ist es, daß die besten deutschen Meister, Arnold Böcklin und Anselm Feuerbach während eines schlimmen Jahres, und daß die Koken, Oesterley, Breling und Kaulbach, die Rechberg und Ramberg, daß Otto Gleichmann, der Meister der Angst, während ihres ganzen Lebens in Hannover Bilder malten. Und Zufall ist es, daß Emil Edel, ein liebenswerter Lyriker, daß Otto Kugelmann, der Freund von Karl Marx, daß Bruno und Edgar Baur, die Philosophen, daß August Niemann, zu Unrecht vergessen, daß Friedrich Spielhagen und Georg von Ompteda, Julius Rodenberg, Franz Dingelstedt, daß Gustav Kastropp, der Epiker, daß die Schriftstellerinnen Golo Raimund, Leo Hildeck, Emilie Vely, Klara Eysell, daß der enthusiastische Eugen Kühnemann, die edle Heloise v. Beaulieu aus Hannover kommen oder in Hannover gelebt haben, daß die Tänzerin Mary Wigman, die Schauspielerin Lucie Höflich, der geniale Musiker Walter Gieseking aus Hannover kommen. Keiner, keine, selbst nicht die Heimatdichter Wilhelm Raabe, Wilhelm Busch, Hermann Löns fühlten sich ganz hierhergehörig. Lichtenberg, der klügste unter allen, klagte ewig über seines Geistes Vereinsamung. Bürger, der genialische unter allen, litt tiefe Einsamkeit. Zimmermann schrieb sein schmerzlich schönes Buch über die Einsamkeit. Sogar die vielen kleinen Sterne: Kaestner, der lieber in Italien weilte, Brandes, Knigge, Mädler, der verdienstvolle Pertz, der mutige Oppermann funkelten nur verloren im Dunkel. Wie aber kann man die Geschichte der Landschaft anders in sich aufnehmen, als dadurch, daß man teilhat an dem Leben der wenigen, in denen sie Sprache gewann und welche die Kunde ihrer Erdenpilgerschaft hinterlassen in Dichtungen, Bildern, Musik oder Werken des Denkens?
Indem ich der Hinterlassenschaft solcher Männer und Frauen freudig nachging, wo immer ich konnte als der Hinterlassenschaft von meinesgleichen, da sah ich, daß so viele in Hannover zu meinem eigenen Schicksale verdammt waren: gar nicht gebraucht und schon bei Lebzeiten kaltgestellt und übergangen zu sein. In diesem nordischen Hain schlug die Frühnachtigall der deutschen Lyrik, Christoph Hölty; aber als man lange nach seinem Tode dem in Krankheit und Not Umgekommenen schließlich ein Denkmal zu errichten beschloß, da wußte niemand, wo das Grab des Frühvollendeten zu suchen sei. Vergebens war ich bemüht, eine Spur des 1821 im hohen Alter in Hannover verstorbenen, einst weit bekannten Philosophen Johann Gottfried Feder aufzufinden; er hat originelle Aufzeichnungen aus dem alten Hannover hinterlassen, zum Beispiel ein Gedicht in lateinischen Hexametern auf den Georgengarten, welcher damals der Walmodensche Garten hieß. Aber alle und alles wurde vergessen.
Vergebens war ich bemüht, eine Spur der Mathematikerfamilie Herschel zu finden. Obwohl von der genialen Karoline ein Straßenname und eine Gedenktafel zeugen, hat doch niemand je ihrem Leben nachgefragt. Und so erging es mancheinem, mancheiner.
Man scheint in meiner Heimat anzunehmen, es sei etwas getan, wenn man alles schöpferische Leben ehrenhalber, schandenhalber, wahllos und ohne Unterscheidungsvermögen in die Lexika der Bildung und in die Lehrbücher des Wissens hineinstopft, eine Straße nach ihnen benennt, ein von keinem gelesenes Täfelchen zuguterletzt doch anhaftet an Geburtshaus oder Sterbehaus, und, wie sie zu Lebzeiten Steine des Anstoßes waren, auch nach dem Tode steinerne Verkehrshindernisse aus ihnen macht oder Lehrbuchparagraphen. Das ist die selbe Art Schuld-Entlastung, wie wenn man nach Verbrechen, an denen die Gemeinschaft eine Mitschuld trägt, ein Sühnekapellchen stiftet.
Mein Leben ist nun freilich keineswegs das des Baumes in der Wüste, der Blume im Abgrund gewesen, aber es war – und das ist vielleicht bitterer – das Leben eines Musikschöpfers, der sich mit Geben von Klavierstunden verbraucht oder das eines Malers, der immer nach monumentalen Wänden begehrt und dem man bestenfalls den Auftrag gibt, die heimatlichen Zäune zu streichen.
Ludwig Klages, Albrecht Schäffer, mit mir in Hannover aufgewachsen, waren klug und flogen frühzeitig davon, aber mein Schicksal war es, bleiben zu müssen, wo meine Gräber waren. Mit dem tüchtigsten Maler, der mit mir in Hannover aufwuchs, Ernst Oppler, tauschte ich kurz vor seinem Tode Erinnerungen und wir fanden für unsre Stadt die folgende Formel: »Sie ist ein Paradies der Mittelstädte, des Mittelstandes, der Bemittelten und jeder Mittelmäßigkeit«.
Herder, Karl Philipp Moritz und Hamann, heute als drei der wichtigsten Deutschen geltend, haben zu ihren Lebzeiten alle drei sich beim Magistrate der Stadt beworben um die Stelle des – Schuldirektors am städtischen Gymnasium, dem selben, auf welchem ich zwölf furchtbare Jahre erlitten habe und sind alle drei vom Oberbürgermeister und Senat »abschlägig beschieden worden«. Solcher Tatbestand sollte in der Geschichte einer deutschen Stadt nie vergessen werden.
In meinen Anlagen seßhaft und auf Treue gestellt, erwuchs ich aus einer Scholle, die sich mir versagt hat. Ich haßte die mit Träne und Bitternis von früh auf gesättigte Erde, an die ich doch mit der Wurzel verhaftet blieb. Und so wurde mein Verhängnis, daß so oft und so weit auch ich zu entfliehen suchte, ich immer wieder auf einem Umwege, und meist mir selber unbewußt, an der Küste meiner Jugend gelandet bin, ja sogar in dem selben Bezirke, in den selben nüchternen Straßen, so daß eigentlich mein Leben in der Südstadt Hannovers vergangen ist in der Hildesheimer Straße, Stolzestraße, in Kirchrode, in Anderten, immer in den »Elendsbezirken« der Stadt, dort, wo die Blinden, die Verwahrlosten, die Krüppel, die Kranken und die Alten hausen, wo die Tiere geschlachtet und die Kinder gebessert werden, dort, wo die von drei Seiten mit Wald umgrenzte Stadt einen Blick ins Weite und Ferne zuläßt. Dort saß ich ein halbes Jahrhundert, immer voll Fernweh, immer auf eine Berufung, einen Widerhall, eine Lehrkanzel und zuletzt, bescheidener geworden, auf ein heldenhaftes Ende hoffend, immer weiter an den Rand der Stadt gedrückt, aber doch in dem Bannkreise festgehalten, darin ich geboren und hundertmal gestorben bin, ein Nichtangenommener, berufen aber nicht auserwählt, ein Nichtdazugehörender, obwohl die Steine der Stadt nur für mich gelebt haben.