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Zweites Buch
Kindheit

 

»Hinter mir wie ein Fiebertraum
Liegt meine arme Jugendzeit.
Schüttle den Baum, schüttle den Baum,
Kein süß Erinnern Blüten schneit.
Schüttle den Baum, schüttle den Baum,
Fällt keine einzige Pflaume ins Gras,
Dornen vom Strauch, Dornen vom Baum,
O, was sind meine Augen naß.«

 

5. Frühe Jugendjahre

 

»Hinter fernen Erinnerungen verwächst die Zeit.«

 

Im Frühling zog die Mutter mit den zwei Kindern auf ein Bauerngehöft am Rande der Herrenhäuser Feldmark, und während ich vom Stadtleben der ersten Jahre nichts bewahre als ein angstvolles Wirrwarr aus Gefühl und Gesicht, knüpfen sich an Garten, Stall und Hof die ersten fast hellseherisch klaren Erinnerungen. Sie beginnen mit dem zweiten Lebensjahr. Deutlich sehe ich vor mir den Hof und die Tiere. Den zottigen schwarzen Spitz Pollo, gefürchtet und geliebt, die blaugrauen und die schneeweißen Tauben und wuchtige dunkle Hühner. Der Bauerngarten erschien riesengroß. Im Garten rieche ich Angst erweckende Reseden; sie standen längs der Buchsbaumrabatte, die einen breiten Mittenweg säumte, von welchem nach links und rechts Seitenpfade führten. Ich schmecke einen scharfen Geschmack von unreifen Stachelbeeren; jeder Busch schmeckt anders. Ich fühle violette Krokos weh in die Augen stechen. Vor allem aber seh ich deutlich die Pumpe, wir nannten sie »Zucke«. Es war ein giftgrüner Holzkasten an knallroter Backsteinmauer, eine Schwengelpumpe. Ihr Eisengriff war gerundet. Die Amme Dorette setzte mich in die Rundung, sie schaukelte, und ein wehes Gefühl lief durch den Leib. Ich hätte weinen und schreien mögen, wenn nicht das Erstaunen gewesen wäre über das blaue, silberne rätselhafte Wasser. Es schoß hervor im breiten Strahl bei jedem Stoße, der mich erschütterte. Vergebens wollte ich es greifen.

Neben der roten Gartenmauer lag die Grotte aus grauem Tuffstein. Dort klebten nach dem Regen Heere von Schnecken in Häusern: goldbraun, gelb, schwarz-golden und mattrosa; gestreifte oder ungestreifte. Silberfäden ließen sie hinter sich und streckten Hörner, was ich immer zu sehen begehrte, denn ich glaubte, sie streckten die Hörner auf Befehl Dorettes.

Hinter der Tuffsteingrotte war Sand und Kies aufgeschüttet; das bildete eine Anhöhe; die Großen sagten »der Berg«. Dort konnte man, an die Gartenmauer gelehnt, die graue Straße entlangschaun. Gegenüber standen zwei alte Bäume. Ich kroch auf den Berg, von rechts hinauf, von links hinauf, und in der Erinnerung erscheinen mir diese Aufstiege schwer und endlos. Ich habe oft geträumt, ich müsse »den Berg« hinauf kriechen aber falle immer wieder zurück. Ich krabbelte hinan, noch ehe ich auf den Beinen stehen konnte. Ich spüre im Traum noch den Stolz, wenn ich oben ankam und von Dorette auf die breite Mauer gesetzt wurde und im Gefühl hatte: »Das ist die Welt, die schöne Welt!«

Dorette setzte mich auf die Mauer und lehnte über mir, und über Dorette lehnte der Fliederbusch und durch seine Blätter brach Goldregen. Und Mädchen, Kind und Sträucher hingen den azurenen Morgen über, zeitlos. Und den endlosen sonnigen Nachmittag entlang. Und jetzt kommt eine Biene, und jetzt zwitschert die Meise, und jetzt brüllt vom Stall her so herzenswarm die Kuh. Große Ereignisse gehn vor sich, und alles ist heimatlich geborgen und gesichert. Die ewige Angst schweigt. Und alles ist doch nur Vorbereitung auf den schrecklich erschütternden Augenblick, wo Dorette sagt: »Jetzt kommt Ali.«

Hinten auf der Landstraße vom baumhohen Eisengitter des Berggartens, wo der König von Hannover im Schlafe liegt, löst sich ein braunroter Fleck. Der wuchs näher kommend immer größer. Und schließlich ist es deutlich zu erkennen: Ali ist es. Auf ihm sitzt Papa. Er trägt gelbe Reitgamaschen, und wenn er im Schritt an der Mauer vorbeikommt, dann schwenkt er rühmlich die »Reitgerte mit Silber«. In der Hand festumschlossen halte ich schon lange das klebrig gewordene Stückchen Zucker, das Ali beim Empfange fressen wird. Und dann kommt das Schaurig-Schöne. Mein Vater setzt mich auf Alis Rücken, den feuchten, starken, duftenden Pferderücken, und wir reiten Ali in den Stall, gefahrvoll aber herrlich.

Eine ganz frühe Erinnerung ist der Nachglanz beim Begreifen zufällig hingeworfener Worte. Auf dem Hofe vor dem breiten niedersächsischen Giebelhause weht ein tiefblauer Mantel, das ist »ein Rad«. Im blauen »Rade« wird ein Kind umhergetragen. Und ich an der Hand der Kinderfrau, neben dem Mantel angeklammert, mache die ersten Versuche zu laufen. Der Mantel, an den ich mich halte, bauscht im Winde. Das Wehen beschäftigt mich, und ich sage, die blaue Farbe meinend: »Da!« Dorette, die im Mantel das zweite Kind trägt, erwidert: »Das ist deine Schwester.« Und plötzlich (es muß das erste Aufblitzen von Ichbewußtsein gewesen sein), überfällt mich ein Seligkeitstaumel, welcher Haus, wilden Wein, Hühnersteige, welcher alles rundum deutlich macht und überglänzt. Ich habe begriffen! Ich habe eine Schwester. Ich bin nicht allein. Ich dürfte damals knapp zwei Jahre alt gewesen sein, denn meine Schwester, am 11. Juli 1873 geboren, war anderthalb Jahr jünger als ich. All meine Erinnerungen aus der frühen Kindheit sind solche Sekundenbilder, schwebend, unbegrifflich. Es ist unmöglich, sie in Worten wiederzugeben. Und doch weiß ich, daß solche Sekundenblitze wahrscheinlich das ganze Leben vorgestaltet haben. Ist es mir doch, als ob ich nur von wenigen unfaßlichen Augenblicken der Kindheit gezehrt habe; alles spätere war unwichtig. Nur ganz selten kommen Augenblicke, wo das verlorene Vorweltparadies plötzlich leuchtend aufersteht. Sie quellen unerwartet aus einer allzu hart verfestigten Nachwelt.

Ich gehe, alltäglichen Gedanken nachhängend, auf belebten Straßen der Stadt, und plötzlich bannt den Blick im Schaufenster eines Gärtners eine Blumenknospe. Und für ein Nu, zum Greifen deutlich, kommt Erinnerung hervor aus der ersten Kindheit, das Gefühl: »Moosrose«. Es war nichts Gegenständliches, nichts Dingliches, nicht zählbar und erzählbar. Es war Versunkenheit, Geborgenheit in einer Knospe aus wolligem Grün mit klebrigem Seim, verlorenes Wiegen auf windbewegtem Stengel; zarte Zierlichkeit, glückhafte Anmut. Worte können nur verwischen, denn hinter dem Kindergefühl liegt das Erfassen jenseits des Benennens. Wissend müssen wir entwerden was wir sind.

Aber manche versunkene Zustände kehren zurück, wenn ich Musik höre. Denn aus Musik kommt immer etwas Fernes, Raumverschollenes tröstend zurück. Es sind nicht Gegenstände, (eine Welt der Sinne und Empfindungen kommt später), es sind All-Erlebnisse. Sie liegen hinter Schalen.

Das hohe Eisengitter um das Mausoleum in Herrenhausen ist von Jasmin und Flieder überschossen. Komm ich vorüber, so spür ich geheimnisvolles Grauen. An jener Stelle habe ich nie einen Laut von mir geben können. Die blauen Rollzüge vor den Fenstern des Sommerschlosses hatten die Bedeutung: »Vornehmheit«. Der Bienenkorb am Eingang des Schloßhofes: »Höhle des Schreckens«. Die fernen Umrißlinien des Deisters: »Welt«. Wolken waren »Märchen«. Ich fühle deutlich, wie ich, an der Eisenstange am Hoftor schaukeln will, aber umkippe und zwischen Tor und Stange auf dem Kopfe stehend, die Welt umgekehrt-verworren sehe. Oft bringen Gerüche unvermittelt sehr alte Erinnerungen. Ich erinnere noch heute, wie in Norderney im vierten Lebensjahr am Strande der Tang roch. Besonders häufig rieche ich die krossen, frischen Brötchen morgens um sieben in der großen Allee von Bad Pyrmont.

Umrissener, doch ungefühlter als die ganz frühen Erinnerungen werden Bilder aus dem dritten und vierten Jahr. Da waren hundert Spiele, verbunden mit dem Persönchen der kleinen Schwester. Das war eine süße blonde Maus, welche Stirnfransen, sogenannte Ponnis trug, die abends mit der Schere grade geschnitten wurden. Und hinten hing ihr mit blauen oder roten Bändern geflochtenes Zöpfchen, Rattenschwänzchen genannt, woran ich zog bis sie heulte. Sie wurde von mir befehligt und geknufft; das machte ich dem Vater nach. Sie nannte mich »Tete«. Als sie sprechen lernte, da legten die Eltern ihr gern die Frage vor: »Wem hat ein gutes Kind zu gehorchen? Und dann sagte sie: »Dem lieben Gott, Papa, Mama, Tete.« Wenn wir Papa und Mama spielten, so kratzten wir uns blutig.

Besonderen Zauber hinterließen unreife Pflaumen. Wir suchten sie auf den Gartenwegen, wuschen sie im Becken der »Zucke« und bissen hinein. Dafür bekamen wir die Rute zu spüren, welche im Kinderzimmer hinterm Spiegel steckte. Es wurde viel geschimpft und geschlagen. Bei den Zankszenen der Großen krochen wir unter den Tisch und zogen die Tischdecke möglichst tief herunter.

Sehr viel beschäftigten uns die Sonnenstäubchen. Wenn in der Stadtwohnung die Sonne in die mit prunkvollen Möbeln überstopften Räume schien, dann kreisten Milliarden Stäubchen wie kleine Sterne. Sie zu beobachten hat viele Stunden unsrer Kindheit gefüllt. Später ging dieses wunderliche Spiel über in ein leidenschaftliches Betrachten der Wolken.

Großes Weh überschattete die Kindheit. Auf allen Dingen lag Traurigkeit. Die kargen Freuden mußten zusammengestohlen werden.

Der Vater liebte mich nicht. Die Mutter liebte mich in ihrer Art, so wie man eine Puppe liebt. Das große Liebesbedürfnis des Kindes verknüpfte mich weniger mit den Eltern als mit vertrauten Gegenständen oder Spielzeug. Da gab es Bauklötzchen, Zinnsoldaten, Fische und Frösche aus Blech und Zelluloid, da waren Figuren an Springbrunnen, bestimmte Mauerstellen und Steine, an denen ich zärtlich teilnahm und denen ich auch mein Leid zubringen konnte. Ein alter Pappelbaum, welcher auf der Chaussee nahe dem Hause in Herrenhausen stand, bannte mich, wenn ich ausspähend in das Zitterspiel seiner Blätter versank. Bei dem Worte »Mutter« dachte ich an diesen Baum und winters in der Stadt hatte ich »Sehnsucht nach der Mutter.« Es schuf ein furchtbares Erschrecken als der Baum, in den der Blitz eingeschlagen hatte, gefällt wurde.

Etwa im vierten Lebensjahr hatte ich eine schmerzlich süße Liebe für ein in wunderbar vergoldetes Grün gebundenes Buch, aus dem mir vorgelesen worden war. Es waren die Märchen von Hans Christian Andersen. Noch heute könnte ich die Bilder dieses Buches Blatt für Blatt aus dem Kopfe nachzeichnen. Auf dem Buchdeckel in Gold gepreßt, stand das geliebte Bild der »Kleinen Seejungfer. Das schöne stumme Mädchen mit dem Fischleib«. Wohl ein Jahr lang und länger forderte ich an jedem Abend beim Schlafengehn das für mich unverständliche Buch. Es wurde zu mir in das Gitterbett gelegt. In dem danebenstehenden Bettchen meiner Schwester lag ihre Puppe. War es dunkel und ich allein, dann tastete ich, ob das Buch bei mir sei. Durch das Buch fühlte ich mich geborgen. Das Buch war »heilig«. Was an schönen Geschichten während meiner Krankheit daraus gelesen wurde, das schrieb ich dem Buch zu als Eigenschaft.

Es stand im Herrenhäuser Garten unter Unkraut eine die Welt spiegelnde mit Quecksilber überzogene blaue Kugel, welche ebenfalls »heilig« war. Zu der schlich ich, um »anzubeten«. Keineswegs betete ich zu Gott, sondern die Kugel war ein Gott. Meine besten Gespielen aber waren Wolken, wenn ich im Grase auf dem Rücken lag. Angesichts der fabelhaften Jagden und Berge, ihrer Farben und zackigen Schlünde wurde die ekelhafte Wirklichkeit zu Nichts.

Das erste Wort, das ich lernte und sprach, war selbstgebildet und hieß: Didisch. Damit meinte ich Bewegtes. Wolken, Blätter und Wagenräder. Bienen, Surren von Käfern, auch die Beine des Pferdes wenn sie galoppierten, ferner auch die Hand, die ich greifen wollte und die man lachend schnell entzog.

Mein Vater sang am Klavier. Wenn die Sänger der Oper kamen, dann wurde musiziert. Ich habe viele altmodische Melodien im Kopf, die aus diesen frühen Jahren stammen. Die Stimme Eugen Degeles und die Max Stägemanns habe ich noch im Ohr.

An zwei junge Mädchen haftet frühe Erinnerung. Die eine, Franziska Ellmenreich, eine junge Schauspielerin, war die Freundin des Vaters. Kam sie in den Garten, so riß sie mich so hart und stürmisch an sich, daß ich mich ängstete und mich vor ihr versteckte. Die andere, Adele Grantzow, fremdländisch aussehend, in einem weißen Strohhut mit langen blauen Bändern, warf mich in die Luft und fing mich auf oder stellte mich auf ihre Schultern. Sie war eine Tänzerin, die Tochter des Ballettmeisters.

Viel zu sagen wäre von nächtlichen Träumen. So lange ich zurückerinnern kann, haben Träume tiefer in mein Leben eingewirkt als Geschehnisse der Tage. Ich kann mich nicht erinnern, jemals eine Nacht völlig ohne Traum geschlafen zu haben, muß also das Entgegengesetzte bekennen wie Gotthold Ephraim, welcher schreibt, daß er sich nicht bewußt sei, jemals mit Träumen geschlafen zu haben. »Schlaf ohne Traum«, scheint mir unmöglich oder ein überirdischer Zustand zu sein. Denn das ungeheuerlichste Träumen, Nacht für Nacht, geht durch mein ganzes Leben. Grade weil ich auf diesem Gebiete viele Erfahrungen habe, weiß ich, daß das heute übliche »Analysieren« der Träume als wenn sie Geschehnisfolgen, vergesellschaftete Vorstellungen und überhaupt Zeitreihen bilden, eine Selbsttäuschung ist. Träume sind zeitlose Gebilde. Sie kriechen durcheinander hindurch und aus einander hervor, aber reihen sich niemals. Im Verlaufe einer Sekunde können tausende solcher Wesen ins Bewußtsein aufsteigen. In der Kindheit waren die Gebilde immer wohltuend. Es waren herrliche farbige Landschaften. Gärten und Bäume kamen. Töne und Gerüchte tauchten auf. Später wurde die Belastung oft entsetzlich, so daß ich wohl glaubte, daß Dämonen, Kobolde Incubi, schlechte Geister mich quälten. Am abscheulichsten aber waren in reiferen Jahren die abstrakten Träume. Worte, Begriffe, Gedanken an Stelle der Bilder. Mein Vater hatte die unbegreifliche Fähigkeit, jederzeit einschlafen zu können. Zwischen zwei chirurgischen Operationen sagte er wohl: »Ich muß erst zehn Minuten schlafen.« Dann schlief er wirklich genau zehn Minuten. Ich erkläre es mir daraus, daß seine ganze Natur nur in der Gegenwart lebte ohne Gegrübel. An der meinen aber saugte von früh an der spiegelnde Geist mit seinen zwei Ausdehnungen: Vorschau und Rückschau. Das Denkenmüssen, das Auswertensollen, das Wahrseinwollen nagte immer an mir wie der Krebs am Leben. Wenn ich alle die Stunden wiederhätte, die ich verbracht habe, einzig mit Versuchen Schlaf zu finden, dann würde mein Leben mehr als doppelt so lang sein wie es gewesen ist. Ich habe Stunden lang warten und Schlaf suchen müssen, um fünf Minuten Schlaf zu finden. Der Kampf um Schlaf ging durch das ganze Leben. Nächte lang lag ich wach im Grübelrausch, viele viele tausend Nächte. Kam der Schlaf, so kam er stets mit endlosen Karawanenzügen wirrer Bilder oder Worte. Vielleicht könnte man meine ganze Philosophie vom Schlaf und Traum her erklären. Denn meine Philosophie war meine Philosophie. Ich mußte, um sie schaffen zu können, geboren werden und lebend ersterben.

Vergebens mühe ich, in das frühe Kinderland zurückzutauchen. Ich erhasche nichts als einzelne Gesichte von Personen, von Dingen oder von Situationen. Ich muß zudem noch zweifeln, ob nicht von anderen Erzähltes oder später Gehörtes sich mit den eigenen Erinnerungen untermischt. Jedenfalls besitze ich nicht mehr das unmittelbare Erlebnis sondern reflektiertes Wissen um Vergangenheit.

Die Winter in der Stadt sind für das Erinnern eine Kette von Angst und Krankheit. Die Hälfte des Jahres lag ich hustend zu Bett. Es war ein laut bellender Krupphusten, der jeden Winter sich einstellte; dazu alle erdenklichen Infektionen: Diphterie, Scharlach, Skorbut, Masern, Wundrose, Gürtelrose. Ich lag geduldig, bekam alle Stunde von der blauen Medizin, von der roten Medizin, ich bemalte Bilderbögen, schnitzelte Hexentreppen, spielte mit Schäfereien aus Holz oder mit den vielen Zinnsoldaten, wurde gegen Ende jedes Winters regelmäßig von den Ärzten aufgegeben und erholte mich dann erstaunlich rasch während des Sommers im Garten.

Einzelne Stadtfiguren blieben haften im Gedächtnis: Unangenehme quälende Gesichter. Ein dicker runder Makler namens Blank, ein langer dürrer, namens Nathan, eine unaufhörlich redende Besucherin, die heranwachsend wir Tante Rabbula nannten, ein alter Bankier, der unten im Hause sein Komptoir hatte, unserm Kinderfräulein nachging und immer wenn er mich auf der Straße traf, fragte: »Hast du deine Bonne recht lieb?« Dieser alte Herr nannte mich: »Kleiner Herr Doktor«, ich mußte ihm den Puls fühlen und sagte dann: »Zeigen Sie die Zunge.« Das hatte ich dem Vater abgeguckt. Schließlich gab der alte Herr ein Rätsel auf, immer dasselbe. »Warum hüpft der Spatz über die Straße?« Die Auflösung lautete: »Weil er auf die andere Seite will.« Das wiederholte sich täglich.

Das Leben war eine Wildnis! Alle Tage kamen zahllose Leute. Man mußte »artig sein«. Mußte »Händchen geben«. Mußte »Diener machen«. Bekam Kuchen. Mußte »Danke sagen«. Durfte endlich wieder ins Kinderzimmer, wo ich in meine »Ecke« kroch. Denn immer hatte ich die Neigung, mir eine Höhle zu baun. Dahinein kroch ich, dort verwahrte ich Habseligkeiten: Ausgeschnittene Bilder, Abziehbilder, Liebesmarken, farbige Murmeln und einen Haufen silberglänzenden Staniolpapiers.

Vater und Mutter kamen ins Kinderzimmer, tadelten, schalten, verboten und gingen wieder. Gott sei Dank! Wir waren dem Personal anvertraut.

An den Abenden kamen Gäste. Es wurde nach englischer Tagesordnung gespeist. Abends gegen sieben war die Hauptmahlzeit. Dann steckten die Eltern wie die Mädchen in guten Kleidern. Die Kinder wurden ins Bett gebracht. Die Erwachsenen tafelten. Man musizierte, man sang. Zum Kinderzimmer, hintenhinaus nach der Andreasstraße, drangen Gerüche und Geräusche. Ich wußte, jetzt ist mein Vater aufgeräumt, und meine Mutter sitzt da in brauner Seide mit vielen Diamanten.

Etwa im sechsten Lebensjahre kurz vor Beginn der Schulzeit kamen Ereignisse, die mich wach machten. Zuerst die Geburt einer zweiten Schwester. Sie wurde am 13. Mai 1877 geboren aber starb schon gegen Ende des Juni. Die Ereignisse bei ihrer Geburt und bei ihrem Tode wirkten noch lange in meinem Gemüt. Sophie, oder wie ich sie nannte »Uwau« und ich spielten seither immer ein Spiel, das wir nannten »Gertrud begraben«. Wenn wir in der Eilenriede, im Georgengarten, im Logengarten an der Herrenstraße spielen durften, dann nahmen wir ein Hölzchen, das nannten wir Gertrud. Wir schaufelten Löcher in den Sand, begruben das Hölzchen und pflanzten Blümchen oder legten Blätter aufs Grab. Viel sann ich über diesen Tod. Das Kind in der Wiege, welches eine Düte Zuckerplätzchen neben sich hatte, die es mir angeblich mitgebracht hatte aus dem »Kinderteich«, aus dem der Storch es holte, beschäftigte die Phantasie. Das Erscheinen des Kindes war so umgestaltend für mein Leben, daß ich nun nicht begriff, wie es auch ohne Gertrud weiterging. Meine Mutter trug Trauerkleider. Sie weinte viel. Aber es wurde weiter gegessen und weiter gezankt. Es wurde viel Musik gemacht und immerfort wurde gesprochen, was ich ja doch nicht verstand. Aber seit dieser Zeit, glaub ich, war ich ein Grübler.

Bald nach der kleinen Gertrud Tode kam ein neues Kindermädchen ins Haus, sie hieß Anna Oppermann, hatte rotblondes Haar und war ein wüstes, aufgeregtes aber sehr schönes Geschöpf. Ich bemerkte, daß mein Vater die Anna zuweilen streichelte und fühlte auch, daß sie ihn irgendwie ausnutze und lenke, und daß weder bei Mutter noch Vater ein Schutz gegen Anna zu finden sei. Die rothaarige Bestie wurde mein Teufel. Noch heute im Alter kann ich nicht ohne einen Widerwillen jene Erinnerungen ans Licht stellen, die mich früh leidend und mithin früh denkend machten.

Der Vater immer in Geschäften; die Mutter immer in Vergnügungen. Wenn wir Kinder auf eine Stunde hergenommen wurden zu Spaß und Spiel, wie zwei Tierchen, wie zwei Hündchen, so war das alles, was wir wünschen konnten. Wir hatten unsre Bonne. Außerdem war das Hausmädchen Frieda da und die Köchin Emilie. Übertags kam auch oft der auswärts wohnende verheiratete Diener Borchers. An Aufsicht also fehlte es niemals.

In dem roten Großstadthause, damals einem der schönsten der Stadt, war immer großer Betrieb. Es wurde viel Geld verdient und viel Geld ausgegeben. Mein Vater redete gern von »Leben und Lebenlassen« und hatte seine unbesiegbare Leidenschaft für Glücks- und Börsenspiele. Alle Frauen waren seine Dienerinnen. Meine Mutter haßte und verknechtete er und übertrug seine Despotenlaune auf mich, denn ich sah der Mutter ähnlich, während meine hübsche Schwester, blond und blauäugig wie er, als sein Ebenbild bevorzugt wurde. Die Dienstboten wechselten beständig. Sie waren raffig, habgierig, selbstsüchtig. Manche waren liederlich, manche auch unzüchtig. Und wären sie nicht so gewesen, dann hätte das Goldgräberlager, in dem sie dienten, dies Familienidyll, bei dem die Freundinnen des Hausherrn am selben Tische mit der Hausfrau speisten, dann hätte das Pascharegiment sie schlau und verschlagen machen müssen. Es gab kein anderes Band, das sie an das Haus fesselte, als ihr hoher Lohn. Sie dauern in meinem Gedächtnis als eine Reihe entarteter Quäler. Wahrhaft zerstörend aber wirkte das rotblonde junge Kindermädchen, die »Bonne«, der wir auf Gnade und Ungnade Tag und Nacht anvertraut waren, ohne daß jemand über unsre Entwicklung nachsann.

Im Jahre 1902, als ich Lehrer war an einem Landerziehungsheim, hatten wir auf unsrer Unterstufe in Ilsenburg einen kleinen Schüler, Sohn des Direktors der deutschen Reichsbank. Das Kind wurde zu unserm Bedauern aus unsrer Schule genommen, weil die Eltern einen Hauslehrer mieteten, einen ihnen gut empfohlenen Studenten, dem sie ihren Knaben völlig anvertrauten. Dieser Mensch, ein Sexualverbrecher, hat das unglückliche Kind buchstäblich zu Tode geprügelt. Die Öffentlichkeit hat sich damals allgemein über das Verbrechen und gegen den Verbrecher empört. Aber kein Wort des Zornes wurde gesprochen gegen die wahren Schuldigen, gegen Leere, Hohlheit, und Verantwortungslosigkeit einer Menschenklasse, die immer in Geschäften, Vergnügungen und sogenannten gesellschaftlichen Pflichten, immer auf Reisen, in großen Unternehmungen, in Abenteuern oder vermeintlichen Werken sogenannter Kultur die Seelen ihrer Kinder zugleich vernachlässigt und verzärtelt, zugleich überfüttert und verdorren läßt. Die Untergangsreife dieser seelendünnen und gemütverarmten Gesellschaft, die längst ihre Seele fortgab um der Erfolge, der Leistungen, der Worte, Werke und Werte willen, kommt am schaurigsten zum Ausdruck in den Schicksalen und Belastungen der Kinder aus reichen oder gerühmten Häusern.

Ich hätte gewünscht eine proletarische Jugend wäre mein Teil gewesen. Ich hätte gewünscht, ich wäre rechtzeitig den Eltern fortgenommen worden. Ich hätte gewünscht, man hätte mich in gesunde Luft gebracht, rauh und streng. Aber meine Jugend verlief in Verwöhnung, Verweichlichung, Verzärtelung. Sie war äußerlich glänzend, sie war scheinbar wohl behütet und begünstigt, aber in Wahrheit war sie schrecklicher als Armut, Frost und Sorge sein können, welche ich doch später redlich kennen lernte und überstanden habe.

Als ich in Jünglingsjahren Hebbels und Kleistens Leben las, da beneidete ich sie um das Unglück ihrer Jugend, das sie widerstandsfähig und zu Dichtern machte. Denn die meine riß, zerrte und lockerte nur an meinen tüchtigen und gesunden Anlagen, und heute weiß ich, daß ich mich nicht vom Elternhause hätte frei machen können und nicht schon vom fünfzehnten Jahre ab, innerlich auf mich selbst hätte stellen können, wenn ein gutes Geschick mir nicht zwei Helfer zugesandt hätte. Das war meine Pflegemutter Grete Ehrenbaum und mein Freund Ludwig Klages. Ihnen danke ichs, daß ich bin. – Es ist wohl möglich, daß, indem ich mit jeder Faser des Herzens diese beiden liebte und alles was ich zu geben hatte, ihnen gab, doch ein Irrtum meinerseits mitspielte, daß ich mehr oder anderes in sie hineinlegte als in ihnen lebendig war. Sicher aber ist: Für mich kamen sie als die Rettung bringenden Engel.

Manche Angstträume haben mich lange verfolgt. Im Hause ist Gesellschaft. In dem großen parkettierten Saal nach dem Georgenwall sitzt die Mutter im Seidenkleid und der Vater schmausend und trinkend mit den Bankiers und Bühnensternen. Wir beiden Kinder sind mit dem roten Mädchen hinten in der kleinen Stube, wo sie mit uns schläft. Auf dem langen schmalen, immer von einer Küchenlampe beleuchteten Flur, klappern Geschirre und Gläser. Der Diener Borchers lacht und poltert mit der Köchin. Nebenan in der Küche werden die Speisen- und Weinreste abgesetzt, und alle Augenblicke steckt das Hausmädchen Frieda den Kopf mit dem starren Häubchen durch die Türspalte und bringt den Rest einer Pastete, ein Stückchen Puter, Krachmandeln und Weintrauben oder eine nur halb geleerte Weinflasche. Das Kindermädchen Anna nascht und trinkt, überfüttert auch die Kinder mit Resten und gießt Rotwein ein. Die ganze Etage dröhnt von Gelächter und Lärm. In den vorderen Räumen vergnügen sich die Herrschaften. In den hinteren freut sich die Dienerschaft. An solchen Tagen gibt es keine Aufsicht. Meine Mutter kümmert sich nicht um den Haushalt. Mein Vater, wenn er bei guter Laune ist, läßt Fünfe grade sein und erkundigt sich wohl noch leutselig bei den Mädchen, ob denn auch sie ordentlich lustig gewesen seien. Wir liegen in unsern umgitterten Kinderbetten. Meine kleine Schwester schlafend, während um mich die Welt zu kreisen beginnt und es mir wird, als wolle Feuer alles verschlingen. Schließlich höre ich Gekreisch und Geschirrklappern in der Küche, Tafellärm und das Klavier vom Saale her nur wie aus weiter Ferne. Es wird ruhig und dunkel. Aber da sind die kurzen Atemstöße der rothaarigen Anna. Sie nimmt den Knaben aus den Kissen, wirft ihn auf das Plumeau ihres Betts und wirft würgend und drückend ihren Körper auf den kleinen Leib, so daß ich vor Schrecken gelähmt bin. Ich sehe mich im Grauen im Nachtkittel den schmalen vom Petroleumlämpchen erleuchteten Gang entlang stürzen, das Haus zusammenheulend. Ich schreie, als wenn der Tod hinter mir stehe. In der Erinnerung dauert noch der Augenblick, wo ich ein schmerzhaftes Lichtermeer vor mir hatte und zum ersten Male die Erwachsenen an ihrer Festtafel prangen sah. Da saßen mein Vater, meine Mutter, die ich unter allen den geputzten Leuten sogleich herausfand. Das gelbe Licht, der Gaskronleuchter mit den vielen Glasprismen, lange flackernde Stearinlichte in hohen silbernen Leuchtern, Orchideen und Rosen auf der breit ausgezogenen Harmonikatafel, der weiße Damast, das viele Silber und die unendlichen goldenen Gipsrahmen der vielen Ölgemälde, dazu der Lärm und das Lachen, es war ein Feuer- und Glanzmeer, in das ich angstverzweifelt mich stürzte, unter dem unaufhörlichen Geheul: »Mama, Mama«, für die hinter mir herstürzenden Mägde nicht zu bändigen. Auf die Mutter eile ich zu und berge mich in die seidenen Bauschen ihres Gesellschaftskleides. An der Tafelrunde ersteht Aufstand. Mein Vater, unwirsch, ruft: »Was ist mit dem Jungen?« und befiehlt, mich ins Bett zu tragen. Jede der anwesenden Damen aber will den heulenden Hemdenmatz beruhigen, auf den Schoß nehmen, ihm eine Rosine oder ein Pralinee spenden. Die Szene ist für die Leute nur erheiternd. Das Kindermädchen harrt an der Tür und wird herangewinkt. Sie erzählt Unverständliches, daß ich unartig gewesen sei, daß ich mich nicht habe zu Bett bringen lassen. Schließlich wird das aufgeregte Betragen des Kindes darauf geschoben, daß Frieda ihm Wein zu trinken gab. Aber ich will nun durchaus nicht von dem Kindermädchen mich zurückbringen und ins Bett legen lassen, sondern bestehe darauf, daß meine Mutter mitgehe, die ich ängstlich an ihrem Kleide festhalte. Sie mußte sich an mein Bett setzen und lange meine Hand in der ihren halten, bis ich über all der ausgestandenen Angst endlich einschlief. Dies war die erste einer Reihe ähnlicher Szenen, die ich nur wie Bruchstücke erinnere und die in Wirklichkeit, da dies Mädchen nicht lange im Hause blieb, vielleicht verteilt waren über kaum mehr als ein halbes Jahr, aber sich so in das Gedächtnis eingeätzt haben, daß mir ist, als hätte ich eine nie endende Hölle durchlaufen ...

So lange diese Person im Hause war, wurde ich auf eine mir unverständliche Weise gemißbraucht und jeden Abend, wenn ich ins Bett gesteckt war, hatte ich Angst, ob sie nochmals ans Bett kommen werde. Und dann kam sie, wenn alles still geworden war, dennoch herein, rüttelte mich wach und fragte, ob ich auch nicht vergessen habe zu beten, wie sie es uns gelehrt hatte: »Hab ich Unrecht heut getan, sieh es lieber Gott nicht an.« Betete ich nun, dann schien es ihr entweder zu langsam oder zu leise, und sie begann mit der gefürchteten Rute oder mit der Hand zu drohen, zuletzt dann immer sich auf mich zu werfen. Bei besserer Aufmerksamkeit hätte es den Eltern auffallen müssen, daß der Körper des Kindes stets blaue und braune Flecken aufwies, denn ihre abscheuliche Eigenart war, überallhin zu kneifen. Ich meinte, das müsse so sein. Ich glaube zwar, es hieß immer: »Anna ist zu streng«, »Anna darf den Jungen nicht strafen«. Aber es geschah nichts, um Anna zu beaufsichtigen. Ich lebte vor ihr in beständiger Angst, aber größer doch war die Angst vor dem Vater. Meinem Vater war zweifellos das Betragen des Mädchens aufgefallen, aber sie hatte ihm zugetragen, daß sie an dem sechsjährigen Knaben onanistische Neigungen bemerkt habe, und mein Vater hatte vermutlich selber sie beauftragt, die Kinder zu beobachten und strenge Maßregeln zu treffen. Eine Zeitlang, so erinnere ich mich, wurden, mit ganz unsinniger Pädagogik, beiden kleinen Kindern, wenn sie zu Bett gelegt waren, die Händchen an die Gitterpfosten des Bettes gebunden. Die schlimmste Teufelei aber war ein hie und da verübter Trick des Mädchens, durch den sie jeden Verdacht von ihrer Person ablenken konnte. Es geschah, daß sie an dem sechsjährigen Knaben ihr krankhaftes Gelüste ausließ, dann ihn in sein Bett packte und zum Vater hinüberging mit der Klage, Onanie an dem Kinde beobachtet zu haben. Kam sie nun seinem Befehl gemäß zu ihm, um sich Rat zu holen, so geriet mein Vater, seiner jähen Natur nach, sogleich in Jähzorn und glaubte, wie er das nannte »ein Exempel statuieren zu müssen«. Er ergriff die Reitgerte oder die gefürchtete Rute, ließ mich von dem Mädchen festhalten und schlug polternd und scheltend drauflos, ohne daß ich klarstellen konnte, daß mir Unrecht geschah, ja ohne daß ich überhaupt einen Zusammenhang zu sehn vermochte oder auch nur hätte begreifen können, was man denn von mir wollte und wohin ich mich retten solle. Schlug mich der Vater, so schrie ich nach Anna. Schlug mich Anna, so schrie ich nach dem Vater. Nur nach der Mutter schrie ich nicht. Denn die Mutter, im Haushalt ohne Stimme, lag auf der Chaiselongue, Romane lesend aus der Nordmeyerschen Leihbibliothek oder verhandelte mit Frau Buchterkirchen, der Schneiderin, oder wollte just ins Abonnementskonzert, oder hatte gerade Damenbesuch, oder machte gerade Toilette und sagte in ihrer dauernden Abhängigkeit doch immer nur dasselbe: »Du mußt Papa gehorchen«, »Du darfst Papa nicht ärgern«, »Wenn du bös bist, wird Papa uns verstoßen«. – Etwa im sechsten Lebensjahr begann das Licht des Wissens in die Schreckenshölle zu dringen. Es war dieselbe Kindsmagd, die den Knaben verdarb und ihm half, indem sie ihm die ersten Gebete, Märchen und Buchstaben vermittelte.

Es zeigte sich nun von Früh an der auffallende Gegensatz zu meiner Schwester. Diese, hübsch und frisch, war weniger gefährdet und viel geschonter. Sie spielte über alle Abgründe der Umgebung unbewußt hinweg. Sie lernte schneller. Alles wurde ihr leicht. Bei allen Gelegenheiten erwies sie sich als anstelliger, klüger und geschickter. An mir dagegen erfuhr jedermann und jedes vorweg Widerstand. Ich war scheinbar stumpf und stur, sah in allen Menschen rundum Feinde und in allen Dingen ringsum Gefahren. Ich wurde völlig in mich hineingeprügelt, verstockte und verkroch mich, sprach wenig und ungern und war nicht nur ungewillt etwas zu lernen, sondern schlechthin unfähig dazu. Auch körperlich zeigte ich mich ungelenk und ungeschickt, ängstlich und ohne Begabung des Auges und der Hand. In allem und jedem, nicht nur im Schreibenlernen und Lesenlernen, sondern auch beim Singen, Turnen und Musizieren, beim Versteckenspielen und beim Kriegspielen, beim Indianer- und Pfänderspiel, sogar bei den ruhigsten Spielen mit Puppen und Bildern war die um mehr als ein Jahr jüngere Schwester mir stets überlegen. Durch meine ganze Jugend bis hin zum zwanzigsten Lebensjahr zog sich als ewiger Endreim meiner Eltern der Stoßseufzer: »Wäre doch nur das Mädchen ein Junge.« »Wäre doch nur dieser Junge ein Mädchen.« »Mit dem Jungen ist kein Staat zu machen.« »An dem Jungen ist Hopfen und Malz verloren.« »Was soll aus dem mißratenen Kinde werden?« ... Woran lag das?

Es lag einfach. Ich war von früh an übermüdet, in den Nerven geschwächt, ja zerrüttet. Ich schützte mich so gut es eben ging durch Stumpfheit. Was mir nicht beim ersten Anlauf glückte, das konnte ich nicht bewältigen. Grade weil ich für jeden seelischen Eindruck überempfänglich war und allzu reizbar, mußte ich mich verschließen.

Ich kann mir gar nicht vorstellen, daß jemals einem Menschen ein schulgemäßes Erlernen so sauer geworden ist wie für mich es war. Obwohl ich stundenlang am Klavier in wirren Tönen phantasieren und klimpern mochte, war doch Notenlernen und die Finger üben mir nichts als unsägliche Pein. Ich habe diese ganze Möglichkeit meiner Natur brach liegen lassen, vielleicht nur darum, weil Musik mich völlig zerrüttet hätte. Das Zeichnen nach der Vorlage, wie das Schreiben nach der Vorlage, das Auswendiglernen von Vokabeln und vollends gar Zählen und Rechnen war mir unsagbar widerwärtig. Ja, das alles blieb mir verschlossen. Unmöglich, jemals eine geforderte Schulleistung anders als mit Qual und innerem Widerstreben abzuleisten! Diese Schwierigkeiten dauerten bis ins einundzwanzigste Lebensjahr, wo ich immer noch die Schulbank drückte, immer noch zu geregelter Arbeit untauglich war, und es immer noch unfaßlich erschien, wohin ich steuere, was man mit mir machen solle und was ich überhaupt auf dieser Welt zu suchen habe. Es war eine dauernde Niederlage. Und diese Niederlage (darin sieht die gegenwärtige Seelenkunde scharf und richtig), verursachte nun Ausgleiche und Übersteigerungen. Das heißt, es wuchs in mir gleichzeitig ein starkes Minderwertigkeits- und ein nicht minder starkes Überwertigkeits-Bewußtsein. – Zwei Formeln bekam ich während meiner Kindheits- und Jünglingsjahre immer wieder zu hören. Sie wurden von jedem Lehrer, jedem Erzieher wiederholt. Die eine Formel lautete: »Der Junge hat keinen Ehrgeiz.« Die andere: »Der Junge kann sich nicht konzentrieren.« Beides stimmte, beides aber stimmte auch gar nicht.

Es war richtig, und es ist wohl noch heute richtig, daß ich in gewöhnlichem Sinne nicht eben ehrgeizig war, daß mir der Glaube an Autorität, ja auch die Ehrfurcht vor berechtigter Autorität lange abging, daß es mir meist gleichgültig war, was andere dachten oder über mich redeten, und daß in mir vielleicht das Organ verkümmerte für Erfolg, Ehre, Vorankommen, Karriere und praktische Ziele. Aber das geschah doch nur darum, weil ich in einer anderen Hinsicht, nämlich in sittlicher Hinsicht, maßlos angespannt und in der Jugend fast hysterisch ehrgeizig war. Ich war beständig moralisch entrüstet, beständig im Kampf mit »Verrottung der Welt«, beständig; sittlich überspannt. Ich war in meinen Entwicklungsjahren gar nichts anderes als ein fanatischer Moralist. Ich war es wider meine eigenste Wesensart. Denn ich war kein Mensch der Tat, sondern der Betrachtung, kein Weltverbesserer, sondern ein Dichter. Aber ich mußte zum Kämpfer werden aus der Not meiner Lage heraus. Denn ich war durchaus mein eigener Tierbändiger, mein Zuchtmeister und moralischer »self made man« bei großer Wildheit und Wüstheit aller Elemente. Ich wollte durchaus zum Geiste hin. Aus dem Sumpfe herauszukommen, die chaotische Umwelt zu überblicken, in dieser Urwirre von Leidenschaft, Schwäche, Schuld und Subjektivismen die Klarheit, Wahrheit, Sachlichkeit herauszufinden, Licht, Licht, Licht zu erlangen, das erforderte so viele Kraft und war so schwer, daß kein Ehrgeiz übrigblieb für Schulzwecke und Arbeitszwecke und kein Antrieb, in der Schule oder vor den Eltern zu glänzen. Mein Ehrgeiz war anders! Meine Mutter erlitt Schläge mit der Reitpeitsche; wenn ich ihr zu Hilfe kommen wollte, dann erhielt auch ich Schläge, aber nicht vom Vater, sondern von ihr selber, denn das war ihre Weise, sich beim Mann einzuschmeicheln und an ihn heranzuwinseln. Und ich sollte Namen und Schlachten toter Könige lernen? Ein Kindermädchen tat dunkle, verbotene und quälende Dinge, mein Vater küßte dieses Mädchen, und ich sollte das kleine Einmaleins aufsagen und die Wochentage wissen? Alles was mich umgab und anging, blieb ungeklärt und schrecklich. Aber gefordert wurden lauter Dinge, die mich nicht angingen. Es war auch niemand da, an dem ich mich hätte aufranken können. Keiner, der mein Vertrauen gefesselt hätte. Gewiß, die Erwachsenen, jeder neue Lehrer, jede neue Erzieherin, näherten sich dem Kinde mit warmer Freundlichkeit, und vertrauensselig und lenkbar fiel das Kind immer wieder herein und glaubte. Aber das Ende waren jedesmal Forderungen, die über meine Kraft gingen, Ansprüche, in denen ich nichts sehn konnte als Quälereien. Ich habe nie etwas zu lernen vermocht, was nicht mein Inneres förderte, nie etwas zu machen, was nicht Ausdruck inneren Lebens war.

Auch die zweite Formel stimmte und stimmte nicht. »Konzentrieren« konnte ich mich nicht, weil ich zu sehr in mich hineingedrängt und mit der eigenen kleinen Welt beschäftigt war. Ich war zu stark gebannt in Beschwernisse, die ich weder auflösen noch verdrängen konnte. Die Lehrer, die Kinderfräulein, Fräulein Becker, Fräulein Mohwinkel, die Eltern wären sehr verwundert gewesen, wenn sie je die Gedanken gekannt hätten, die, wenn auch in völlig ungeklärter Form, das Kind beständig in Unruhe hielten. Ich grübelte über den Vater, über die Mutter, über das Rechte und Unrechte, über meine Schuld und die Schuld der andern, über die Welt und deren Verbesserung. Und wie übermenschliche Kraft dazu gehört, um aus schlechter, ungeeigneter Nahrung einen gesunden Leib zu erbauen, so verbrauchte ich durchaus normale Anlagen an die Aufgabe, Steine, dir mir statt Brotes gegeben wurden, dennoch zu bewältigen und einzuverleiben. Sicherlich war ich aus sehr weichem Stoffe und überaus reizbar. Kein Titan in der Wiege, sondern ein sensitiver Träumer. Ein solches Kind ist wie vorbestimmt zum Untergang. Wie schützt es sich? Einzig durch vorschnelle Entwicklung des nachdenksamen Intellektes. Durch beständige Wachsamkeit, durch schnelles Erfassen aller Widersprüche oder Fehlerhaftigkeiten seiner Umwelt.

Dieses frühreife Bestreben, Urteile zu fällen, dieses scheinbar unkindliche Denken, wirkte zunächst ergötzlich. Doch indem ich heranwuchs, machte mein Vorwitz die meisten Erwachsenen mir zu Feinden. Es war ja auch unleidlicher Widerspruch: Da war ein Knabe, der innerlich rebellierte, der jede faule Stelle an seinen Eltern und an seinen Lehrern blitzschnell erwittert, der von den Erwachsenen verlangt, daß sie Heilige seien, dabei in allen geforderten Leistungen des Könnens und Wissens vollständig versagt. Schon der Sechsjährige stemmt sich gegen das Schreiben. Er stemmt sich gegen das Rechnen. Er stemmt sich sogar lange gegen Lesenlernen, bis er endlich begreift, daß einzig durch Bücher eine bessere Welt sich erschließt. Ich brütete über Geheimnissen, von denen ich spürte, daß das Schulwissen sie verschütten werde.

Etwa ums neunte Jahr begann ich Verse zu machen. Bald wurde alles und jedes in Verse gebracht. Die lateinischen Vokabeln, die Geburtstage der Eltern, die Jahreszeiten, die Sagen und Geschichtsstoffe. Ich bewahre mehrere Bündel von Gedichten und Geschichten, die ich zwischen dem neunten und zwanzigsten Jahre mit unendlicher Sorgfalt zusammenschrieb, wobei sich leidlich die Wage hielten eine Neigung zum Ausspinnen phantastischer Bilder, der lyrische Drang zu Gefühlsergüssen und eine scharfe Hinneigung zu Satire und zu entrüstetem oder witzigem Weltrichtertum. Um die selbe Zeit, wo ich zu dichten begann, wurde ich fromm.

Ich führte ein eigentümliches Gebetsleben. Die Phantasie war bevölkert von Gestalten, die mich liebten und zu mir hielten. Eine jener Phantasien, die ich jahrelang ausspann, noch als ich schon lange auf den Bänken der Lateinschule marternde Langeweile erlitt, war die folgende. Die Decke des Schulzimmers klafft plötzlich auseinander. Sichtbar wird »das Reich der seligen Geister«. Von oben tönt eine Stimme. Das ist »die Musik Gottes«. Er ruft die Namen der »edelsten Kinder«. Zuoberst meinen Namen. Nun werde ich »Klassenprimus«. Bisher war ich immer »Pluck«. Die Engel werfen Blumen. Sie werfen Chokolade. Sie kommen mit goldenen Kronen und blauseidenen Fahnen. Die Eltern kommen, die Lehrer kommen. Alle, die mich so langweilen, alle, die mich quälen. Sie fallen betend in die Knie. Sie sagen: »Ja, das haben wir nicht gewußt.« Und es ereignet sich alles wie beim Aschenputtel, die den Prinzen bekommt. Wie bei Hans dem Träumer, welcher König wird. Wie beim kleinen David, der den Goliath besiegt. Wie beim häßlichen jungen Entlein, das eigentlich ein Schwan ist. Kurz, wie bei all den Gequälten, mit denen ich mich gleichstellte.

Eine andere beliebte Vorstellung war diese: Es stellte sich heraus, ich sei Findelkind und eigentlich »von königlicher Geburt«. So ähnlich ging das zu in »Zigeunerfriedel«. Das war mein Lieblingsbuch, von einem Manne namens Franz Hoffmann geschrieben und handelnd von einem Knaben, der durch tausend Gefahren und Mißhandlungen hindurchkommt, bis sich endlich herausstellt, daß er der verloren geglaubte Fürstensohn ist. Von dieser Art waren alle Wachträume. Immer war ich darin etwas Hoch-Edles: Engel, Prinz, Ritter, Retter der Unschuld. Sie dürften auch mein äußeres Benehmen gestaltet haben. Denn völlig eingeschüchtert und unbrauchbar, war ich doch zugleich anmaßlich-abweisend. Immer der schwächste Schüler in der Klasse, muckend und kaum zum Reden zu bewegen. Aber wenn ich dann redete, so kam etwas überraschend Beleidigendes zum Vorschein. Durch meine ganze Jugend tönte der Hohn des Vaters, der, sooft er ins Zimmer trat, sofort mich reizte oder giftig machte oder niederduckte mit seiner beliebten Anrede: »Sollen wir huldigen? Geruht der große Mann zu uns gewöhnlichen Sterblichen herabzusteigen?«

Daß ich mich verpanzerte mit Trotz und scheinbarer Selbstherrlichkeit, daß ich, ein Ehrfürchtiger und Bescheidener, durch Witz, Geist, Frechheit, Kühnheit mich so verteidigte, wie eine bedrohte Knospe sich verteidigt, indem sie sich in Dorn wandelt, – (denn Dornen sind verkümmerte Knospen) –, wer von den Bildnern meiner Jugend hat das gewußt? Mit ein wenig Freude wäre der für ein zartes Kind zu schwere Panzer leicht zu sprengen gewesen. Da aber keiner half, so rettete ich mich in Gott.

Mein Glaubensleben war heidnisch. Es gab Steinfiguren und Holzpfähle, die ich Vater und Mutter nannte und zu denen ich ein geheimgehaltenes Verhältnis hatte. Das dauerte bis ins dreizehnte Lebensjahr. Um die Zeit der Entwicklungsjahre wurde die selbstgebaute Glaubenswelt unsicher. Mit sechzehn Jahren tat ich mir viel darauf zugute, ein vollkommener Atheist und Freigeist zu sein, ging mit Vorliebe insgeheim in Versammlungen der Freidenker und schrieb lange Abhandlungen über den Unsinn der Bibel und über den Aberglauben aller Religion. Als kleiner Knabe dagegen konnte ich nicht einschlafen, ohne den Kopf an Gottes Herz zu legen. Ich liebte getragene fromme Lieder, die ich im Dunkel zu meiner Ermutigung sang. »Laß nur die Woge toben, die an dein Schifflein schlägt, es lebt ein Gott dort oben, der deine Leiden wägt.«

Dies Gebetsleben begann, als bei einem Besuch beim Großvater in Düsseldorf das Kindermädchen mit uns in katholische Kirchen ging. Dort hatte ich beobachtet, daß kleine Knaben vor dem Altare knieten, Blumen hinlegten und das Kreuz schlugen.

Es ist nun kaum wiederzugeben, woran die Altarbank und ihr Teppich mich erinnerten und woran die Phantasie ihre Andacht knüpfte, nämlich an die mit einem Teppich überzogene Stufe vor dem Klosett in dem roten Hause in Hannover. Diesen Raum also erwählte ich zum Tempel meiner Gefühle und versuchte, so oft ich nur konnte, mich dort einzuschließen, um auf der Stufe niederzuknien, das Kreuz zu schlagen und stumme, verzückte Gebete zu verrichten. Dieses wunderliche Wesen blieb aber nicht ungemerkt. Es wurde mir verboten, mich in dem Raume einzuriegeln. Da ich es doch wieder tat, als einzige Möglichkeit, bei Gott zu sein, so nutzte das meine Teufelin zu jenen Verdächtigungen, die ihre Versündigung an den ihr ausgelieferten Kindern verbargen. Das Einschließen auf dem Klosett setzte Strafe.

Es ist nun schwer klarzulegen, was doch im Erleben einfach gewesen ist, daß diese Strafe gradezu gesucht, und daß sie die früheste Quelle einer geschlechtlichen Erfahrung gewesen ist, welche Erfahrung zusammenhing mit Angst, Grauen, Schrecken, aber auch mit merkwürdigen religiösen Gefühlen von Märtyrerstolz und von »Gott«. Es war nämlich wirklich so, daß das ekstatische Beten sowohl mit einer Art Wollust wie mit einem schlechten Gewissen verbunden war, aus dem heraus ich mich dann selbst zur Strafe drängte, indem ich ganz ahnungslos mich bei dem rothaarigen Kinderfräulein bezichtigte: »Ich habe es wieder getan.« Worauf dann diese, vielleicht sogar in dem Gefühl, daß sie im Rechte sei oder daß wirklich ein Laster vorliege, mich zum Vater brachte, vor dem ich ihre Anschuldigung wider mich bestätigte, und der nun in hemmungsloser Wut ihr befahl, mich über den Stuhl zu legen und mich mit einem Rohrstock züchtigte; eine körperliche Zerrüttung, welche gleichzeitig noch eine Art »Stolz« enthielt, für Gott und im Bunde mit Gott zu leiden. Derartige Abscheulichkeiten dauerten noch, als die rote Anna längst aus dem Hause war. Mein Vater griff, sobald ihn der Jähzorn packte zu Stock und Reitpeitsche, trat mich wohl auch mit den Füßen. Etwa in meinem fünfzehnten Lebensjahre verletzte er durch einen Schlag einen Rückenmuskel. Von da ab war die ewige Mahnung »Halte dich grade« unerfüllbar. Ich habe nie wieder im Leben ohne Schmerzempfindung den Rücken grade strecken können ... –

Wäre nun ein sorgsamer Seelenkenner dagewesen, so hätte ihn schon der eine Umstand verwundern müssen, daß ich alle Blumen, deren ich habhaft wurde, immer just in diesen Raum trug und auf dem Deckel niederlegte, denn so hatte ich das in Düsseldorf in der Kirche gesehn und verknüpfte damit das Gefühl, Gott etwas zu opfern und ihn zu erfreun. Alles, was mit dieser religiösen Ekstase zusammenhing, hat dahin gewirkt, das Nervensystem frühzeitig zu schwächen; nur daß die Zusammenhänge anders lagen, als die Umgebung ahnte und daß nicht etwa diese geheimen Aufschwünge, die als Sünde bestraft wurden, sondern daß die Strafe das eigentlich Gefährdende und für das Kind Verwirrende war. Ja, ich halte für möglich, daß die dauernde Züchtigung auf Rücken und Gesäß mit der geschlechtlichen Tönung der verwickelten Vorgänge zusammenhängt. Am verwickeltesten aber für den Seelenzustand war das geheime Wissen, daß die Inhalte meiner Gebete in der Tat mit schuldhaft furchtbaren Dingen zusammenhingen. Um was nämlich betete der Sechsjährige?

Soweit die Gebete überhaupt klaren Inhalt hatten, kreisten ihre Gedanken um Zweierlei. Erstens um die Sehnsucht nach einem andern Kinde, dem ich mich mitteilen und das mir helfen würde. Ich wünschte mir einen Bruder, aber bedachte nicht, daß dieser Bruder, um den ich bat, so viel jünger sein würde und mir also schwerlich würde helfen können. Meine Vorstellungen über Entstehung, Herkunft und Geburt der Menschen, blieben lange sehr kindlich unbestimmt. Ein Mitschüler war es, der in der Sexta mir zuerst anvertraute, daß »die Kinder aus dem Leibe der Mutter kommen«. Ich betete seitdem etwa so: »Bitte, lieber Gott, lasse aus Mamas Bauche am nächsten Sonntag um zwölf einen Jungen kriechen.« War dann am nächsten Sonntag, als die geliebte Kuckucksuhr zwölf schlug, das bestimmt erwartete Ereignis nicht eingetreten, so lautete das nächste Gebet unter kräftigeren Beteuerungen und Beschwörungen: »Dann lieber Gott wenigstens bis zu meinem Geburtstag.«

Dies war der erste Kernpunkt meiner Gebete. Viel weniger harmlos aber war der andere. Es war das Gebet um des Vaters Tod. Ein Seelenforscher von heute würde sofort bei der Hand sein mit der beliebten Formel vom »Oedipuskomplex«. Aber so gewissenhaft ich nachprüfe: Die Abneigung gegen die Mutter war genauso ursprünglich und triebhaft wie der Haß gegen den Vater. Der Druck, den der Vater übte, war so schwer, daß ich noch als reifer Jüngling, wenn ich ihn mittags schlummern sah, unwillkürlich den Gedanken hatte: »Jetzt könntest du es tun. Erwürge ihn, und alle wären befreit.«

In der Kindheit ließ die Mutter mich wenigstens ungeschoren, während der Vater unaufhörlich an mir besserte. Nichts an mir gefiel ihm. Ich war nicht blond wie er und nicht fröhlich wie er. Die religiösen Träumereien, der Hang sich zu verkriechen, das Grüblerische, Besinnliche, Wehleidige, das lag alles seiner weltzugewandten, ehrgeizigen Natur himmelfern. Und da er vor dem Kinde kein reines Gewissen haben konnte, wenn er bedachte, wie es gezeugt und geboren ward, so rächte er seine Unsicherheit, indem er sich selber einredete, daß der vorbeigeratene Junge seiner Liebe nicht wert sei. Er hatte vor sich selber nötig, mich herabzudrücken, und wie immer auch in den späteren Jahren unsre Beziehung schwankte, eines war immer dasselbe für beide: »Der oder ich?«

Ich konnte nicht nur seiner nicht froh werden, so lange er lebte, nein, ich konnte, und das war entscheidender, in seiner Gegenwart nie meiner selber froh sein. Denn was ein jeder von uns etwa an Vorzügen hatte, unter der Werthaltung der anderen Natur wurden es Nachteile. Und wuchsen mir Stacheln, so konnte ich sie nicht gegen ihn kehren, denn der Vater tat alles, um sie tiefer in mein eigenes Fleisch zu treiben, indem er alles und jedes an mir verspöttelte, wie ich ging und stand, die Form der Nase und die blasse Farbe des Gesichts, das verträumte Wesen, das ängstliche Sprechen. Ich brauchte gar nicht zu erwidern, alles wurde doch nur lächerlich, unerfahren, verstiegen und komisch befunden.

So mußte Hoffnungslosigkeit erwachen, sobald ich über den ersten dumpfen Schlaf der Kinderjahre hinaus kam. Die Welt erschien mir nur als Leidensstätte. Die Menschen als Quäler oder Gequälte. Ich verschloß und verkroch mich, obwohl von starkem Temperament und frohem Naturell. Unter den Menschen die das Elternhaus bevölkerten, gab es keinen, der ein Kind ernst nahm. Und so machte ich rührselige, tränenreiche Gedichte, als ich kaum schreiben gelernt hatte. Es war mir heilig Ernst damit, und doch hätte jeder mit Recht dieses angelesene Zeug komisch finden müssen. Unter den frühesten Reimereien befinden sich Ausbrüche von Lebensüberdruß, wie ein so junges Kind sie wohl selten ausprägt.

»O Mensch, du erbärmlicher Erdenkloß
Du willst die Krone sein von allen Dingen
Und mußt dein Leben lang mit Lastern ringen,
Der du erstanden aus der Erde Schoß.
Was ist die Erde denn? Ein Jammertal
Ein Tal voll lauter Leid, voll Jammer und voll Qual
Nicht wert, daß Dichter dieses Tal besingen.«

Es ist merkwürdig, daß der Neunjährige solche halb angelesene, halb wildursprüngliche Ausbrüche bemäntelte, indem er sie in ein späteres Alter vordatierte, oder ihnen Titel gab wie etwa »Des müden Greises Wunsch«, womit er gleichsam sich selber ironisieren wollte in dem dunklen Gefühl, wie unnatürlich und sinnlos solche Geständnisse im Kindermunde waren, aber dennoch war es recht eigentlich meine eigene Todessehnsucht, die ich verbarg in ungeschickte Reimerei:

»O wär ich tot. Zu Ende wär dies Ringen
Die Mühen und die Leiden all zu End
Ich dürfte endlich Friedensruh genießen
Nach vielen Schmerzen ich die Ruhe fand.
Herr, laß mich doch zu Deines Himmels Freuden
Laß mich vergessen diese Erdenleiden
Erbarme Dich, Du allbarmherziger Gott
O wär ich tot!«

Ja, dies waren echt gefühlte und doch nur eingewehte, noch nicht aus dem Herzmark gebrochene Worte. Es war, wie der spätere Zertrümmerer meiner Kinderwelt, der glückliche Stefan George dichtete ... »Es war noch die Kamöne, die blaß und zagend sich empört, durch viele fremde Töne, bang vor sich selbst die eignen hört«; aber wenige Jahre später, etwa im fünfzehnten, befreite sich die Qual in prachtvollen Flammen sehnsüchtiger Empörung:

»Ihr goldenen Wolken durchwandernd den Aether
Der endlos sich über den Erdstaub spannt
Tragt mich hinweg auf der Sehnsucht Flügeln
Hinweg, nur hinweg in mein Heimatland.

Du reinklare Bläue, du zarter Schleier
Du wildgezackter Wolkenhauf
Laß nicht ersticken im Erdenkote
Lichtschmachtende Seele, trag sie hinauf.

Pfui! Ekel packt mich, wilder Ekel
Vor diesem verfeinerten Viehgeschlecht,
Daß ich im uferlosen Meere
Mit euch, ihr Wolken verschweben möcht.

O rettet, rettet meine Seele!
Ward sie in diese Brust gesenkt
Daß sie des Tages Gekeif und Gewider
In einem Meer von Gemeinheit ertränkt?

Gott, laß mich nicht alles alles Beßre
In Erdenschmutz ersticken sehn
Mach rein mich oder laß mich sterben
Nur schnell, nur schnell zu Grunde gehn.«


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