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6. Die Schule

 

»Bisweilen kommt der Knabe mich besuchen,
Der einst mit meinem Namen hieß,
Er kommt und schweigt, nur seine Brauen fluchen,
Weil ich so viel aus ihm verderben ließ.«

 

Als ich sechs Jahre alt geworden war, ein zarter Knabe mit bleichem Teint und blauschwarzen Locken, hieß es eines Tages: »Nun kommst du in die Schule.« Darauf soll ich gefragt haben, ob ich nun auch wie die Großen an den Sonntagen frei bekäme, und da man mir diese Freiheit verhieß, so hatte ich den innigen Wunsch, in die dritte Vorklasse aufgenommen zu werden. Der Ranzen mit Seehundsfell, die hellgraue Federbüchse und vor allem die Butterbrotdose, gelb lackiert, mit der Aufschrift »Guten Appetit« verlockten zu herrlichen Aussichten.

Ein eisgraues Männchen trat eines Morgens in das Spielzimmer, um mich für die neue Welt vorzubereiten. Er zog eine Handvoll vergoldeter Nüsse aus der Tasche, legte eine Nuß vereinzelt und dann eine zweite dazu und fragte, wie viele Nüsse das seien, und da ich antwortete »zwei Nüsse«, so lobte er mich und sagte: »Jetzt kannst du rechnen.« So dachte ich mir das Rechnen leicht und bestätigte auch willig, daß eine weitere Nuß zu den zweien hinzugefügt, der Nüsse drei ergäbe. Aber als die Fragen vertrackter wurden, da begann ich zu ermüden, und als er zu fragen nicht aufhörte, heulte ich und entschied: »Rechnen will ich nicht.«

Aber auch mit dem Lesen erging es nicht anders. Der bunte Apfel und das komische Eselein lockten zwar in die Fibel, aber als aus der Bilderschau wieder nur unangenehme Fragen heraussprangen, da merkte ich, daß die Großen den Kindern nur darum schöne Bilder zeigen, um sie in das Dickicht des Denkens zu verstoßen.

»Es wird im Klassenunterricht besser gehn«, meinte der Alte, aber als ich nun am Georgenwall in der Schulklasse unter dreißig andern Knaben saß, da begann erst das richtige Trauerspiel. So oft Herr Meier mich auch ermahnte: »Paß auf«, immer blickte ich grade dorthin, wohin ich nicht blicken sollte. Nach dem Vogel vor dem Fenster, nach der Wolke, die sich im Fensterglas spiegelte, nach den Feuerfunken, den Wassertropfen, und die Verträumtheit erwies sich als unaustreibbar. Ich war der Klassenpluck und blieb es durch vierzehn Jahre, wunderlich unbelehrbar. Als ein Beispiel dieser eigentümlichen Unbelehrbarkeit bekam ich in späteren Jahren oft das folgende Geschehnis vorgehalten. Der Straßenübergang von unserm Hause zu dem gegenüber liegenden Café Robby (heute Café Kröpcke) galt als gefährlich für einen kleinen Knaben, denn an dieser Ecke kreuzten viele Pferdebahnen. Darum wurde ich von Fräulein Mohwinkel über den Platz hinübergeleitet, und es war mir anbefohlen, vormittags nach Schulschluß so lange zu warten, bis das Fräulein komme und mich hole. Nun geschah es aber einmal, daß aus irgend einem Grunde der Unterricht um eine Stunde früher beendet wurde, und da kein Fräulein da war, so ging ich allein bis vor unser Haus; dort aber erinnerte ich mich an das Verbot, ging zur Schule zurück und von der Schule wieder ans Haus und so hinüber und herüber, bis endlich das Fräulein kam, auf das warten zu müssen mir eingeprägt war.

Wenn ich solcher Züge von Dumpfheit mich später schämte, so denke ich an ein anderes Ereignis, das in mein siebentes Lebensjahr fällt, mit großem Vergnügen, denn bei ihm offenbarte sich der wachgewordene Wille.

Im Jahre 1879 kam der greise Kaiser Wilhelm I. zum ersten Male nach Hannover, empfangen von allen Behörden, Verbänden und Vereinen der Stadt. Es waren dreizehn Jahre seit der Angliederung an Preußen verflossen. Der siegreiche Krieg gegen Frankreich hatte Preußen an die Spitze des deutschen Reiches gebracht. Die Menschen vergessen schnell. Die Bevölkerung Hannovers war zum größeren Teil für Kaiser und Reich gewonnen. Der achtzigjährige Monarch eroberte alle Herzen, als er die Stadt zu seiner zweiten Residenzstadt ernannte. Als sein Statthalter wohnte Prinz Albrecht im Leineschloß. Ihn besuchten Kaiser und Kaiserin mit sämtlichen Prinzen, mit Reichskanzler, Kriegsminister und Generalität. Die Straße zum Bahnhof, deren Mitte eine schöne Akazienallee schmückte, war den Schulen eingeräumt. Alle Kinder der Stadt bildeten Spalier. Die festlichen Equipagen fuhren langsam durch die Gasse der Kinder. Lange vorher war uns die Geschichte des großen Krieges von 1870 erzählt worden. Unsere Lehrer waren ja alle gute Preußen, »Kuckucks«, wie die alten Hannoveraner sagten, indem sie den preußischen Adler, den die Soldaten als Kokarde an der Mütze trugen, als einen Kuckuck deuteten, »der in fremde Nester seine Eier legt«, wonach noch heute in Hannover eine Fluchformel üblich blieb: »Scheer dich zum Kuckuck.«

Versunken in Träumerei konnte ich von all den deutschen Heldengeschichten immer nur das Eine auffassen, daß Bismarck unserm Könige die Pferde, die Springbrunnen, die Gärten von Herrenhausen fortgenommen habe, das Gewächshaus, das Schloß mit den blauen Jalousien und alle die mir vertrauten Herrlichkeiten. Alles hatte Bismarck fortgenommen. Bloß weil der gute König nicht beim Kriegführen hatte helfen wollen. Was ging mich denn eigentlich der Krieg mit Frankreich an? Ich träumte, daß wenn ich erst groß und stark geworden wäre, Bismarck zum Zweikampf gefordert werden solle. Ich würde ihn besiegen, dann aber edel sein und ihm sein Leben schenken. Und um die Hohenzollern auszusöhnen, gedachte ich die Prinzessin Margarete zu heiraten, die jüngste Enkelin des Kaisers. Mit der wollte ich in Herrenhausen wohnen und über Hannover herrschen. Wenn ich, wie es damals üblich war, von den Erwachsenen gefragt wurde: »Hast du auch eine Braut?« dann antwortete ich stets »Prinzessin Margarete«. Sie war die Erwählte meiner Träume, hat aber später den König von Griechenland vorgezogen.

Vor dem Einzug des alten Kaisers wurden wir im Schulhof an der Prinzenstraße versammelt und dort erhielt jeder Junge ein Eichenreis, das wir an die bunte Klassenmütze steckten. Von Herrn Meier, dem ungeheuer dicken Lehrer, wurde uns eingeprägt: »Bei jedem Prinzen schwenkt ihr die Mützen und ruft ›Hurrah‹. Aber wenn Bismarck kommt, dann schreit jeder so laut er schreien kann: ›Hurrah Bismarck!‹ Wer kann am lautesten?« Mein Entschluß stand fest: ich werde nicht mitschreien. Ich werde keinen Prinzen grüßen. Und wenn Bismarck kommt, dann werde ich ihn spüren lassen: »Ich verachte dich.« Dieses Stückchen Fronde war für einen sechsjährigen Knirps keine Kleinigkeit. Wir zappelten durch die Akazienallee. Wir warteten auf die Equipagen, die zum Leineschlosse fuhren. Die Straßen waren schön mit Wappen und Guirlanden geschmückt. Aus den Fenstern hingen Teppiche. In manchen Fenstern brannten am hellen Tage Lichter. Über den Dächern wehten Fahnen schwarz-weiß oder schwarz-weiß-rot, aber gelb-weiß war nicht dabei, und das war die Farbe meines Herzens. Und dann kam der alte Kaiser mit dem schneeweißem Vollbart, an der Seite des schönen Prinzen Albrecht, und im zweiten Wagen die alte Kaiserin Augusta. Sodann Kronprinz Friedrich Wilhelm und Kronprinzessin Viktoria und die jungen Prinzen Wilhelm und Heinrich. Erst als der Hof vorüber war, kamen Bismarck und Moltke. Langsam, ganz langsam fuhr Bismarcks Wagen, so daß wir ihn deutlich sehen konnten. Und während alle jubelten und die bunten Mützen schwenkten, drückte ich die meine trotzig in die Stirn, nachdem ich das Eichenlaub heruntergerissen hatte, ballte in der Tasche die Faust und warf Bismarck einen verachtenden Blick zu, durchbohrend, fest überzeugt, daß er alle meine Vornahmen bemerke und nun Bescheid wisse für die Zukunft; achtete auch nicht auf den Tadel Herrn Meiers und auf die Püffe von Seiten der Kameraden, sondern hatte unter dem johlenden Pöbel das Gefühl: »Der einzige Gerechte.«

Solche Unarten hatte ich an meinen Haaren zu büßen, die Qual des ersten Schuljahres, denn die Mitschüler zerrten gern an den langen Locken und sagten »Mädchen«, die schlimmste Beleidigung, die man mir antun konnte, und auf die ich, sonst lammfromm, blindlings mit einem Wutanfall erwiderte, auf Tod und Leben gegen den Beleidiger stürzend. Es war ein Augenblick der Erlösung, als der halbblinde uralte Sehring bestellt wurde, um die verhaßten Locken abzuschneiden.

Schon auf der Vorschule begann jenes unheimliche Nachhilfe-System, das während der ganzen Schuljahre anhielt. Man konnte meinem Vater nicht verdenken, daß er an der Tauglichkeit des Sohnes verzweifelte, denn es war nicht möglich, daß mehr für die Nachhilfe eines Schülers getan wurde als für mich geschah. Die Primaner, Lehramtskandidaten, Privatlehrer, Bonnen, denen meine Nachhilfe anvertraut wurde, dürften eine kleine Legion bilden. Bis zum dreizehnten Lebensjahr, bis Untertertia, wurde ich immer noch grade eben mitgeschoben. Zwar blieb ich stets der schlechteste in der Klasse, wurde aber dann zu Ostern unter etwelchen Bedingungen der Nachhilfe doch noch eben mitversetzt. Denn entweder waren meine Lehrer Patienten des Vaters oder waren mit irgendwelchen Klienten verwandt oder sie wurden von meinem Vater aufgesucht – (er nannte das »Kanossagänge« machen) – und gebeten, mir Nachhilfestunden zu geben oder wenigstens einen Hilfslehrer zu empfehlen. Mit dem einen spielte er Billard, mit dem zweiten trank er Frühschoppen, der dritte dankte ihm eine Gefälligkeit. Unser Haus galt als angenehm und für den unbrauchbaren Jungen verwendete sich bald mal Oberbürgermeister Rasch und bald mal Senior Flügge und schließlich gar der Herr Regierungspräsident.

Wäre nun aber unter den Lehrern ein Nachdenklicher gewesen, der das Kind bei der Hand genommen und auf Spaziergängen kennenzulernen sich bemüht hätte, der das kindliche Leben geteilt oder auch nur ernst genommen hätte, so wäre es ihm bald klar geworden, daß das Schulsystem wie das Elternhaus einen guten Stoff schmählich verpfuschte. Aber kein Lehrer kümmerte sich außerhalb der Unterrichts-Pflichten um die Welt der Kinder. Außerhalb der Klasse, als Einzelzögling, wäre ich ein veränderter Junge gewesen. Aber die zuerst als Götter bewunderten, schließlich als Teufel gehaßten Lehrer sprachen mit mir nie von meinen Tieren, meinen Eltern, meiner Schwester. Der allgemein geschätzte Vater erschien ihnen Achtung gebietend. Von diesem liebenswürdigen Manne hätte keiner vermutet, daß er das Verhängnis für seinen Sohn sei: ein Grillenfänger und Befehlerles, launenkrank und ohne Gleichgewicht. Und doch war er das alles und selber ein der Leitung bedürftiger glückloser Mann. Sie diktierten Extemporalien, sie erteilten Zensuren. Sie hielten mich für wohlmeinend, aber minderwertig. Sie schoben mich weiter, um dem Vater gefällig zu sein. Das ging bis zu dem Zeitpunkte, wo aus dem Duckmäuser ein Kritiker sprang und der Verschüchterte »ehrfurchtslos« wurde. Da begann der Kampf.

Von welcher Art waren die Lehrer? Sie waren nicht die weltfernen Gelehrten und Idealisten des Ehemals. Sie waren, wie man das damals nannte: »Moderne Menschen«. Preußische Beamte, Leutnants der Reserve, kaisertreu und sehr vaterländisch. Sie waren erpicht auf Standesehre und Standesgemäßheit. Denn der Oberlehrer galt in der Gesellschaft nicht ganz so viel wie der Amtsrichter oder wie der Sanitätsrat und kompensierte sein bescheidenes Gehalt durch um so strengere Schneidigkeit. Er war der Männertyp, der beständig männerte. Forsche Haltung war in jeder Lage Hauptsache. Und so waren es plumpe Menschen ohne Seelenfeinheit, denen die adeligste Blüte der Erde, das Erbe der griechischen und römischen Vorwelt anvertraut ward, um daraus einen »Prüfungsstoff« für die Jugend zu machen, welche an Homer und Horaz sich »Berechtigungen« ersitzen oder erschwindeln mochte. Wer bis Sekunda durchhielt, brauchte statt dreier Jahre nur ein Jahr im deutschen Heere zu dienen. Wer aber gar die Prima absolvierte, der hatte die Möglichkeit ein höherer Mensch mit Doktortitel zu werden. Alle aber, mit Ausnahme der dümmsten, welche alte Philologie studierten, warfen nach dem Abgang von der Schule diesen ganzen humanistisch-klassizistisch-griechisch-lateinischen Plunder auf immer in die Ecke und blickten als Assessoren, Regierungsräte und Ministerialräte niemals wieder in die alten Schwarten.

Wenn die Erinnerung den endlosen Reigen vergegenwärtigt, den endlosen Reigen meiner Kerkermeister, diese Zezeh, Pachun, Tekel, Manke, Pinscher, Hornepipen – (so lauteten ihre Schulnamen, im Bürgerlichen waren das die Herren Capelle, Freye, Scheller, Müller, Kiel und Hornemann) – wenn ich diese vielen unterschiedlichen Gesichter wieder vor mir sehe, so erscheint im milderen Lichte des Alters wohl das eine oder andere als das ganz brave Gesicht eines braven Philisters, aber nicht eines ist darunter, an das ich mit Zärtlichkeit, keines an das ich mit Ehrfurcht zu denken vermöchte und an die meisten denke ich mit Zorn, mit Verachtung, ja mit Ekel und Widerwillen.

Dieses humanistische deutsche Gymnasium mit Patriotismus, Latein und Griechisch als Hauptfächern, Mathematik, Geschichte und französischer Grammatik als Nebenfächern – (Englisch war noch nicht obligatorisch) –, diese halb auf Ämterwettlauf und Streberei, halb auf eine verlogene, deutschtümelnde Phrasenhaftigkeit aufgebaute Menschenverdummungsanstalt war nicht nur ungeheuerlich gewissenlos, – sie war vor allem langweilig, langweilig bis zum Stumpfsinn! Meine ersten Bücher, die heute leider verschollen sind, bewahren die Sehnsüchte und Qualen dieser Zuchthausjahre. Nichts, nichts, nichts könnte je gutmachen, was diese fünfzehn Lebensjahre in mir zerstört haben. Noch heute träume ich fast allnächtlich von den Folterqualen der Schulzeit.

Ich war ein leicht bewegliches und rein gestimmtes Kind, dessen stärkste Gabe jene Eindrucks-Bereitschaft war, die ich später als Seelenforscher mit den mittelhochdeutschen Worten Ahmung und Mitahmung zu kennzeichnen unternahm, jenes Wissen um das Lebendige vor aller Subjekt-Objekt-Relation, unser Mitschwingen im kosmischen Fluidum. Das war eine magisch-mystische Befähigung. Aber Steine, Steine, Steine wurden daraufgeschüttet und Sand, Sand, Sand darübergekarrt so lange, bis keine ungehörige unschulgemäße Blume mehr durchbrechen kann.

Ich bin selber Lehrer geworden, habe viele Hunderte unterrichtet, Knaben wie Mädchen und Erwachsene wie Kinder. Schulreformen und Schulreformer habe ich in Massen erlebt und gekannt. Der eine wollte die Erziehung gründen auf Wahrheit und Vernunft. Der zweite auf Wille, Sittlichkeit und Pflicht. Manche redeten von Charakterbildung. Sehr viele von Handfertigkeit, Praxis, Berufsertüchtigung. Alle stimmten überein in der Verdammung der alten Buchdruck- und Tinten-Erziehung und alle wiederholten die volkstümlichen Schlagworte: Anschauung, Wirklichkeit, Leben und immer wieder »Leben«. Nur Eines habe ich nie gefunden: Erziehung, aufgebaut auf dem unmittelbaren Element des Lebens: auf Bildern, auf Phantasien, und immer kam zu kurz just das, was der Deutsche am meisten im lauten Munde führt: das Gemüt, der Humor. Meine Welt aber war Gemütswelt. Früh aufgestachelt war das Bedürfnis nach Schönheit, nach Zartheit, nach Freude. Nestwärme tat not, weil die Mutter versagte und die natürliche Liebe zur Mutter immer wieder enttäuscht ward. Die Schule aber war nichts als Sport und Rennbahn. Die klug Berechnenden waren im Vorteil, die stark Wollenden bevorzugt, aber die Sinnigen wurden überrädert. So war es denn kein Wunder, daß die Schule ein tragisches Weltbild in mich senkte, ein zynisches, verzweifeltes, das ich schon im vierzehnten Jahre folgendermaßen formulierte: »Zeig eine Blöße, der Pfeil sogleich dir im Busen sitzt; jeder ist das, was zu sein er die nötige Frechheit besitzt. Keine Stunde des Tages vergiß, was man sagt, was man tut: Leben, dein Leben ist Wettlauf und Kampf, voll Jammer und Blut.« So fühlte ich mich von Frühauf vor einem Parterre von Feinden. Jeder neue Mensch brachte neue Gefahr.

Die gräßliche Langeweile des Unterrichtsbetriebes wäre zu überstehen gewesen. Die Trottel und Trampel unter den Lehrern ließen uns wenigstens in Ruhe und wollten nicht Eindruck erschinden. Aber eine beständige Gefahr und ewige Qual waren die sogenannten »starken Persönlichkeiten«. Alle die vielen Selbstbewußten und Selbstgewissen, die ohne Spürsinn für die Besonderheit eines seltenen Falles, das Kind nach ihrer eigenen Lebensansicht beseligen und das nachgiebige Wachs mit ihrem Stempel prägen wollen. Immer wieder stand ich vor »autoritativen Männern« gleich meinem Vater. Alle hatten Urteile. Alle stellten Forderungen. Alle forderten Bewunderung, mindestens Gehorsam. Und der wehrlose Junge schauderte vor diesen unerreichbar Großen in seines Nichts durchbohrendem Gefühle ... Die Schüler waren nicht seelenvoller als die Lehrer. Es war eine grobdrähtige Jugend mit dicken Nerven und hungrigen Mägen. Gleichgültig gegen Homer und Sophokles, gegen Goethe und Schopenhauer, gleichgültig gegen alles, was nicht greifbar und eßbar ist, aber durchaus bereit, alles zu erlernen und abzuleisten was notwendig ist, um mit vierzehn Jahren, so Gott will, das Einjährigenzeugnis und damit die Berechtigung zur kleinen Beamtenlaufbahn zu erlangen. Dummköpfe waren das nicht. Auch sie hatten keine Liebe für die Schule, auch sie taten nicht mehr als zum Fortkommen eben nötig war, aber sie hatten ein normales Elternhaus und normale Umgebung. Sie waren bessere Lernköpfe oder robustere Schlauköpfe oder einfach ausgeschlafene, ausgeruhte Köpfe, nicht wie der meine belastet mit Rätseln und Grübelei. Und weil sie weder eine Geburtslast noch eine Gedankenlast auf ihre Flügel zu nehmen hatten, so konnten sie leichter fliegen lernen. Aber sie flogen gar nicht. Sie sprangen einfach auf Posten, auf Gipfel, deren niedersten ich mühsam erdienen mußte. So war es. Und so blieb es.

Eine der tollsten Erfahrungen war, daß fast auf der ganzen Schullaufbahn Deutsch und deutscher Aufsatz mein schlechtestes Fach wurde. Auch als schon kleine Aufsätze und Gedichte von mir in Zeitungen gedruckt wurden, erhielt ich in der Schule noch nicht die Normalnummer. Meine Jugend stand unter dem Zepter eines Schreckenswortes. Das Wort lautete: »Nicht schulgemäß.« Es mangelte nicht an Gedanken, Phantasie, Witz, Frische und Natur. Aber alles war: »Nicht schulgemäß«. Nur durch eine lange Schule des Nachahmens erlernte ich die geforderte Redeweise. Sie war nichts als Phrase. Aber diese Wortmacherei wurde als gültige Münze angenommen, und meine eigene natürliche Rede wurde hohler Schall gescholten.

Nur in zwei Fächern habe ich mich von früh an ausgezeichnet, in Religion und Gesang. Von den Schulerfahrungen in diesen beiden Fächern möchte ich einiges niederschreiben.

Der Religionsunterricht gefiel mir, weil ich das Märchenerzählen und Geschichtenausspinnen liebte. Ich hörte gern die wilden Legenden aus fernen Zeiten. Geschichten von Göttern, von Helden und Blutzeugen, die im Himmel Beistand hatten. Man ließ mich zunächst am allgemeinen Religionsunterricht teilnehmen, ohne mir zu sagen, daß ich ein jüdisches Kind sei. Zu Hause war nie vom Judentum die Rede. Es gab in der Familie keine jüdischen Bräuche mehr. Es entstand daher ein unklarer Riß, als mir ziemlich spät bewußt wurde, daß ich nicht, gleich den andern, Christ sei. Das Verspotten der Judenkinder war nicht bös gemeint. Das Wort Jude war für die hannoverschen Jungen ein Scheltwort wie Lork oder Buttjer. Man hänselte, und ich tat arglos mit. In der dreiklassigen Vorschule gab es außer mir nur zwei Judenkinder, Süßapfel und Ransahoff. Süßapfel war immer Erster der Klasse, Ransahoff, ein stark degenerierter Junge, wurde immer geknufft. Kinder sind grausam, und auch ich quälte den armen Ransahoff, bis er eines Tages, als ich zu ihm »Jude« sagte, antwortete: »Bist ja auch einer.« Ich sagte empört: »Ist nicht wahr«, erkundigte mich aber bei meiner Mutter, was ein Jude sei. Sie lachte und gab eine ausweichende Antwort. Einmal aber zeigte sie mir auf der Straße einen Mann im Kaftan und sagte: »Da geht ein Jude.« Daraus schloß ich, daß dann wir keine »richtigen« seien. Aber dies Wort Jude wurde mir unheimlich. Da ich alle die vielen vaterländischen und religiösen Vorurteile der Schule kindlich in mich einließ, und da zu Hause keine Gegengewichte wirkten, so glaubte ich, daß Jude etwas Böses sei. »Die Juden haben unsern lieben Herrn Jesum gekreuzigt.« Der Religionsunterricht wandelte sich von Klasse zu Klasse immer mehr in Glaubensunterricht. Schon als Neunjähriger fühlte ich mich von der allgemeinen Abneigung wider die Juden mitbetroffen. Unter den Kindern lief ein albernes Neckverschen um: »Jude Jude Itzig, mach dich nicht so witzig.« Sobald der Vers gesungen wurde, schämte ich mich, und diese Feinnervigkeit wurde von andern Knaben bald herausgefühlt. Wenn ich in das Klassenzimmer trat, so sangen einige Rauflustige: »Jude Jude Itzig, mache dich nicht witzig«, worauf ich losbrüllte: »Macht doch ihr mich nicht witzig.« In dieser Erwiderung lag schon meine ganze »Philosophie der Not«.

Solche Knabentragödien hinterließen eine Wunde, als in den Jahren der Geschlechtsreife der Haß gegen Vater und Mutter in Selbstzerstörung umschlug. Ich wußte mich unter dem Fluche einer belasteten Geburt, schlimmer als jedes Proletarierkind. Damit aber drohten der Seele viele mögliche Gefahren. Die Gefahr der Feigheit und der Lüge, die Gefahr der Wehleidigkeit und der Wehrlosigkeit, die Gefahr des Selbstbemitleidens, des Beeinträchtigungs- ja schließlich des Verfolgungswahnes. Wohin eigentlich sollte ich mich wenden? Woran rankend mich festhalten? Wäre in jenen Jahren nicht der Gefährte aus gesunderen Verhältnissen erschienen, so wäre ich wahrscheinlich zugrundegegangen. Denn das Leiden an meinen beiden Eltern mischte sich in der Reifezeit nun auch noch mit dem Leiden am Judesein und nahm bisweilen Formen an, die wohl schlechthin wahnsinnig genannt werden müssen.

Ich setze als ein Beispiel für tausend ähnliche ein paar Verszeilen her, aus den vielen Gedicht- und Tagebüchern, die ich etwa vom fünfzehnten Lebensjahre an zusammenschrieb. Es sind unheimlich selbstzerklüftende, grotesk zynische Verse:

»Mein Tate fraß Zypollen,
Großtate dito schon.
Ich hab nicht werden wollen,
Mein Name? Mauschel Cohn!
Frau Mamme, kann mans wehren?
Vererbte Feiglingsmark.
Der Vorzug zu gebären,
War billig: ›Zwölf Mille in Mark‹.
Da haben Primawechsel,
Auf mich sie ausgestellt,
Durch fällige Wechselwirkung
Erblickte ich die Welt.
Nun muß ich tragen lernen,
Daß auf die Welt ich kam.
Ich trachte nach den Sternen
Und handle mit Trödelkram.
So ironisierte sich Mauschel,
Bis alles ihn höhnt und verlacht.
Dann schlich er hinaus und durchheulte
Wieder mal eine Nacht.«

Welche Selbstzerklüftung eines zur ersten Aufklärung gelangten Knaben im Alter der Entwicklungsjahre hinter scheinbaren Zynismen verborgen lag, heute vermag ich es kaum noch begreiflich zu machen. Hier flossen vielerlei Qualen wie Krankheitsströme in einander. Qual an der früh durchschauten Geldheirat der Eltern. Qual an der eigenen Unzulänglichkeit. Qual am Judesein, das ich, von Vorurteil, Böswilligkeit, Unwissenheit umgeben, nur in jener albernen Verunglimpfung und Verzerrung zu sehen vermochte, die meiner ahnungslosen Umwelt eben natürlich war. Ein Kind zernagte sich! Es konnte nicht fertig werden mit der Erkenntnis, daß jedes Aufbegehren wider Abkunft, Elternhaus und Heimat just den Boden zerstört, aus dem allein Nahrung zu gewinnen ist. Es zerrte an der Nabelschnur, die ihm das Blut zubrachte. Zerriß sie, dann mußte der ganze Mensch verbluten. Die Wurzeln dieses Lebens waren vergiftet. Man kann sich später immer nur an Tatsachen erinnern, nie an die vitalen Zustände. Gedankenschlachten von ungeheurem Ausmaß mußten gewonnen werden, ehe diese Wunde heilte. Mein Buch vom »Jüdischen Selbsthaß« bewahrt noch Schatten dieser Erfahrungen.

Neben der Religion stand ein zweites Vorzugsfach der frühen Jahre: Singen und Deklamieren. Ich war reizbar für Musik, empfänglich für Rhythmen der Sprache, behielt schon als kleiner Knabe alles Gereimte leicht im Gedächtnis und konnte Gedichte mit erstaunlich frühreifem Ausdruck aufsagen. Das wurde bei den Schulfestlichkeiten in der »Aula der Hohen Schulen« von den Lehrern gern verwendet, womit doch nur eine ungehörige Eitelkeit gezüchtet wurde.

Ich sehe mich im Matrosenanzuge und kleinen Stulpenstiefeln auf dem Podium in der Aula stehen. Ich soll »Harras der kühne Springer« von Theodor Körner, aufsagen. Damals war ich neun Jahre alt. Der Klassenlehrer, Herr Wortmann, welcher hochbetagt gestorben ist, erinnerte sich noch nach fast fünfzig Jahren des Vorfalls. Ich harrte ängstlich bis meine Programmnummer an die Reihe kam, dann sprang ich frisch-fröhlich die zwei Stufen hinan, machte eine kleine Verbeugung und begann mit heller Knabenstimme, zu aller Erstaunen: »Harras der kühne Springer, von Theodor Lessing.« Kaum aber war dies Versprechen geschehen, so bemerkte ich schon, wie ich mich blamiert hatte. Die Lehrer auf dem erhöhten Podium lächelten zwar nur und flüsterten. Aber da drunten, die dreihundert Schüler johlten los. Ich glaubte vor Schreck zu vergehn. Herr Wortmann kam, nahm den Vernichteten bei der Hand und führte ihn zu seinem Platz zurück. Man hatte damals noch nicht die Gewohnheit, dergleichen, aus dem Vorbewußtsein quellende Vorgänge zu »analysieren«, sonst hätte man leicht gefunden, daß hinter dem Versprechen nichts anderes stand als ein Wunschtraum des Kindes: So ein Sänger und Held möchtest auch du werden. Solch ein Versprechen barg – ein Versprechen ...

Genau die gleiche Niederlage wiederholte sich bei einer Aufführung von Beethovens Neunter Symphonie. Ich hatte eine gute Sopranstimme, aber konnte mit dem Chore nicht Takt halten. Die Klasse sang schwerfälliger, derber und minder gefühlvoll. Sobald ich beim Chorgesange mich gehen ließ, setzte es von den Nachbarn Knüffe und Püffe. Wir retteten uns, indes wir mit den Stimmen Harmonie erzeugten. Unser Singlehrer, derselbe dicke Herr Maier, der in der untersten Vorklasse unser Klassenlehrer gewesen war, hegte als einziger aller Lehrer eine Vorliebe für den unbrauchbaren Knaben. Er war wohl selber ein Stück verunglückter Künstler. Er hatte wohl selber nie recht im Chore singen und Takt halten können. Bei jener Aufführung der d-moll-Symphonie nun hatten die Kinder zum Beschluß Schillers Hymnus an die Freude zu singen: »Alle Menschen werden Brüder«. Die Stelle beglückte und entrückte mich so, daß ich die Töne ungebührlich dehnte und laut fortsang, als der Chor pausierte, so daß Herr Meier abklopfen mußte und den ganzen Einsatz neu beginnen ließ. Dies war eine große Niederlage. Seither wurde mir verboten, je wieder in Gemeinschaft mitzusingen. Es war ein heimlich nagender Schmerz, aber zugleich Symbol für die ganze fernere Lebensbahn. Der Ausschluß von der Gemeinschaft wurde eingekleidet in ein Lob für die Person. Ich diente fortan als Vorsänger, mußte, ehe ein neues Lied geübt wurde, es als einzelner vortragen und der Klasse zeigen, was alles in dem Liede stecke. Dann aber, während die Klasse übte und sang, hatte ich still zu schweigen, um nicht zu stören. Meinem Freunde Ludwig erging es umgekehrt. Er konnte nicht als einzelner singen, aber trug den Chor und gab den Takt an. Immer vorsingen, niemals mitsingen; so war es, so blieb es!

Die Gefährten der frühen Schuljahre sind mir aus den Augen verschwunden. Nur selten bin ich einem Mitschüler wiederbegegnet. Aber eine der frühen Kinderfreundschaften hat sich in mannigfachen Wechselkreisen durch das Leben hindurch erhalten.

Ludwig Baehr, der älteste Sohn des Pastors an der Schloßkirche, war ein hochgewachsener, kräftiger Junge mit dunkelblondem Haar und treuen braunen Augen. Er war vom siebenten bis vierzehnten Jahr mein Mitschüler, und wir schlossen uns an einander, weil wir beide in einer Phantasiewelt schwammen. Er wollte Maler werden, ich Dichter. Wir wohnten im gleichen Stadtviertel und gingen auf dem Heimweg von der Schule die selben Traumwege. Er zeigte mir was er knetete, zeichnete, schnitzte; ich erzählte ihm phantastische Geschichten. Bei mancher Gleichheit der Gemüter lag doch in Baehrs Natur sicherer als in der meinen, die sinnfällige Beschaulichkeit des Träumers. Während meine Anlagen, wie es denn auch geschah, sich fortentwickeln ließen, nach der Seite des aktiven Kampfes und der sozialen Arbeit, war Ludwig Baehr ganz »Egozentriker«, ganz »Eidetiker«, ganz Auge, ganz Spiegel. Der Unterschied der Knaben zeigte sich zum ersten Male, als wir zehnjährig, geschmückt mit den blauen Mützen der Quarta, aus der Schultüre kamen, just in dem Augenblick, wo zwei durchgegangene, wilde, schwarze Pferde die Georgstraße heruntergesaust kamen. Alle Jungen liefen hinterher, und auch ich lief mit, voller Energie und sogleich gewillt, eine Heldentat zu verrichten, wie wir sie aus dem Lesebuch kannten. Ich würde den Rossen in die Zügel fallen und dem angebeteten Freunde Baehr, den sie totstampfen wollten, das Leben retten. Aber der kleine Baehr merkte rein gar nichts; er hätte sich wirklich arglos totstampfen lassen und hätte dabei Mund und Augen weit aufgerissen, ganz verzückt und versunken in diesen herrlichen Anblick wilder, springender Rosse; denn der Vorgang der Nähe kümmerte ihn nicht; er dachte sich nichts dabei und sah nur ein wunderbares Schauspiel. Dieser Freundschaft tat es keinen Abbruch, daß wir uns das ganze Leben hindurch, wie schon auf dem Schulhofe gerangelt haben. Wir hatten nie ernste Meinungsverschiedenheiten, aber stets das Bedürfnis, einander zu besiegen. Ich sagte: »Baehr, guck mal die goldene Taube auf dem Dache der Realschule.« Er fragte begierig: »Wo?« In dem Augenblick spuckte ich ihm rasch ins Gesicht, stellte ihm ein Bein und brachte ihn zur Strecke. Dafür schwur er neuerdings grollend Rache und überfiel mich, wenn ich den Tornister aufhatte; an den hing er sich und zog mich zu Boden, und dann mußte ich wieder andre Rache ersinnen. Vierzig Jahre später fanden wir uns wieder während des Weltkriegs. Da war er ein noch immer in den Augenschein vernarrter und die Welt als Schauspiel genießender Artilleriehauptmann, und ich ein immer noch die Menschheit erlösenwollender Unterarzt. Beide steckten wir in der Sackgasse. Aber er schritt durch alle Höllen der Zeit, durch Schrei und Dampf, Blut und Eiter, Dreck und Kot, so gläubig und so verwundert, wie er als Knabe vor den schwarzen Pferden und vor der goldenen Taube gestanden hatte. Er sah staunend die Orgien des Blutgottes, den Brand der Dörfer, den Irrsinn der Kreatur, das Funken der Maschinen, die Feuerspiele der Bomben, die gräßlichen Felder voller Kadaver und Grauen; er sah das alles wie ein gewaltiges Schauspiel, unbedenklich, ohne Kritik. Ich dagegen konnte das Gräßliche nicht zeitlos, nicht als Bild hinnehmen, sondern war der Nähe und Dinglichkeit derb verhaftet, daher vom ersten Tage des Krieges an: Frondeur, Hasser, Ethiker, die Zeit anklagend und das Vaterland, den Wahnsinn der Geschichte, die ekle Verlogenheit der Historiker entlarvend, erschüttert vom Leiden der Menschen, das ich nur denkend überwinden, nie aber, abgelöst, unbeteiligt, sachlich und beruhigten Auges spiegeln konnte. Aber glücklich waren wir doch beide, als es zu Ende war, als ich wieder viele Hefte voll schreiben, er wieder viel Leinwand bemalen konnte ...

Hier möchte ich die Niederschrift meiner Erinnerungen unterbrechen mit den Fragen: Was ist wahr? Was ist wirklich? Was ist wichtig? – Als Alexander der Große den Geschichtsschreiber Ephorus aufforderte, ihn auf seinen Eroberungszügen zu begleiten, damit er die Geschichte seiner Taten aufzeichne, da erwiderte dieser: »Ich kann die Geschichte deiner Taten nur dann schreiben, wenn ich nicht dabei bin.« Er wollte damit wohl das selbe sagen, was jener Richter meinte, der versicherte: »Einem Zeugen, der Tatbestände, die er aussagt, selbst miterlebt hat, darf man nicht glauben.«

Ja, es ist wahr: die Weltgeschichte, diese vermeintliche Wirklichkeit des Menschengeschlechtes, ruht gesichert und fest auf dem Tatbestand, daß wir weder von ihren Personen, noch von ihren Vorgängen irgendetwas wissen können. Wir weben nur an einem Mythos und wissen nicht im mindesten, wie es wirklich gewesen ist, denn wir haben weder in der Haut des Cäsar gesteckt, noch mit Napoleon zu Mittag gegessen. Aber anders steht es um die Biographie. Von meinem eigenen Leben kann ich mich nicht so ablösen, daß ich nicht dabei bin. Darum ist die Biographie von allen geschichtlichen Dokumenten das – unzuverlässigste. Jede Spiegelung des Lebens verbirgt auch schon eine Deutung. Denn unser Ich, dieser lebende Spiegel der Welt, nimmt nicht einfach hin; nein, zuweilen will der Spiegel das Bild nicht empfangen, mag es sich noch so oft und noch so dringlich ihm darbieten. Ein anderes Bild dagegen möchte der Spiegel durchaus festhalten, obwohl es so zart und unfaßlich ist, daß jedes Feststellen dem schwebenden Leben Gewalt antut. Ein drittes Mal biegt oder streckt sich der listige Spiegel. Er vergrößert oder verkleinert. Er verfratzt oder vergoldet. Sein Glas erschimmert rosig oder blau, oder verblaßt zu Dunkel und grauer Asche. Es ist klar: wir können Erlebnisse nicht niederschreiben, ohne zu gestalten. Greifbar und begreiflich, erzählbar und zählbar wird des Lebens Bildertanz nur gerade so weit, als unsre gestaltende, oder soll ich sagen, unsre lügende Kraft über ihn herkommt, denn schon die Gliederung nach Beziehungspunkten, ja schon jede Einteilung nach Jahren und Lebensaltern ist zartes Fälschertum. Wir erzählen nicht die Entwicklung der Natur, sondern die Geschichte des uns eigentümlichen Willens. – Was wir unsere Lebensgeschichte nennen, das wäre demnach Dichtung oder Deutung des Lebens von Seiten unseres geistigen Menschen, dieses hochmütigen und selbstgerechten Ichs, welches die Zusammenhänge erschaffend, über dem ewig wechselvollen Strome schwebt, wie ein Licht, das bald zu grell und bald zu matt beleuchtet und auf lineare Abfolge projiziert, was doch eigentlich zugleich vielfältiger, zugleich einfältiger war. Denn, habe ich als Kind, als ein Stück meiner Umwelt, diese Umwelt so überschaut, wie ich heute, als Vielerfahrener, Vielbedenkender, mich und meine Umwelt spiegeln kann? Ach, ich war wohl nichts als ein kleines Tier unterm Mantel großer Äonen. Ungeheures Grauen war mein Teil. Meine Kerkermeister, die Eltern und die Erzieher, säten in mich alle Kläglichkeiten und Feigheiten des geduckten, in sich hineingeprügelten Geschöpfes, aber damit zugleich auch Sehnsucht und Bereitschaft zu jeder heroischen Tat. Mißtrauen säten sie mitten in Vertrauensseligkeit. Renommiersucht gedieh auf dem Boden der Bescheidenheit. Gefühle der Überwertigkeit verfilzten sich mit Gefühlen der Minderwertigkeit. Verzweiflung an allem und jedem mischte sich in Seligkeiten des Jungseins. Ich bewunderte und verwarf, liebte und verachtete in eins. Es waren Widersprüche, waren doch keine Widersprüche. Ich kann auf diesen Seiten scheinbar mein Leben schildern; würde aber ein anderer niederschreiben, was ich schreibe, dann würde ich widersprechen, würde verletzt zusammenzucken, würde die Wahrheit nicht anerkennen. Was ist Wahrheit? –

Indem ich solche Betrachtungen anstelle, kommt mir der wunderliche Gedanke, daß man zwar oft über den Erziehungswert der Wahrheit gesprochen, vielleicht aber nie richtig durchschaut hat, daß just die Lüge für Kinder eine Flucht in die Wahrheit sein kann. Eine Flucht aus der Lüge des Gemeinen und Wirklichen. Ein Wurf zum Ziel, Traumerfüllung, geistiges Spiel, Versprechen an die Zukunft, Lebensschutz, Rettung, Entgelt. – Abgesehen davon, daß Wahrheit, Wirklichkeitssinn, Wahrhaftigkeit, Offenheit, Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit, Unverschlossenheit und sehr viele andere Erscheinungsformen der Seele gern durcheinander geworfen werden. Ich log, weil Lüge meine tiefste und erste Erkenntnis war. »Komödie«, so hieß das ungeheuerliche Werk, das ich plante, darüber ich grübelte. »Komödie« schien mir das Leben der Menschen zu sein, »Komödie« die Ehe meiner Eltern, »Komödie« ihr Reichtum, »Komödie« des Vaters ganze Arzterei, »Komödie« die Schule, welche tat, als ob Goethe oder Äschylus gemeint sei und in Wahrheit aber das Ziel hatte, dem Staate brauchbare Söldner und Knechte zu liefern. Komödie alle Liebe, Komödie aller Haß.

Wir wandelten über die von Weidengestrüpp bestandene Fläche der Masch. Das Heu duftete. Ameisen trugen in den Räderritzen ihre weißen Larven spazieren. Und die blonden Kinderfräuleins fuhren auf dem Wege nach Bellavista in weiß lackierten Wägelchen ihre Babys an die Sonne. Die Weidenkätzchen in der Seufzerallee bekamen Bienenbesuch, und junge Stare übten zur großen Reise. Und da sollten wir hinter Büchern verkümmern?

Aber schöner waren die Winter. So viel Schnee wie in unserer Jugend ist nie wieder gefallen. Wir wateten bis an die Knie durch Schneewehen, dahinter Himmel und Welt versanken. Wir forschten voller Wichtigkeit ob »er schon backt«. Dann konnte man »klumpen«. Konnte Schneemänner bauen. – Um Michaeli und kurz vor Weihnachten war »Jahrmarkt«. Unsre Väter schenkten uns fünfzig Pfennig. »Ihr dürft auf den Markt. Aber nehmt euch beim Karussellfahren in acht.« Die Karussells hatten blaue Schwäne, goldene Pferde, rosarote Schweinchen. Darauf ritten wir ins Reich der Träume. Hinter Bellavista stiegen »Herr und Frau Luftschiffer Sekurius« im Luftballon empor. Der Luftballon gondelte langsam über den Marktturm und wir bangten, er werde an der Spitze hängenbleiben. Die große Orgel am Klagesmarkt machte traumschöne Musik.

Beim Buchdrucker Rodewald am Mißburgerdamm konnte man für einen Groschen die neueste Moritat kaufen: »Der Mord im Rösehoff« oder »Lehmanns Flucht nach Amerika«. »Um die Marktkirche herum hockten die alten Weiber hinter Ständen voll Gemüse und Blumen und hinter Kiepen voller Obst. Da saß auch Frau Schelleken, unsre Waschfrau. Sie zeterte übern ganzen »Marcht«: »Tete, willste mäol schmecken?« Und dann schenkte sie mir »ne lüttje Düte Bickbeeren«. Und ich schmierte mit den Bickbeeren mir Finger und Taschentücher blau. Als Düte diente »Das hannoversche Unterhaltungsblatt«. Ein herrliches Blatt! Denn es brachte allsonntäglich »Was der Engel sagt«. – Der Engel! Ja, das war eine schöne Besonderheit unsrer Stadt. An Straßenecken und in öffentlichen Anlagen waren wohl an fünfzig Engel aus Gußeisen mit riesigen, gußeisernen Flügeln aufgestellt. Ihre großen metallenen Arme hielten große metallene Büchsen. Man warf Geldstücke für die Stadtarmen hinein. Die Geldstücke konnte man einwickeln in Gedichte. Waren die Gedichte einigermaßen anständig und nicht gar zu lang, so wurden sie am nächsten Sonntag gedruckt in der Beilage zum »Hannöverschen Tageblatt«. Eben das war »Das hannöversche Unterhaltungsblatt«.

Ludwig Klages und ich, wir haben unsere ersten Seelenblüten durch den Engel in die Öffentlichkeit gebracht. Auch konnten wir durch den Engel bescheidene Liebeserklärungen befördern. »Die Herren L. K. und T. L. entbieten ergebensten Sonntagsgruß und einen süßen K... für die Damen M. W. und A. H. ...«

Ach, wie herrlich war Fräulein Minna am Schießstand hinter Bellavista. Fräulein Minna sagte zu Lessing und Baehr: »Maane Herrn, wenn Se möchten gerne mäol schießen, dann schießen Sie baa mich!« Dort hinter Bellavista, ihr seligen Tage, dort erfaßte mich die erste große Liebe. Sie hieß »Amanda, die schwere Kanonenkönigin«. An ihrer Jahrmarktbude war ein Schild, goldene Lettern auf sodafarbenem Grund: »Hier ist zu sehn das stärkste Weib der Erde. Hebt mit den Zähnen hundert Pfund«. Warum ich sie liebte? Sie nahm eine Eisenstange zwischen die Zähne. An die Eisenstange durfte sich rechts Baehr hängen und links Lessing. Und sie zog an den Zähnen beide zu sich empor. Weil ich leider schwächlich war, so beschloß ich, die stärkste Frau der Welt zu heiraten. Meine Kinder sollten Riesen werden, Söhne, so stark wie die vier Haimonssöhne, um Bismarck zu vertreiben und mich zum König von Hannover zu machen. Danach konnte ich Prinzessin Margarete heiraten.

Immer kam ich verspätet heim. Mein Vater schimpfte: »Wo bist du gewesen?« Ich verfiel auf eine merkwürdige Ausrede. Ich sei verfolgt worden von den Realkatern. »Realkater« so nannten wir die Schüler der dem Gymnasium benachbarten Realschule. Bald hatte ich heraus, daß mit dieser Lüge manches Strafbare zu rechtfertigen war. Wenn ich das Halstuch verloren hatte, wenn ich den Federhalter nicht nach Hause brachte, wenn die Schreibtafel zerbrochen war, immer waren die »Realkater« schuld, und die Legende bestandener Heldenkämpfe wurde immer bunter, bis schließlich der Verdacht meines Vaters rege wurde. Er beauftragte Wilhelm, unsern Diener, einmal aufzulauern. Als ich nun wieder verspätet nach Hause komme, steht mein Vater, seine lange Pfeife im Munde, scheinbar arglos an der Glastür mit den roten und blauen Scheiben und fragt: »Wo warst du so lange?«, und wieder lege ich los mit dem Kriegsbericht von einer Realkaterbande, die hinterm Wartehäuschen am Ägidientorplatz mich habe abfangen wollen. »Aber ich konnte gerade noch entwischen und den Strick, mit dem sie Baehr festbinden wollten, hab ich ritscheratsch durchgeschnitten, und dann sind Baehr und ich hinter die höhere Töchterschule gelaufen und haben uns versteckt.« Aber da trat der dösige Wilhelm hervor und hielt in der Hand schon den gelben Rohrstock und berichtete, knapp und grausam, die beiden Jungen seien gemütlich die Leine entlang gezündelt bis fast nach Erblichs Garten.

Unter diesen Lügengeschichten die schrecklichste, knüpfte sich an einen Vorfall im siebenten Lebensjahr. Da hatten wir zum Lehrer Clemens Gehrs, der sich die Rechenstunde bequem machte, indem er an die Wandtafel Aufgaben anschrieb, die wir auf unsern Schiefertafeln lösen mußten, während er auf seinem Rohrstuhle sich die Nase popelte und im »Hannoverschen Kurier« las. Hatten wir nun die Aufgaben gelöst, so mußten wir aus den Holzbänken treten und unsere Tafeln Polle vorzeigen. Polle war Primus. Er hatte die Aufgaben schon vorweg ausgerechnet und mußte nachforschen, ob die andern richtig rechneten und keiner mogele. In der Reihenfolge dann, in welcher wir fertig geworden waren, durften wir uns längs der Wand aufstellen. Die drei ersten bekamen als Prämie einen »Bolchen«. Die Düte mit Bolchen spendete Vordemann; sein Vater hatte einen Kolonialwarenladen. Die Langsamen wurden hinten angereiht, und das dauerte so lange, bis nur noch die völlig Unfähigen an ihren Plätzen saßen, drucksend und schwitzend, ohne die Lösung zu finden. Zum Schluß durfte die ganze Schar vorstürmen und die Garnichtskönner »ausziepen«. Das heißt, alle wiesen mit den Zeigefingern auf die Dummköpfe und riefen, die Finger an einander reibend: »Ätsch, zipp, zipp«. Das galt als höchste Schande. Nur die dickdrähtigsten Jungen konnten das ruhig ertragen, denn sie vermochten später durch kräftige Hiebe sich an den besser Rechnenden zu rächen. Ich aber wurde immer bänglicher, je mehr die Zeit voransurrte, und Junge nach Junge aus der Bank sich erhob, ohne daß ich auch nur eine einzige Aufgabe gelöst hatte. Als nur ganz wenige noch zurück waren, da wurde die innere Angst zu groß, als daß ich noch imstande gewesen wäre, die Antwort herauszubringen. Ich nahm also die Tafel meines Nebenmannes, der gerade fertig geworden war und schrieb die Antworten ab, hing unten ein paar Nullen an, als ob die Rechnung aufgegangen sei und trat mit der Tafel vor Polle. Aber auf den ersten Blick merkte Polle den Betrug und zeigte die Tafel Herrn Gehrs. Herr Gehrs sagte einfach: »Du bekommst einen Strafzettel«.

Schrecklicheres konnte mich nicht treffen, denn wie meines Vaters Laune den Strafzettel aufnehmen werde, das war noch unberechenbarer als die schwerste Rechenaufgabe. Ich bettelte um Gnade. Herr Gehrs blieb unerbittlich. Zu Hause kam ich fiebernd an, wurde ins Bett gesteckt, aber fand nicht den Mut, den Zettel, den ich in die Tischlade verbarg, meiner Mutter zu zeigen. Nach zwei Tagen sollte ich wieder zur Schule. Mein Vater mußte für das Fehlen einen »Entschuldigungszettel« schreiben. Ich nahm nun Seidenpapier und pauste seinen Namenszug durch, so daß er vom Entschuldigungszettel auf den Strafzettel übertragen wurde. Zum Überfluß setzte ich seinen ärztlichen Stempel darunter. Als ich die beiden Zettel ablieferte, brauchte Herr Gehrs gar nichts zu fragen, denn er sah schon am Gesichte des Schülers, daß die Sache nicht stimme, und kaum blickte er forschend in meine Augen, da heulte ich schon los: »Papa hatte keine Zeit, da hat Wilhelm unterschrieben.«

Das war ein ganz schwerer Fall. Herr Gehrs schrieb einen Brief, legte die Zettel bei, versiegelte und befahl, daß ich zu Hause das meinem Vater geben möge. An den Nachhauseweg entsinne ich mich noch unlieber, als selbst an die schweren Nachhausewege, wenn ich später zu Ostern nicht versetzt war und an den schwersten, als ich von der Schule gewiesen wurde. Aber etwas Unerwartetes geschah. Nämlich – gar nichts. Mein Vater nahm den Brief und vergaß ihn. Möglich, daß ich so käsegrün durchs Haus wankte, daß er für besser befand, in diesem Falle nicht zu prügeln. Wahrscheinlicher, daß er die Sache nicht tragisch nahm, denn gegen Schwindelei hatte er weniger einzuwenden, als dagegen, daß der Schwindel sich wider seine Person richtete. In diesem Falle fühlte er aber seine Person nicht berührt und bemerkte vielleicht nur, daß ich das Nachmachen seiner Schrift so dumm wie möglich angelegt hatte, was ja nur seine schon feststehende Meinung bestätigte, daß kein Vater auf der Welt mit einem unbrauchbareren Sohne bestraft sein könne. Möglich auch, daß er den Brief gelesen und dann über irgend eine schöne Frau vergessen hatte; denn auch das konnte bei ihm geschehn.

Das verhängnisvollste der Lügenerlebnisse aber war jenes, durch das ich in der Tertia das Wohlwollen verlor bei »Ich, der Mann«.

»Ich, der Mann«, auch Pinscher genannt, war ein königlicher Pauker, welcher am liebsten in Leutnantsuniform in die Klasse trat und die Siege Julius Cäsars im Gallischen Kriege von nachhinein »taktisch und strategisch« noch einmal gewann. Er hieß Doktor Friedrich Kiel, war im Privatleben ein braver Mann, wurde aber zum Diktator, sobald er in Uniform steckte und die Uniform statt seiner »für Gott, König und Vaterland« zu denken begann. Und da sogar eine preußische Uniform gedankenreicher war als unser Doktor Kiel, so lenkte sein Soldatenrock durch viele Jahre meine geplagte Jugend. Die Schüler nannten ihn »Ich, der Mann«, weil er den lakonisch männlichen Stil nach Art des Alten Fritzen liebte. Er nannte uns zum Beispiel im Pronomen der dritten Person: »Weiß Er das nicht? Das muß Er wissen!« Beständig entflossen »dem Gehege seiner Zähne« altfritzische Ausrufe. »Setze Er sich. Er ist ein Schwätzer.« Dann kam eine Pause. Und dann nach einer ganzen Weile die nachklappende Fermate seines Grolles: »Aber ein großer.« Oder er rief mit zum Himmel gekehrten Augen und ringenden Händen: »Götter! Gebt mir Geduld!« Und dann nach langer Pause klappte hinterdrein: »Aber gleich einen guten Posten.« So ging es tagaus, tagein. Er stand vor der Klasse altfritzisch, ganz »Ich, der Mann«. Er hat auch ein Buch geschrieben über die Venus von Milo, deren Haltung und sinkendes Gewand er daraus erklärt, daß sie von einer Umarmung mit dem Ares träumte. In der Erinnerung an stattgehabte Genüsse lasse sie sachte ihr Hemd vom Leibe gleiten. Dies aufregende Buch hatte die Wirkung, daß ich noch lange glaubte, die milonische Venus trage den Namen Venus von Kielo. Erst durch Professor Hornemann wurde ich belehrt, daß die Insel Melos, und nicht unser herrlicher Doktor Kiel, dem Götterfunde den Namen gegeben habe. – Friedrich Kiel, dieser eindrucksvolle Mann, blieb durch mehrere Klassen mein Lehrer in Latein, Geschichte und Griechisch. Er war mir anfangs nicht feindlich. Denn er war, obwohl Leutnant, Germane, Judengegner, Schützenbruder und Turner, auch Skatfreund meines Vaters, der ihm gern zu berichten pflegte, daß sein mißratener Junge den großen Lehrer zärtlich bewundere, seinen Offiziersrock, seine Geistesblitze, seine kerndeutsche Persönlichkeit. Und das war auch wirklich wahr. Der Junge war ganz erdrückt von Ehrfurcht, und Doktor Kiel hatte das gern. Aber eines schlimmen Tages bekam das gute Verhältnis einen Riß. Eine Schularbeit war versäumt worden. Ich bekam eine Strafarbeit mit dem verschärfenden Zusatz, diese am Mittwochnachmittag um zwei nach der Dietrichstraße in Kiels Wohnung bringen zu sollen. Aber da ich verhindern wollte, daß man zu Hause meine Bestrafung bemerke, so ging ich zu Kiel erst gegen Abend und entschuldigte mich mit der Ausrede mein Großvater sei durch Hannover gekommen und den hätte ich an der Bahn begrüßen müssen. Zufällig jedoch traf »Ich, der Mann« am nächsten Tage meinen Vater und nun setzte es Erregungen auf beiden Seiten. Mein Vater zürnte doppelt, weil ich den Großvater in die Sache hineingebracht hatte, seinen Todfeind, der nie nach Hannover kam.

Warum nur log ich? Es war zum Teil ein Kampf um Selbsterhaltung. Mehr aber der Kampf um Traum und Schönheit. Aber der ewige Zwang, immer neuen Traumersatz ersinnen zu müssen, in einer unerträglichen, nüchternen Wirklichkeit, schuf einen seelischen Bruch. Es entstand ein schwer zu erklärender Hang zu negativ betonten Selbstbezichtigungen. Ich drängte zur Strafe. Ich flüchtete in Schmerz. Solche Vorgänge des Gemütes sind schwer zu belichten. Die frühen Erlebnisse mit dem Kindermädchen Anna waren wohl der Ausgangsherd.

Jedes Kind neigt zur Übertreibung und zur Überwertung der eigenen Zustände. Die Seele stellt das Gleichgewicht her und straft sich durch Flucht an den Gegenpol. Ich ließ mich verachten für Sünden, die ich entweder gar nicht oder doch ganz anders begangen hatte. Man tastet heute durch Abgründe des moralischen Wesens mit Begriffen wie »Askese«, »Hysterie«, »Flucht in die Krankheit«, »Selbstabstrafung«. Aber so wenig ich bestreiten will, daß mancherlei Psychose lauert hinter den von der christlichen Kultur gepflegten moralischen Gefühlen, so wenig doch bin ich geneigt das Wunder des Wertes und Gewissens, die unabweislichen Erlebnisse von Schuld und Sühne und die qualvollsten aller Zustände, Reue und Zerknirschung, auf so billige Formeln zu bringen. Meiner Natur lag es nahe, Unglück und Ungeschick eher aus dem eigenen Selbst, als aus fremdem und fernem Verhalten herzuleiten. Wo ich liebte und verehrte, da hatten die geliebten und verehrten Seelen es sehr leicht, ein etwa an mir verübtes Unrecht in mein eigenes Verschulden hineinzuschieben. Ich lieferte die Waffen gegen mich. Eltern und Lehrer glaubten, daß alle Strafe bei mir auf Granit stieß. Sie ging in Wahrheit tief ins Mark. Ich lernte jeden Angriff und jede Mißachtung dadurch überdauern, daß ich mich selber stets strenger abstrafte und grimmiger mißachtete, als je ein anderer das vermocht hätte.

Goethe schreibt über seine Biographie »Der Mensch, der keine Prügel empfängt, kann nicht erzogen werden«. Ich möchte über die meine schreiben: »Straft nicht!« Strafe erzeugt in jedem Falle Selbstquäler. Ich verlernte die Naivität der Selbsterhaltung. Kennt ihr das Folgende?

Du hast den Freund, der dich verrät, die Frau, die mit Untreue lohnte unter den Füßen. Du kannst anklagen, kannst dich rächen. Du zückst den Dolch gegen die Schuldigen. Da kehrt sich der Dolch in deiner Hand. Da kehrt sich seine Spitze immer gegen ein einziges Ziel immer nur gegen dein eigenes Herz. Du drückst dem anderen den Griff in die Hand. Aus dir aber spricht ein Fremdes mit deiner eigenen Stimme: »Töte mich! Lebe du

In den unteren Klassen unterrichtete Herr Niemeyer. Das war ein dunkler, unheimlicher Mensch mit schwarzem Vollbart, ein Mensch, der immer quälte, prügelte, abstrafte. Bei ihm hatten wir durch Jahre Schreibunterricht. Meine Schrift war unverbesserlich. Für dieses unleserliche Schmieren bekam ich viele Prügel, so daß ich die lateinische Grammatik von Ellendt-Seyffert dauernd unter der Hose trug, um weniger Schmerz zu verspüren. Infolgedessen geschah es, daß, wenn die Grammatik gebraucht wurde, ich den Finger heben und melden mußte: »Ich habe meine Grammatik vergessen«. Da sich das oft wiederholte, sollte ich schließlich für das Vergessen der Grammatik Prügel bekommen. Und nun in der Zwickmühle, zog ich es vor, im letzten Augenblick die Grammatik aus der Hose zu holen, zum Staunen des verdutzten Lehrers. Damit war mein Schutz preisgegeben. Von da an versuchte ich es mit Handtüchern und doppeltem Hosenboden. Aber meine Schrift der Schulvorlage anzupassen, das blieb ein unerreichbares Ideal. Als »Fünf« (d. h. schlecht) im Schreiben zur ständigen Zeugnisnummer wurde, da versuchte mein Vater auf Rat Herrn Niemeyers durch häusliche Strafen meine Handschrift zu bessern. Stellte Herr Niemeyer fest, daß die Hausarbeiten schlecht geschrieben seien, so gab es keinen Pudding oder keinen Milchreis, oder keine Himbeersauce, oder die weißen Mäuse wurden mir genommen, und da ich bald herausspürte, daß mein Vater je nach Laune strafte, so ging ich nur zu ihm, wenn er gut gelaunt war und bezichtigte mich, von Herrn Niemeyer getadelt worden zu sein. Das heißt, ich ließ mich im jeweils günstigsten Zeitpunkt vorweg bestrafen, indem ich log, Herr Niemeyer habe mich für den nächsten Tag oder auch gleich für die ganze nächste Woche zum Nachsitzen vorgemerkt. Trat dann wirklich das erwartete Ereignis ein und ließ Herr Niemeyer in der Tat mich wieder nachsitzen, so hatte ich das angenehme Gefühl, daß ich wenigstens zu Hause meine Strafe für das Bestraftwerden schon vorweg abgebüßt hatte. Trat aber das erwartete Ereignis des Nachsitzens nicht ein, nun dann hatte ich Freiheit, um unbeaufsichtigt mit Baehr in die Wiesen an der Masch zu laufen. So wurde es bald zur Gewohnheit, daß ich von der Schule kommend, zu Hause meldete: »Morgen muß ich nachsitzen«. Ich bezwang dadurch die Angst vor dem wirklichen Nachsitzen. Zuletzt glaubten meine Eltern, ich habe die Manie oder fixe Idee, immer nachsitzen zu müssen und wußten, selbst wenn ich wirklich nachsitzen mußte, niemals genau, ob ich nun die Wahrheit sage oder an einer krankhaften Angst leide. Mein Vater aber fand in alle dem immer wieder die Bestätigung, daß kein Vater härter mit einem dümmeren Jungen bestraft sei, als er, dessen Junge aus lauter Dummheit sich beständig abstrafen ließ, sogar in solchen Fällen, wo er das strafwürdige Vergehen wahrscheinlich nicht begangen hatte. Keiner aber ahnte, wie wirkliche Schuld und erlogene Schuld sich überschnitten und in einander spielten, wie die Reue in übertriebene Selbstbezichtigung flüchten kann, und dann doch gerade erst die gemiedene Tat aus der Reue erwächst. Ich mußte eine Jugend hingeben an die Aufgabe, Schule, Elternhaus und Erziehung zu überwinden.


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