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8. Die zwei Höllen

 

»Du willst Vereinigung jenseits des Grabes? Du?
Und für gehabte Müh Respekt und Dank dazu?
Du warst der Stock, der starr das Bäumchen bog,
Das Marterkreuz, davon der Engel aufwärts flog.«

 

Der Totentanz dauerte vierundzwanzig Jahre. Warum sie nicht auseinander gingen, ist erst nach des Vaters Tode klar geworden. Er konnte nicht eingestehn, daß er der Mutter Vermögen verspielt hatte. Sie ahnte diese Wunde, obwohl er nicht davon sprach. Zuweilen, wenn sie aufs äußerste gereizt war, raffte sie sich auf zu einem Entschluß: »Ich will zu meinem Vater zurückkehren. Zahl mir mein Geld aus.« Das brachte ihn zum Toben, denn er hätte sie gern ziehen lassen und mußte doch fürchten, daß sie ging. Meist aber wurde der Totentanz von anders herum getanzt. Er wies sie seinerseits aus dem Hause, und sie schmeichelte wie ein Hündlein und flehte, daß er sie behalten möge. Aber das alles waren Scheinkämpfe. In Wahrheit konnten sie weder zusammen leben noch auseinander gehen.

Der unausgesetzte Krieg der beiden war ein Krieg zweier Familien. Ein naiver Ausdruck der Abneigung, die der Vater gegen die Familie der Mutter hegte, war dies, daß er im Zorn sie stets bei ihrem Familiennamen rief. Ich war ehrlich erstaunt, als ich in späteren Jahren begriff, daß das tief verächtliche Wort »Ahrweiler«, welches ich nur als Schimpfwort kannte, ein Familienname sei. Indes war doch der Vater der beklagenswertere Teil. Für einen einzigen Irrtum, für eine vorschnelle und jähe Geldheirat und für das Verspekulieren der dadurch gewonnenen Mitgift, mußte er lebenslang abbüßen und durfte nicht klagen, weil er selber der Schuldige war. Aber indem er beständig auf Rache sann und seine Unlust auf die andern abwälzte, wurde er immer strafwürdiger. Hinter all seinem Gepolter stand nichts, als das Gefühl seines Unrechts.

Es geschah, daß der Vater zur Mutter sagte: »Ich kann eure Gesichter nicht mehr sehn. Nimm den Jungen und verlaß mit ihm das Haus.« Dann nahm die Mutter weinend mich zur Seite und prägte mir ein: »Geh zu Papa und bitte, daß er uns nicht verstößt.« Immer nagte an mir die Angst, daß wir wie Hagar und Ismael verstoßen würden. Ein ander Mal aber war die Lage umgekehrt. Der Vater nahm mich ins Vertrauen und sagte, wofür ich sehr empfänglich war: »Wir Männer müssen zusammenhalten.« Und dann ließ er mich schwören, daß, wenn ich groß sei, ich ihn am Großvater rächen werde. In meinem Schulbuch stand eine Geschichte von Hamilkar Barkas und seinem Sohn Hannibal, die ich meinem Vater oft vorlesen mußte. Der Feldherr der Karthager läßt seinen jungen Sohn Rache schwören gegen die Römer. Daran erinnerte mich mein Vater, wenn er sagte, daß es einst meine Aufgabe sein werde, gegen den millionenreichen Großvater zu kämpfen. Was aber der Großvater verbrochen habe, konnte ich nicht verstehn. Und da in keinem der Eltern auch nur ein Fünklein Pädagogik lebte, so erzeugten sie lediglich den tollsten Wirrwarr des Gemüts. Glücklich war ich nur, wenn ich keinen der beiden zu sehn bekam.

An den Wochentagen verlief das Leben erträglich. Ich hockte den Tag über in der Schule und kam ich nach Hause, so verdrückte ich mich so schnell wie möglich, versteckte mich in Garten oder Stall oder saß bei Harlessems in der Parterrewohnung. Die meisten Mahlzeiten wurden ohne den Vater eingenommen. Der war überbeschäftigt. Manchmal bekam ich die ganze Woche über die Eltern kaum zu Gesicht, und das war gut; denn wenn die Familie zusammenhockte, dann war jeder voller Widerworte und alle mit Galle geladen. Nur die kleine blonde Sophie spielte harmlos dahin unter Donnerwolken.

Schlimm waren die Sonn- und Festtage, wenn gemeinsam gegessen wurde. Anlaß zum Krach gab heute das Salz und morgen der Senf. Meine Mutter gab ein Widerwort, und dann gings los, etwa folgendermaßen: »Ich, ein Haustyrann? Ein Märtyrer bin ich! Alles tue ich für die Familie. Ich muß arbeiten von früh bis spät, damit ihr das Geld hübsch unter die Leute bringt. Warum denn auch nicht? Vater bezahlts ja. Sind ja so reiche Leute! Geht doch nach Düsseldorf. Geh zur Ahrweilerei. Nimm den Jungen und marschier ab. Das Mädchen behalt ich. Das Mädchen artet nach mir. Wenn ich nur eure Gesichter nicht mehr zu sehn brauchte. Freßt euch dick beim geliebten Großpapa.« So steigerte er sich aus Gram in Grimm. Bald zu Tränen, bald zu Gewalt. Es konnte geschehn, daß er ein Geschirr zerschlug oder den ersten besten Gegenstand nach der Frau warf. Hinterdrein verschloß er sich in seine Zimmer. Kam er nach einigen Stunden wieder zum Vorschein, dann erwartete er, daß wir für das Vorkommnis um Verzeihung zu bitten hätten. Er hatte die andern gekränkt. Aber für sein Bewußtsein lag das anders. Er glaubte der unglücklichste Mann zu sein, dem so bitter Unrecht geschah, daß er zu Verzweiflungstaten hingerissen wurde. Wurde es ganz schlimm, so griff er zur Reitpeitsche. Aber als ich bewußter wurde, geriet ich bei Schlägereien in eine furchtbare Erregung. Ich schrie, tobte und drohte mit Mord oder Selbstmord. Dann wurden schließlich Wilhelm und Christiane herbeigeholt. Sie hatten mich über den Stuhl zu strecken und festzuhalten, während mein Vater in fassungslosem Jähzorn mich mit der Peitsche züchtigte. Danach kroch ich verstört, mit wundem Rücken in den dunkelsten Winkel. Als ich heranwuchs, demütigten mich Schläge und Scheltworte am tiefsten, wenn sie in Gegenwart der Freundinnen meiner Schwester oder gar der verehrten Harlessemmädchen ausgeteilt wurden. Ich haßte meinen Vater unergründlich. Es war eine Wonne, mir auszumalen, wie ich ihn demütigen, zertreten, martern lassen werde. Dennoch wagte ich niemals gegen ihn die Hand zu heben. Das geschah endlich, als ich etwa sechzehn Jahre alt war. Damals gab es eine abscheuliche Szene. Erst sollte ich augenblicks das Haus verlassen. Dann schwor er, mich einer Besserungsanstalt zu übergeben. Aber fortan wagte er nie mehr, Hand an mich zu legen.

So furchtbar auch diese Erinnerungen an den Vater sind, schlimmer ist für mich das Andenken der Mutter. Sie war träge, sinnlich, vergnügungssüchtig; spielte immer den Vogel Strauß; fand immer ein Mausloch. »Du willst heute abend ins Theater?« fragte er in Mißlaune. »Ja, ich dachte daran.« »Du dachtest; ich aber wünsche, daß du zu Hause bleibst. Kümmre dich um den Haushalt.« Sie schwieg. Sie wußte, daß seine Stimmungen bald umschlagen. Nachmittags, wenn er ausgeschlafen hatte, klopfte sie bescheiden an seine Tür. »Was willst du?« »Ich bringe den Kaffee und möchte um Verzeihung bitten. Wegen heute Mittag. Da hab' ich dir die Stimmung verdorben.« Sie war beschimpft, beleidigt, vielleicht geohrfeigt worden. Aber sie wollte ins Theater. Darum beschloß sie, um Verzeihung zu bitten, damit er anderer Laune werde und ihr das Vergnügen nicht versage.

Wochenlang lebten sie getrennt von Tisch und Bett. »Ich kann dich nicht riechen. Pack deinen Kram und zieh aufs Fremdenzimmer.« Dann mußte sie den Klingelzug ziehn. Christiane, die Assistentin, erschien. »Christiane, Herr Doktor wünscht, daß ich oben schlafe. Stellen Sie bitte die Betten um.« Christiane schmunzelte unmerklich. »Wird gemacht.«

Solche Demütigung steckte sie geduldig ein, aber würdelos war, wie sie sich rächte, sobald einmal der Mann wehrlos wurde. Folgende Szene sehe ich vor mir. Mama liegt auf der Chaiselongue und liest einen Roman. Nebenan im »blauen Kabinett« ist mein Vater bei einer Operation. Er ruft in den Flur hinaus: »Schnell, heißes Wasser!« Aber die Dienstboten sind zufällig abwesend. Mama rührt sich nicht. Er stürzt ins Zimmer: »Ich kann nicht warten, hol heißes Wasser, der Patient verblutet.« Das ist ein Augenblick, wo sie sich rächen kann. »Das ist Sache der Domestiken. Ich bin keine Magd.« So vergifteten sie einander.

Bei den Szenen zwischen Vater und Sohn dachte die Mutter nur an ihre eigene Bequemlichkeit, selbst dann, wenn ich um ihretwillen in den Streit geriet. Das verlief etwa so: Er rief den Hund »Ahrweiler«. Er machte Redensarten über ihre Mißgeborenheit, meine Mißgeborenheit. Endlich im Innersten zermartert brach ich los. »Und du? Es ist wohl besser, daß wir nicht von deiner Familie sprechen! Gestern las ich bei Schiller (dergleichen erfand ich, nur um Waffen zu haben): »Das Teuflische, der Hölle selbst entstammt, ist Selbstsucht, die den Mensch zum Vieh verdammt.« – »Unverschämter Bube! Was willst du damit sagen? Was nimmst du dir heraus gegen deinen Vater? Hierher! Blick mir ins Auge! Stehe Rede!« – Jetzt mischte sich, bevor es zu Tobsuchtsszenen kam, die Mutter in den Streit. »Theo! kannst du denn niemals den Mund halten? Du weißt doch, wie Widerworte auf Papa wirken. Er kommt abgespannt aus der Praxis mit ganz andern Sorgen im Kopfe, als du verstehst. Hat er denn noch nicht genug Sorge im Leben, der arme Mann? Mußt du, der einzige Sohn, ihn immer aufregen? Ich will dir mal was sagen, mein Junge. Wer wie du von der Gnade des Vaters abhängig ist, der hat allen Grund sich zu beherrschen. Sieh mal mich an! Ich habe Schweigen gelernt! Weiß Gott! Aber ich kenne das Herz deines Vaters und lasse mich nicht daran irre machen. Er hat seine Fehler. Wir haben alle unsre Fehler. Ich lasse ruhig das Unrecht auf mir sitzen. Der arme Mann hat es ohnehin schwer genug im Leben. Siegmund, nicht wahr, das mußt du mir doch zugestehen, ich habe immer treu zu dir gehalten?« So kam es denn, daß der Vater, wenn er gegen mich Anklage führte, die Mutter als Rechtsinstanz anrief, was dieser sehr schmeichelte. Und so gab es immer Punkte, an denen sie, eben noch in Zank begriffen, sich plötzlich fanden und verbanden. Ich will versuchen eine dieser typischen häuslichen Szenen wiederzugeben:

»Was soll aus dir werden? Lauter brotlose Künste! Als ich in deinem Alter war, da mußte ich schon Geld verdienen. Ich wußte genau, was ich wollte. Aber du? ›Der große Mann!‹ ›Der große Mann steigt huldvoll hernieder zu uns Herdenvieh‹.« »Der große Mann meint, seinetwegen werde sich die Weltordnung ändern. Was bist du denn? Was leistest du denn? Was kannst du? Vaters Geld hübsch unter die Leute bringen! Fressen, das kannst du. Aber irgend etwas Vernünftiges habe ich von dir noch nie gesehen. Wozu wärest du denn auch zu gebrauchen? Sage doch selbst! Talente!? Gedichte machen?! Damit lockt man keinen Hund vom Ofen. Was tu ich mit Talenten, mit denen ich nichts anfangen kann? Ja, wenn ich deine Talente hätte. Das wäre etwas anderes. Was könnte ich nicht aus solchen Talenten machen? Aber ein Kerl wie du? Hä! Antworte! Rede mal endlich! Gibt es in der ganzen Stadt einen zweiten Jungen, für den so viel getan wird? Ich frage dich. Für dich wird so viel Geld ausgegeben, daß die Familie eines preußischen Regierungsrates davon leben könnte. Alles umsonst. Hopfen und Malz verloren. Was wird das Ende sein, wenn ich nicht mehr da bin? Das Zuchthaus. Oder du verendest im Rinnstein. Aber dann, dann in deiner Todesstunde, denk an mich. Denk an das, was ich dir gesagt habe. Wenn du im Dreck endest, dann wirst du's einsehn: Ja, mein seliger Vater hatte Recht, mein seliger Vater war doch der einzige, der es wirklich gut mit mir gemeint hat. Denn meine ich es etwa nicht gut? Am besten von allen Menschen. Was verstehst denn du von der Liebe eines Vaters? Ein Vater liebt sein Kind mehr als sich selbst. Für wen denn arbeite ich, für wen denn geschieht alles? Immer habe ich mir einen Sohn gewünscht, um einen Freund zu haben. Einen Freund im Leben. Du könntest mein bester Freund sein. Aber du mußt einmal die Lage mit meinen Augen betrachten. Überlege, ich beschwöre dich, sage mir auf Ehre und Gewissen: Ist es denn nicht eine Schande für einen Vater, für den gutwilligsten aller Väter, wenn er einen Sohn hat wie du einer bist? Adele, ich sehe dich nicht an. Hand aufs Herz. Habe ich recht?«

Und nun ging die selbe Litanei in Moll von der andern Seite her los. »Gottes Recht, Sigmund! Gewiß hat euer Vater recht! Das muß doch ich am besten wissen. Ich sehe es ja, wie er für euch sich abmaracht. Alles zu deinem Besten, Theo. Aber ich will dir ja nicht das Herz schwer machen. Komm, weine nicht, mein Junge. Komm mal hierher. Reiche deinem Vater die Hand. Versprich ihm: Ich will mir Mühe geben. Ich will ein anderer Mensch werden. Ein neuer, besserer. Ich will in der Schule vorankommen und meinem Vater Freude machen. Es soll dir ja nichts von deinen Büchern genommen werden. Dein literarisches Streben ist recht gut für spätere Jahre. Du hast das künstlerische Talent deines Vaters. Das kann noch vielen Menschen Freude machen. Aber jetzt mußt du schulgemäß streben. Wie dein Vater: es zu etwas bringen im Leben! Wir haben dich ja beide so lieb. Komm nur her Junge. Ich will ein gutes Wort bei Papa für dich einlegen. Nicht wahr, Papa, du verzeihst deinem Jungen?« ... Und dann gab es, nachdem man eben noch sich gehaßt, getobt und angefaucht hatte, plötzlich Familienrührung. Kaffee mit Schlagsahne, dicke Sentimentalität und sogar Küsse. Ich aber starrte hilflos in eine theatralische, wahnsinnige Welt, in welcher jeder schuldig war an jedem und unschuldig zugleich, in welcher jeder von seiner Seele aus es gut meinte und recht hatte, aber immer anders gut und immer anders recht, in welcher jeder es in seiner Art richtig machen wollte, aber grade dadurch den andern verunrechtete. Und doch war es eine Welt, an der etwas ändern zu wollen, so sinnlos gewesen wäre, wie das Vernunftpredigen in einem Irrenhause.

Es war ein Irrenhaus! Aber daß lauter Verrückte, Verschrobene mich betreuten, machte mein Leben immerhin möglich. Ich erlernte Geduld, Verschlagenheit, Verschlossenheit, Zynismus, Schweigen. Diese Familienhölle war wüst und lärmend, aber ohne Verpflichtung und Folgerichtigkeit. Man konnte es machen, wie die kleine Schwester es machte: Augen und Ohren schließen und sich durchschlängeln. Indes neben dieser ersten Familienhölle bestand eine zweite, die war schlimmer und hat mich gebrochen.

Friedrich Grahn, der alte Schul- und Studienfreund meines Vaters, war Oberlehrer an derselben Schule, auf welcher ich so vergeblich gedrillt wurde als ein kränkliches, schwer zugängliches Kind. Was also lag näher, als daß mein Vater sich an seinen vertrautesten Freund wandte? Ich mochte etwa elf Jahre alt sein, ein schlecht lernender und immer verträumter Quartaner, als eine Art stillen Vertrages geschlossen wurde zwischen meinem Vater und seinem Freunde. Grahn erhielt hundert Mark im Monat – (er bezog sie fünf Jahre lang) und übernahm dafür die Aufsicht und die Verantwortung für mein Vorankommen. Damit glaubte mein Vater sein Bestes getan zu haben. Er glaubte jetzt aller persönlichen Sorge um den zuwideren Jungen enthoben zu sein. Der entscheidende Gott, der über meinem Entwicklungswege wachte und für mein Gedeihen verantwortlich war, hieß Friedrich Grahn. Wer war Friedrich Grahn?

Ich habe meinen Vater gehaßt. Aber je älter ich wurde, um so mehr verlernte ich, ihn zu fürchten. Und zuletzt sah ich auf ihn, wie auf einen Kranken und nicht ohne Mitgefühl. Fritz Grahn dagegen – ich muß es gestehn – habe ich zunächst bewundert wie ein übermenschliches Wesen. Aber zugleich empfand ich vor Urteil und Willen dieses übermenschlichen Gottes eine so schlotternde, bebende Angst, daß ich noch heute, über sechzig Jahre alt, diese Angst oft in nächstlichen Albträumen wiedererlebte. Als Mann bin ich diesem Zuchtmeister meiner Jugend nie begegnet, ohne daß meine Knie schwach wurden, und wenn er seine kalte herrische Stimme erhob, so verschlug mir das Wort; es war unmöglich, ihm zu widersprechen. So tief haften die Spuren der Kindheit.

Fritz Grahn war der kälteste, der eisigste Mensch, den ich gekannt habe, einer der leersten und sicherlich der eitelste. Er war ein ungewöhnlich gut aussehender, gepflegter, blondäugiger germanischer Mann, sehr pathetisch und sehr rhetorisch. Dem Anscheine nach war er lebhaft erregt und leicht begeistert; in Wahrheit war sein Inneres unbewegt, ja unbeweglich. Er spielte gleichsam »Leben«. In jedem Augenblick seines langen Lebens schien er vor einem Spiegel seine Gefühle zu setzen, wie er denn auch immer einen Spiegel in der eleganten Weste trug und unaufhörlich sich selbst betrachtete. Er hat gleichsam auf dem Eise der Eitelkeit sein Fleisch konserviert. Er wurde sehr alt und drehte sich bis zu seinem Tode um nichts und wieder nichts als um ein leerlaufendes, unsoziales, kahles Ich. Seine Wunschträume waren etwa diese: Im Theater bei Uraufführungen auf dem ersten Platz in der ersten Reihe zu sitzen, unter aristokratischem, hochelegantem, sogenannt distinguiertem Publikum und von allen gesehn und gekannt zu sein. Auf der Georgstraße, Sonntag mittags beim Promenadenkonzert Arm in Arm mit einem »Prominenten« langsam auf und nieder zu schreiten, in einem hochwichtigen Gespräch, und von möglichst vielen anderen »Prominenten« dabei beobachtet und hochachtungsvoll gegrüßt zu werden. Vom Kultusminister angeredet zu werden mit »mein verehrter Freund« und im Gespräche mit dem Stadtdirektor so en passant aber mannesstolz sagen zu können: »Der Kultusminister ist zwar mein intimer Freund, aber ich bin ganz anderer Meinung ...« Er wollte nicht eben geliebt aber überall beliebt, nicht eben geachtet aber von jedermann beachtet sein. Er buhlte um die Gunst seiner Schüler, sonnte sich in dem Bewußtsein, der beliebteste, freieste, modernste Lehrer zu sein, begönnerte auffallend und sichtbar die Kinder armer einflußloser Eltern, aber warb dabei inständig um die Söhne aus reichen und mächtigen Häusern. Er hatte es gern, daß die Schüler ihn »den Alten« nannten, ihm die Hand küßten und an seinem Geburtstage, dem 4. Mai, möglichst viele Blumen und Gratulationen schickten. Ein kalter Streber durch und durch, trug er doch dick zur Schau die Formen und Farben des freiesten, adeligsten, vorurteilslosesten Mannes dieser Erde. Er wiegte sich in Liberalismus. Er nannte vor jedermann sich einen »Idealisten«. Er versicherte jedem, daß er radikal, vorurteilsfrei, unabhängig, modern sei und im Gegensatz zu seinen Kollegen, »auf der Höhe der Zeit« stehe. Er spielte beständig den Marquis Posa oder den Tell und kroch, ohne das bewußt zu wollen und zu wissen, vor Erfolg, Hochgeburt und Reichtum.

Grahns eigentliches Lebensgebiet (das verband ihn mit meinem Vater) war das Theater, dieser Tummelplatz jeder Lüge und Eitelkeit. Da er aber auch zur kleinsten Schöpfung unfähig und recht eigentlich ohne Wärme und ohne Seele war, so beschäftigten ihn tausend sinnfällige Äußerlichkeiten. Die Echtheit der Kostüme, die Kosten der Inszenierung, die Anzahl der Aufführungen, das Aussprechen der Vokale. Er hatte kluge Sinne und geschickte Hände. Er turnte, deklamierte, hielt Reden, setzte sich in Szene, posierte, nahm sich wichtig. Er katalogisierte Bücher, sammelte Autogramme, registrierte Theaterzettel, veröffentlichte Statistiken. Zum Beispiel: »Ich bin grade bei einer hochinteressanten Arbeit. Ich stelle fest, wie oft mein Freund, der berühmte Devrient, den Wallenstein gespielt hat.« Mit dem Dankbrief von »mein Freund, der berühmte Devrient« machte er sich dann wichtig vor »mein Freund, der bekannte Opernsänger Schorse Nollet«. Bei den Klassikerabenden verfolgte er, während oben »auf dem Olymp« seine Schulklasse bewundernd Beifall klatschen mußte, an Hand des mitgebrachten Textbuches, wie oft die Schauspieler sich versprachen. Hinterher veröffentlichte er, etwa unter dem Titel »Beiträge zur Kunst des Memorierens«, seine Fehlerverzeichnisse im »Hannoverschen Tageblatt«.

Eine seiner Sonderlichkeiten war, den Prinzen des Hauses Hohenzollern und den höchsten Würdenträgern des Reiches zu ihren Geburtstagen Glückwünsche zu senden und die dafür empfangenen Danksagungen in Albums einzukleben. Er war ein Rechthaber und Graunzer, der gleichwohl den Erfolg umschmeichelte. Er kannte nur Erfolg, ehrte nur Erfolg, trug aber die Maske des Mannesstolzes vor Fürstenthronen. Er buhlte um Beachtung von Seiten der Berühmten, trug aber dabei die Toga ihres unerbittlichen Kritikers.

Diesem schlimmsten unter allen meinen Quälern war die folgende Aufgabe zugewiesen: Er sollte den schlechtbefähigten, schwächlichen Sohn des Freundes durch die Schule bringen. Er erfüllte diese Aufgabe mit fühlloser Vortrefflichkeit. Man gab mich in seine Macht, und das war eine Hölle, aber eine Hölle ohne Lärm und Geräusch, in welcher nur kaltes Feuer brannte.

Friedrich Grahn war in seinen jungen Jahren Hauslehrer eines jungen Barons Königswarter gewesen. Dieser, einer der eigenartigsten Männer im alten Hannover und durch lange Jahre mein Freund, fühlte für seinen ersten Erzieher denselben Widerwillen, den auch ich fühlte; durch ihn erfuhr ich Folgendes über Grahns Werdegang.

Im Hause Königswarter befand sich zur Zeit der Hauslehrerschaft Grahns eine arme Verwandte, ein unschönes verzwergtes Mädchen, unfroh, zänkisch und unzufrieden. Die alte Baronin brachte es fertig, diese Verwandte mit dem jungen Hauslehrer zu verheiraten. Königswarter pflegte zu sagen: »Grahn hat unsere Tante Philippine nur genommen aus Eigensinn und Trotz. Er wollte damit auftrumpfen, daß er allein in der Welt gewagt hat, was sonst niemand gewagt hätte.« Philippine, die völlig unter die Botmäßigkeit Grahns geriet, wurde von der reichen Verwandtschaft reich ausgesteuert. Sie zeugten drei Kinder. Lange Jahre hindurch erhielten sie vom Hause Königswarter Beisteuern, bis die alte Baronin gestorben war und Grahns Ansprüche so maßlos wurden, daß die Familie die Verbindung abbrach, so daß aus der früheren Freundschaft ein lebenslänglicher Krieg wurde. Damit wurde die Ehe der beiden immer unfroher und unerquicklicher. Die Privathölle bei Grahn war das Gegenstück zur Privathölle meines Elternhauses. Das eine war Gluthölle mit ewigem Lärm und Geschrei; das andere Gletscherhölle mit freudloser Kälte und ehernem Frost. –

Nachmittags, nach vier, wenn die Schule zu Ende war, mußte ich binnen zehn Minuten in der Marienstraße 2 auf Grahns Stube mich einfinden. Da stand auf dem kleinen gelben Tisch die Tasse Malzkaffee mit dem trockenen Stück Graubrot. Als ich größer wurde, nannte ich das »meinen Sokratestrank«, wobei ich an des Sokrates Giftbecher im Gefängnis dachte. Punkt viertel nach vier mußte die Jause beendet sein. Dann begann das Lernen. Zusammengekauert und verängstigt hockte ich auf dem Rohrstuhl. Im günstigen Falle dauerte die tägliche Quälerei bis sieben, im ungünstigen bis acht. Der Zuchtmeister schritt in graublauer Hausjacke von Zimmer zu Zimmer. In jeder seiner Stuben saß geduckt in Einzelhaft ein Pensionär oder Halbpensionär. Mit diesem Nachhilfebetrieb für zurückgebliebene oder schwererziehbare Kinder verschaffte sich der geld- und machtgierige Mann eine stattliche Nebeneinnahme. Die Nachhilfeschüler wurden unter eisernen Druck gesetzt. Kaum, daß wir mit einander ein paar geflüsterte Worte tauschten. Unser Kerkermeister bezeichnete uns die Aufgabe, die wir zu lernen hatten, setzte sich uns gegenüber und hörte ab, und wehe, wenn wir nicht büffelten. Ging er ins Nachbarzimmer oder in sein Schlafgemach, um vor dem großen Spiegel den schönen blonden Vollbart zu streichen, so atmeten wir auf. Stand er auf der Schwelle und inspizierte, so wagte man kaum zu atmen. Derweilen übte auch die hexenhafte Zwergin Philippine Aufsicht. Da sie Jüdin war, so schickten gern die reichen Judenfamilien ihre nachhilfebedürftigen Kinder in die Schwitzhölle. Sie huschte durch die kahlen, seelenlosen Räume, kichernd, glucksend und böswillig, verschwand aber in das Nebengemach, sobald der Gott auf der Schwelle erschien, denn wenn sie auch vor uns die Obrigkeit spielte, so war sie doch im Innern genau so verdrückt wie wir Kinder. Muckte sie auf, dann ertönte seine ruhige, schneidende Rüge: »Verfüge dich hinaus, Philippine! Schweige! Ich dulde kein Weibergeschwätz!«

Obwohl ich durch etwa sechs Jahre der Privatschüler dieses Mannes gewesen bin, hat er doch an mir keinen Anteil genommen. Er wußte nichts von mir. Er dachte kaum je über den Zögling nach. Was in mir brannte und wühlte, das galt ihm als unreife Schwärmerei, Großmannssucht, ungehörige Schöngeisterei. Anders konnte er es nicht verstehn. Entscheidend für ihn waren die Schulzeugnisse. Und die waren schlecht und blieben schlecht, trotz aller seiner Wachsamkeit und trotz seiner ewigen Rücksprachen mit seinen Kollegen. Ich war der unbeliebteste Schüler der Anstalt. Man behielt mich aus Rücksicht auf meinen Vater und auf Grahn. Aber man hätte gern mich abgestoßen. Was eigentlich mit dem Kinde vorging, wußte keiner. Nur daß es überbürdet und auf der Schulbank unglücklich sei, war leicht zu sehn. Dennoch gelang es der unbeugsamen Zähigkeit Grahns, den unseligen Sprößling seines Freundes erst einmal bis Unter-Tertia zu schleifen. Ich saß meine täglichen drei, vier Stunden unter der Aufsicht der eisigen graublauen Augen und lernte mechanisch auswendig, in stumpfer Angst. Was ich lernte, war mir unendlich gleichgültig. Ich hätte auch »Abrakadraba« auswendig gelernt. Ich lernte mit tiefstem Widerwillen. Langsam sammelte sich der zäheste duldende Widerstand. Liebe zum »Lernstoff« konnte er mir schon darum nicht beibringen, weil er selbst (er war Altphilologe) auch nicht die mindeste innere Beziehung zu seinen Fächern hatte. Mein Widerwille und wohl auch die innere Erschöpfung waren so groß, daß selbst der Wunsch, etwas früher aus dem täglichen Lernstall entlassen zu werden und etwa noch vor Schlafengehen eine halbe Stunde mit Sultan, der auch an der Kette lag, durch den Garten laufen zu dürfen, mich nicht dazu bringen konnte, die widerwärtigen trigonometrischen Formeln oder die Verba auf »mi« mit Verständnis mir einzuprägen. Selbst die lebenden Sprachen, zu denen ich zweifellos Begabung gehabt hätte, habe ich nie gelernt. Einzig Verse und Musik erweckten einiges Leben. Natürlich konnte es Grahn, so wenig er auch über seinen Schüler nachdachte, nicht entgehen, daß Geheimnisse und Träume in ihm webten. Aber da er nicht an sie herankommen konnte, so betrachtete er das Dasein ihm unbekannter Seelenmächte als achtungslose Unbotmäßigkeit, die mit jedem Mittel gebrochen werden mußte. Sein Gefühl für mich war Mißachtung, aber zugleich Furcht. Er fühlte sich nicht sicher. Sein innerster Wunsch war, mich »kleinzukriegen«. Und es gelang zunächst vollkommen.

Der kleine Knabe erstarb in Ehrfurcht. Grahn war ein noch göttlicheres Wesen als der Vater. Denn der Vater schwankte und hatte Launen, Grahn aber thronte immer gleichmäßig, unnahbar, erhaben. Ihm einmal gleich zu werden, war der unerfüllbare Zieltraum. Eine Zeitlang kopierte ich sein Vorbild in allen Bewegungen und Redewendungen. »Er nimmt von dir an. Er wird dein Abklatsch«, sagte mein Vater, und der Gott lächelte geschmeichelt. Da er nie wie mein Vater brüllte und tobte, (wenn er losschalt, dann tat er auch das völlig bewußt und zielbestimmt), und da er nur selten kalt und fühllos mit dem Lineale mich züchtigte, (was denn freilich unerträglich schmerzhaft war), so mußte ich glauben, daß er mein Gönner und Freund sei. Das sagte er mir denn auch täglich mit volltönendem Pathos. Er streichelte, ja küßte mich. Und doch konnte ich nie einen Augenblick Vertrauen fassen. Immer hatte ich das dunkle Gefühl von Falschheit und Gefahr. Ich spürte, daß meine Natur ihm »nicht lag« und ihm Unbehagen einflößte. Die klare Einsicht aber in seine keineswegs einfache Gefühlsstellung erhielt ich erst, als ich, mit achtzehn Jahren, endlich bis zu seiner eigenen Klasse, der Obersekunda, aufgerückt war. Da war unsre Beziehung so wunderlich geworden, daß ich, vorausgreifend, einiges davon erzählen will.

Grahn hatte gegen Bezahlung und keineswegs mit reinem Gewissen mich getreulich durch die Schule geschleift. Zweimal war ich trotz all seiner Mühen sitzen geblieben. Nun endlich war ich in seiner Klasse. Er fühlte sich meinem Vater verpflichtet. Er war gewillt, mich, wenn irgend möglich, durchschlüpfen zu lassen. Aber zugleich ärgerte ihn auch diese Verpflichtung. Und am tiefsten wurmte ihn, daß inzwischen mein Selbstgefühl langsam herangereift war. Ich war ursprünglich sein Sklave, sein Bewunderer gewesen. In den langen Jahren der Qual hatte ich all seine Mätzchen durchschauen gelernt. Ich fürchtete ihn sehr, aber bewunderte nicht mehr. Er fühlte, daß seine bewunderungssüchtige Person mir nicht mehr Achtung einflöße, ja, er ahnte Verachtung. Und so sollte ich geduckt, gedemütigt, eingeschüchtert und herabgedrückt werden.

Er unterrichtete in Obersekunda Latein, Griechisch und Deutsch. Deutsch galt als das wichtigste Hauptfach. In diesem Fache besaß ich frühe Überlegenheit. Aber lieber wollte Grahn in Latein und Griechisch, worin ich doch wenig leistete, mich durchschlüpfen lassen. Im Deutschen mußte geduckt werden. Das erste Aufsatzthema, das er uns stellte, lautete »Der Frühling ist da.« Gutgläubig, noch nicht gewitzt genug und wohl auch in dem Wahn, Grahn Achtung abzwingen, ja ihn vielleicht »umwerfen« zu können, lieferte ich, ganz erfüllt von der Welt Wilhelm Jordans, eine sorgsame reife Arbeit über Frühlingsmythen. Er verstand sicher nicht viel davon. Aber gab die Arbeit zurück, übersät mit Ausrufungszeichen in roter Tinte und Randbemerkungen wie: »Phrase! Vorlautes Gerede! Unreifes Geschwätz! Überstiegenheit!« – Zu jener Zeit saß mein nächster Freund Ludwig Klages eine Klasse über mir in Prima, und da wir die Schule nur als unvermeidliches Übel trugen, dem wir im Innern längst entronnen waren, so trafen wir die Vereinbarung, daß Klages unter dem Namen Lessing die Aufsätze für Grahn in Obersekunda, ich dagegen unter dem Namen Klages die Aufsätze in Prima für den gegen Klages wohlgesinnten Professor Hornemann anfertigen solle. Die Folge war, daß meine Aufsätze in Prima die ersten Zensuren bekamen, während Klages in der Sekunda die Normalnummer nicht erreichte, sondern die Hefte zurückerhielt mit bösartigen Randbemerkungen wie: »Echt Lessingsche Phrasen! Unreifes Geschwätz! Überstiegenheit!« An dreißig Jahre später, selber ein Lehrer geworden, habe ich mir den Scherz nicht versagt, diese Schulerfahrung in Form einer Plauderei »Mein Aufsatz über den Aufsatz« in einer pädagogischen Zeitschrift zu veröffentlichen und dieses Feuilleton meinem Quäler von ehemals persönlich zu übergeben. Darauf schickte er mir einen verärgerten Brief, der den ganzen Mann charakterisiert mit dem folgenden Satz: »Sie scheinen nicht zu bemerken, daß Sie sich eines strafbaren Betruges schuldig machten. Nur ein durch und durch verderbter Schüler kann das Vertrauen seiner Lehrer so täuschen.«

Damals, um 1884, als ich, ein zerdrückter kleiner Bub in der Marienstraße (das Haus ist längst verschwunden), Tag um Tag unter Grahns kalter Fuchtel Grammatik ochsen und saudumme Übungsstücke ins Latein übersetzen mußte, da konnte ich freilich nicht wissen, daß ich je diese zermalmenden Schulgrößen überwachsen werde. Ich war ein dumpfes Lamm, und mein gewöhnlicher Tageslauf war auf Jahre hinaus der folgende.

Morgens um sieben, im Sommer um sechs, kroch ich, immer unausgeschlafen, aus dem Bett und mußte, weil ich schwächlich sei, einen riesigen Teller mir zuwideren Roggenbrei futtern. Dann rannte ich los, kam meistens zu spät und hockte nun vier Stunden in der Holzbank, unsäglich teilnahmslos und wie ausgeödet. Wenn ich dann – (am liebsten auf langen Umwegen) – von der Schule wieder nach Hause kam, dann sollte ich Damms Klavierschule und Diabellis Etüden üben, wovon ich mich aber nach wenigen Minuten zu drücken pflegte, indem ich zu Sultan hinunterschlich, der wie ich den langen Tag an der Kette lag und dessen gute Stunden nur die waren, wo ich ihn losmachen und mitnehmen konnte. Wir versuchten Else von Harlessem auf ihren Schulwegen zu sehn oder wir versteckten uns im Pferdestall, wohin keiner aus der Familie je kam. Um eins wurde gegessen. Lieblos mit viel Geschrei. Dann gings sofort wieder zur Schule. Denn damals bestand der Unfug des Nachmittagsunterrichtes. War endlich auch die Nachmittagsfron abgesessen, dann, Punkt zehn Minuten nach vier, erwartete mich der Sokratestrank; und wurde ich endlich abends um sieben aus der Tretmühle entlassen, dann war wieder mal ein unwiederbringlicher Jugendtag gestohlen worden und es blieb kaum noch Zeit, einen aufrührerischen Gedanken oder schwermütigen Vers in das »Geheimbuch« zu schreiben. Aber zum Glück kamen dann auch freie Mittwoch- und Sonnabendnachmittage, obwohl mir auch diese oft von Grahn fortgenommen wurden. Es gab Ferien, es kamen Sonntage, wo ich vom Hause fortlaufen konnte. Später, als das Verhältnis zum Vater so schlimm geworden war, daß man mich am liebsten vor ihm versteckte, wurde ich so oft wie möglich aufs Land geschickt. Und vor allem, so widerspruchsvoll das klingt, mein Leben schützte sich durch beständiges Kranksein. Ich mußte immer wieder auf lange Zeit fehlen und zu Bett liegen. Das unnatürlich lange und langweilige Hocken auf Stühlen und Bänken rächte sich durch beständige Neigung zu Husten und Katarrhen, vor allem aber durch hartnäckige Darmträgheit. Ich nahm nur selten an den Turnstunden teil, weil ich mir dort immer wieder Verletzungen holte. Ich war viel zu müde und zu steif zum Turnen und andrerseits doch ehrgeizig. Die Turnstunde war eine Qual. Für die Leiden der Kinder im guten Bürgerstand gab es damals immer dieselben schönen Formeln: Blutarmut, Anämie, Chlorose, etwas skrofulös, etwas nervös. Dagegen verordnete man »Stärkungsmittel«. Und für Stärkungsmittel hielten die Ärzte: Tokayer, schweren alten Rotwein, Schlageier und Schinkenbrötchen. Damit wurde auch ich behandelt, so lange bis sich Herzklopfen und Nasenblutungen einstellten. Es wurde unhygienisch gekocht; viel zu fett und viel zu süß, gesalzt und gewürzt. Es wurde unregelmäßig gegessen. Mittags just vor der Nachmittagsschule und abends just vor dem Schlafengehen wurde der Magen überstopft. Der Vater examinierte: »Hattest du heute Verdauung? Wie lange nicht?« Und dann verordnete er »Wiener Tränkchen« oder »Hermannsthee«. Und wenn das nicht nutzte, ein Warmwasser -Klistier. Das wurde schließlich zur täglichen Gewohnheit. Und als gar nichts mehr nutzte, handelte er wieder ebenso wie im Falle Grahn. Er wollte die Verantwortung für den ihm verdrießlichen Jungen gern zur Seite schieben. Daß er Geld hergab, erschien ihm gering. Neben unserem Hause befand sich eine Apotheke. Der alte Apotheker Kohli bekam drei Mark im Monat. Dafür übernahm er es, den Jungen von der Stuhlträgheit zu befreien. Das geschah so: täglich, meist kurz vor dem Mittagessen, trat ich an im Arzneiladen und bekam ein Tränkchen. Immer etwas anderes, »damit sich der Darm nicht gewöhnt«. Lange Monate ging das gut. Dann aber wollte überhaupt nichts mehr wirken, und es trat eine Stuhlverhaltung ein, die vierundzwanzig Tage lang anhielt, ohne daß es gelang, die verhärtete Masse zu entfernen. Mein Vater führte seine ganze Kollegenschaft an das Krankenbett. Jeder klopfte weise den Leib ab und konstatierte, wo die Verhärtung saß und versuchte es mit neuen Einläufen oder anderen Abführmitteln. Zur Nahrung bekam ich nur Kaffee und Honigkuchen. Schließlich aber war mir so übel, daß ich nicht mehr essen wollte. Man lauerte ängstlich auf das Eintreten des Erbrechens, und mein Vater ließ von Berlin den Chirurgen Körte kommen. Der versuchte durch Belladonna den Darm zu erweitern. Da es nicht half, sollte zur Öffnung geschritten werden. Die Wahrheit aber war, daß ich keine Lust hatte, weiterzuleben. Ich lag lammsgeduldig und hatte nur den einen Wunsch, nie wieder aufstehn, nie mehr zur Schule und nie mehr zu Grahn zu müssen. Ich beschäftigte meinen Geist mit dem Abfassen eines Testamentes. Darin sagte ich den Eltern, daß ich gern stürbe und daß sie meine Gedichte gut bewahren möchten. Denn da in die Gedichte meine ganze Seele eingegangen war, so hielt ich naiv sie für außerordentlich. Nahe vor dem zur Operation vorgesehenen Termin brachte mein Vater auch noch den Direktor der Gebäranstalt an mein Krankenbett. Er hieß Hartwig, war ein Fettwanst, ein Ungeheuer von Mann. Zunächst befahl er mir, so schwach ich auch auf den Beinen war, aufzustehn und dreimal den Rasen im Garten zu umlaufen. Darauf – ich war totmatt und in Schweiß – massierte er mit seinen ungefügen Pratzen den Leib, daß ich schrie. Schließlich ließ er zwei Liter heißes Öl einlaufen und befahl, es so lange festzuhalten, als ich irgend vermochte. Aber als ich zu platzen glaubte, konnte ich das Öl nicht mehr verkneifen und mit ihm kamen die verhärteten Massen. Damals war schon bei uns die Frau auf Besuch, die mich fortan unter ihre Fittiche nahm, Grete Ehrenbaum, meine Pflegemutter. Ohne sie wäre ich nicht am Leben geblieben.


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