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19. Philosophie

 

»Und kämen alle jetzt und küßten mir die Hand,
Stehn nicht die Jahre hinter mir,
Wo Steine meine Knabenschläfe trafen?
Und sind die tausend Nächte ausgelöscht? ...«

 

Ludwig Klages, der Freund, der schon ein Jahr früher das Abitur bestanden hatte, befand sich in Leipzig, um bei Wilhelm Ostwald Chemie zu studieren und plante die Übersiedlung nach München, wo von Bayer, ein Schüler Kekulés, lehrte. »Später darfst auch du nach München«, verhieß mein Vater, »aber zunächst mußt du das Physikum machen.« Da ich mir im übrigen die Universität wählen durfte, so wählte ich Freiburg im Breisgau, als die entfernteste, wo nicht leicht einer von der Familie mich beaufsichtigen konnte. Denn ich verfolgte ganz andere Pläne. Zunächst sollten das dicke Welterlösungswerk und die Gedichte veröffentlicht werden. Dazu veränderte ich den Namen Lessing in Lensing. Selbst durch den Namen wollte ich nicht länger mit der Familie zusammenhängen. Auch wollte ich endlich die dummen Vergleiche mit Gotthold Ephraim loswerden. Denn jeder erprobte an mir sein bißchen Witz, indem er billig bafelte von dem großen alten und dem kleinen jüngeren Lessing. Es war auch schon ein Verleger für meinen Plan gewonnen worden: Wilhelm Friedrich in Leipzig, ein wunderlicher Mann, der später durch Selbstmord endete, damals aber mit gutem Erfolg alle revolutionären Autoren um sich sammelte: Bleibtreu, Conrad, Conradi, Holz, Alberti. Ja, er wollte »Comödie« übernehmen, wenn ich fünfhundert Mark Beitrag zu den Druckkosten aufbringen könne. Das konnte geschehn, wenn ich ein Semester lang statt mit den mir gewährten 150 Mark mit 100 Mark im Monat auskam, denn Grete wollte hundertfünfzig und Klages hundert Mark sich absparen. So wurde mit vereinten Kräften das Monstrum geboren, von dem ich überzeugt war, es werde die Welt verändern, und dessen Herausgabe doch alsbald sich als die albernste Kinderei erwies.

Die Übersiedlung zur Universität brachte eine bittere Notwendigkeit. Ich mußte mich von Margo trennen. Man redete mir zu, es ginge nicht an, daß ich mit dem Mopse die Universität bezöge, ich könne ihn doch nicht mit in die Kollegs nehmen. Und so ließ ich ihn in Hameln bei zwei alten Fräuleins, die in der Nachbarschaft wohnten und ihn zärtlich liebten. Ich habe den Freund nur noch einmal wiedergesehn, aber da war er schon alt und dem Tode nahe.

Es ist mein Wunsch, schmucklos die einfachen Tatbestände meines Lebensganges aufzuzeichnen. Duft, Schimmer und Schmelz der lebendigen Blüten, wie ließen sie sich wohl bewahren im Herbarium der toten Erinnerungen? Wenn ich nur einen Tag, eine Stunde nur der Vergangenheit im Wort wiedererobern könnte, dann lebten auch Farben, Klänge, Gerüche und die ganze Plastik wirklichen Lebens. Aber alle Berichte von ehemals Gewesenem (jeder Geschichtsschreiber fühlt es) sind tot und kahl. Sie sind für niemanden etwas wert als für einen kleinen Kreis von Freunden. Was kann denn in unsre Sprache eingehen von den unermeßlichen Traurigkeiten und Seligkeiten wirklichen Lebens? Etwa von jener Nacht auf dem Rasen unter den Sternen, wo die unbegrenzte Seligkeit ewigen Seins mich überflutete, dergleichen nie wiederkam. Was ist geblieben von dem Hochgefühl, als ich nach zweitägiger Kletterei ohne Führer und in ungenagelten Schuhen, den Gipfel der Zugspitze erreichte? Was von den Stunden mit Alfred am Frillensee? Er wagte den Sprung vom Stein im Wasser zum weit entfernten Ufer. Ich watete durch das Wasser. Und da er auf dem Heimwege mich neckte und sich rühmte, zwang ich ihn, den Weg eine Stunde weit zurückzumachen. Ich mußte ihm beweisen, daß ich nicht feiger sei als er. Und die Frühstunden in Düsseldorf am Rhein! Die Abendschwermut. Die Morgenschauer. Die vielen leuchtenden Sonnenuntergänge. Lebensgipfel, die noch dunkel matt nachglimmen, wenn Verse aus jenen Tagen durch die Erinnerung wehn.

»Nach des Horizontes Toren schweift die Seele immerdar,
Ewig suchend als verloren was doch nie ihr Eigen war.
Wie die lasche Glut aus Schlacken dunkel noch ein Nachthauch regt
Will mich Sehnsucht wieder packen wenn die ferne Turmuhr schlägt,
Stille Herz, der Hauch verflutet und der ferne Ton verhallt
Sagenhafter Schimmer glutet über dem verschneiten Wald.

Hunde bellen durch die Nacht, wie es mir das Herz befällt.
Ja, es schleicht was durch die Welt das uns alle schaudern macht.«

Worte! Worte! Und doch sind sie das Einzige was übrigbleibt. Aber die Blumen der Kindheit waren einmalige, niemals wiederkehrende Blumen. Und Bäume: Seelen, die ich liebte. Und sie liebten mich wieder. Das Blattgrün, Scheckern der Amseln, der Rotdorn, Zucken der Lippe, Druck der Hand, – alles Wunder, einmalig. Von der rastlos aufsaugenden Zeit mit allen Seelen verschlungen. Und nicht einmal vermag ich im Nachhinein klar zu deuten das langsame Kristallisieren des allmählich gewordenen Weltbildes.

Ich weiß den Augenblick, wo der mir eigenste Urgedanke meiner Philosophie sich losrang, ins Bewußtsein aufschoß und blitzartig jene Dreischichtung vollzog, welche späterhin für all mein Denken eine große Bedeutung gewann, als die Dreischichtung in: »vitalité, réalité und vérité«; Lebenselement – Bewußtseinswirklichkeit und Sphäre der Idee.

Wir wandelten in der Frühstückspause auf dem Georgenwall. Wir waren Siebzehnjährige. Klages blieb stehen vor einem Müllhaufen, auf welchem ein fortgeworfenes altes Geschirr lag. Und pythisch-pathetisch wie er zu orakeln pflegte, deklamierte er: » Das wäre ein oller Pott! Abfall! Auswurf! Aus dem Lebensstrom ausgespült!« In diesem Augenblick gaukelten mir wunderliche Bildvorstellungen vorüber. »Auch du und ich sind ausgeworfen vom Lebensstrome. Diese hochwichtige Schule. Diese dämliche Stadt Hannover. Nein! Ganz Europa. Ja, die Welt! Die Menschheit. Überhaupt alles, alles, wenn es nicht strömt, nicht flutet. Alles Fest-Gewordene. Alles Fest-Stellbare. Alles Stabile, Konstatierte. Mithin: das Objekt! Und was ist Objekt? Das Subjekt noch einmal. Das Festgeronnene, Identische. Das Sich-selbst-Erfassende. Aber – das nennt man ja: Bewußtsein!«

Dies alles spielte sich nicht klar und gedanklich ab, sondern als erhellendes Denkfühlen. Und im selben Nu erblitzte auch das fortgeworfene Gefäß im Sonnenlicht, und es trat ein, was Ähnliches ich später von Jakob Boehme las. Vielleicht nur herbeigezogen vom Gleichklang der Worte, Reflex und Reflexion, empfand ich mein Denkgefühl als gleichartig mit jenem pulsenden Aufzucken von Licht. Und spürte das Weh und die Seligkeit der Grenze. Unser Eingebanntsein in die Grenzen eines »Weltalls«, das doch nichts anderes sei als das eigene trügerische, logische Bewußtsein. An jenem Tage fixierte ich mein Erlebnis mit folgendem Vers:

»Dies ist der Fluch, den alle Flüche nennen:
Daß wir dem Weltall nicht entfliehen können.«

Und es schien mir so, als ob Weltall und Menschheit auch nur pulsierendes Aufblitzen sei an etwas Ausgeschiedenem, Abgedrängtem, ähnlich wie ein Weilchen sich aufwirft aus tiefsten ruhenden Urgründen rastlos wogender See, im Lichte aufblitzt und wieder verweht. »Solch blitzende Tröpfe sind auch wir beide.« Was aber weckte dies Leuchten? Woher der flüchtige Blitz? Er ist nichts Anderes als der Anprall an unsere Grenze.

Die Stauung im Strom! Die Knotung! Der Schmerz! Der stete Zwang, Not abzuwenden. Die Notwendigkeit. Die Wende der Not ... Diese Entdeckung: »worlds work done by its invalids« war meine älteste philosophische Erfahrung. Von diesem Punkte aus: »Bewußtsein ist die Stauung im Lebensstrom.« »Der Mensch ist die Sackgasse der Natur.« – »Die Welt ist eine Wunde« bohrte ich weiter und weiter. Ich gebrauchte seither beständig die Formel: »Bewußtsein ist nur der Schwärpunkt.« Wobei ich an das Schwären einer Wunde dachte. Dies war meine quälende Zentralidee, mit der ich zunächst nicht fertig wurde.

Es kam ein zweiter, endgültig abschließender Augenblick. Auch diesen kenne ich genau. Aus dem Gefühl mehr als aus diskursivem Denken geboren, lag das Weltbild vor mir wie eine Landschaft, von welcher der Wind für einen Augenblick verhüllende Nebel hob. Das geschah, als ich Mediziner geworden war. In Bonn, in einem Kolleg des Physiologen Friedrich Wilhelm Pflüger. Derb und plump stand dieser Pflüger vor uns und redete über die Physiologie der Atmung. Dabei erläuterte er den folgenden Sachverhalt:

Der Atmungsvorgang, der das Leben unterhält, ist ein Verbrennungsprozeß in den Lungen, wobei sich das giftige Kohlendioxyd aufspeichert. Könnten wir nun dieses Giftgas nicht loswerden, so würde die Atmung, also die Lebensspeisung selber unsern Tod zur Folge haben. Wir müßten am Leben sterben. Nun übt aber die Kohlensäure, die, nach Abgabe des leichten Sauerstoffes an das Blut, zurückbleibt, beständig einen Druck. Sie preßt die feinen Kapillaren zusammen. Infolgedessen wird, wie bei einem sich selber steuernden Blasebalg, das venöse Blut aus den Lungen herausgepreßt und kann sich erneuern. Dies ist ein klares Beispiel für die Teleologik organischen Lebens. Der im Organismus entstehende Schaden sorgt zugleich für die Abstellung seiner selbst. Das Gift, das wir selbstzerstörend produzieren, ist die Ursache unserer Entgiftung.

Was ging in diesem Augenblick an mir vor? Jahrelang hatte ich mit Widerstreitigkeiten gerungen in der unvermeidlichen Antithetik der menschlichen Sprache. Hie Tod – hie Leben! Hie Krankheit – hie Gesundheit! Hie das Rationale – hie das Irrationale! Jetzt plötzlich überkam mich eine Sicherheit, völlig jenseits menschlicher Sprache.

Gleichwie in einem Knallgebläse zwei Gase, der Sauerstoff und der Wasserstoff jahrelang gefährlich nebeneinander und durcheinander wogen, aber die mindeste Kontaktwirkung genügt, um mit ungeheuerlicher Explosion die zwei so klaren Elemente, das geistigste und das elementarste, zum lebendigen Wasser zu vereinen, so lag in mir neben- und durcheinander eine heidnische und eine nazarenische Seelenwelt: Epikur und Buddha. Es wogte in mir die mächtigste Lebensunmittelbarkeit, es wirkte in mir der stärkste Wille zum Geist. Und nun, durch jene kleine Kontaktwirkung erfolgte der Zusammenschluß, dessen Spuren und Spiele fortan meine Bücher wurden.

Ich erlangte überall passenden Schlüssel. Leben und Tod, Menschheit, Welt und alle Problematik, immer war es dasselbe wie bei der Atmung: Der sich selbst ausheilende Notstand. Was faseln wir also von Schuld, Krankheit, Sünde, Wahrheit und Irrtum? Was von Positiv und Negativ? Immer ist es Leben, gedrängt in die andere Richtung. Das wache Bewußtsein und alle seine Inhalte sind entwirktes Element. Wie jener Müll damals auf dem Georgenwall. »Abgeworfen vom Strome des Lebens.« Wie die prickelnde, Atmung anregende Kohlensäure: »Ausgeschieden aber vorantreibend, giftig-entgiftend.« Sackgasse und Motor. Knotung und Lösung.

Fortan schwebte mir immer das Gleichnis des Lichtes vor, getreu jenem frühesten Augenblick vor unserm Schulgebäude, als der verworfene Kehrricht im Sonnenlicht glänzte.

Alles lebt! Auch das Amorphe ist nur Durchgang im Lebenskreislauf. In jedem Tropfen Wasser: Milliarden Infusorien. Jede Handvoll Erde: Getümmel unsichtbarer Zellen. Jedes Kubikzentimeter Luft: ein Ozean voller Kleinwesen. Nur an einem Punkte herrscht ewiger Tod. Ist nie Leben gewesen. Wird nie Leben sein. Im Lichte! Und doch ist Licht Wecker und Wahrer des Lebens, ja das Lebendige selbst. Und so ist es mit dem Geiste! (Nicht umsonst reden alle Sprachen vom Lichte des Wissens.) Wie das Auge einen toten Fleck hat, wo das Sehen aufhört, so hat das Leben selber seinen toten Fleck. Das ist das geistige Bewußtsein des Menschen. Just dort, also, wo wir zu »sehen« vermeinen, sehen wir – nichts mehr.

Gleichgültig also, ob wir (wie Klages das näher lag) im Geiste und seinen Ehren eine gegenlebige, lebenspolare Gewalt erblicken, den metaphysischen Widerpart, den Gegenwert der Seele. Oder ob wir (wie es mein Los wurde) – denn Klages hatte es leichter, das Chaos lieben zu können – unsere Zuflucht, unsere »Erlösung« finden im Geiste.

Sinnlose Worte! Da ja der Notstand die Maschine treibt. Da ja ohne den Widersacher des Lebens es auch kein Leben mehr gäbe. Da ja alle Gestalt Grenzen setzt. Da ja all unsere substantivischen Bezeichnungen: Subjekt, Objekt, Seele, Geist, Welt, Natur, Leben, Kosmos – nichts anderes sind als naive Vokabeln für die sich selbst wahrende Identität eines transzendentalen Ich und jede Durchbrechung dieser Identität, also jede Kausalität und Folge, nur hinauskommt auf die Notwendigkeit, die »Wende der Not«. Diese Einblicke wurden die Wurzeln meiner Philosophie der Not. Und mein Leben war nichts anderes als die Ausgestaltung dieser Philosophie.

»Ubi fel, ibi mel
Wo die Qual, da der Quell.
Ubi onus, ibi sonus
Wo das Leid, da das Lied
Wo die Last, da die Lust,
Wo Beschwerd, da der Wert,
Wo das Licht, da das Nicht.«

Indem ich diese scheinbar verzweifelte Lebensschau verkündete, nahm ich ein nie abzuschüttelndes Mißverständnis auf meine Schultern. Ich hieß ein »Pessimist«, destruktiv und negativ. Ein Gräuel allen Mysterien von Eleusis. So mußten die Menschen sprechen. Denn meine Lehre war nicht aufgebaut auf Antithese, trug nicht das Bild zweier gegeneinander gerichteter Pfeile, sondern das Bild zweier einander umspielender Kreise, von denen der engere, der menschliche Kreis Wert und Wille höher schätzte als alles Leben, der weitere dagegen, der kosmische, alles Werten und Wollen so völlig auflöste, daß ich immer wieder weisend als Motto auf meine Bücher schrieb: »Seien wir mehr als nur Menschen.« Ich lebte und dachte jenseits des Pro und Kontra. Aber wo immer ich Leser fand da erging es mir wie es mir mit meiner Mutter erging, wenn Kalbsleber auf den Tisch kam. Ich konnte sie leicht dazu bringen, mir die Leber allein zu lassen. Ich brauchte nur zu sagen: »Mama möchtest du nicht etwas Eingeweide essen vom toten Tier?« Dann rief sie entsetzt: »Keinen Bissen mag ich essen, wenn du Leber ›Eingeweide‹ nennst und den Braten ›totes Tier‹!« Genau so machten es meine Kritiker. Sie nannten mich Pessimist. Sie wollten die Bestätigung ihrer Vorurteile.

Da ich aber nur ein Mensch gewesen bin, so erging an mich die Forderung: »Bescheide dich!« Ich durfte nicht fragen: »Was tut mir not?« Ich hatte zu fragen: »Wer hat mich nötig?« Ich bin nicht Metaphysiker gewesen, sondern Revolutionär. Und der letzte Bescheid meiner Weisheit lautet: »Mindere die Not!« Damit schloß sich der Ring. Denn in meiner Jugend erkannte ich, daß die Not die Triebfeder des Lebens ist. In meinem Alter, daß es unsere Aufgabe ist, die Not aufzuheben. Also? ...

Wir müssen wohl Ruhe finden bei dem Bescheide, mit welchem wir auf tausend Wegen unserer Jugend als Jünglinge uns oft getröstet haben:

»Es muß die Menschheit ringen nach dem Ziele,
Bei welchem angelangt die Welt zerfiele.«


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