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»Denn ich bin vom Stamm, der schon lang seine Früchte getragen,
Wir glühten einst groß, doch verglühten zu windig bewegt,
Verkannte Wandrer, an Ufer der Fremde verschlagen,
Und auch nicht ein Schüler bleibt, der unsre Gräber pflegt.«
Der Mädchenname meiner Mutter, Adele Ahrweiler, deutet auf eine freundliche Kreisstadt an der Ahr, weithin bekannt durch fröhlichen Weinbau. Ein Zweig der Familie nannte sich Bleichert. So heißt ein hellrötlicher Wein, der auf steilen Schieferbergen im Ahrtale reift.
Es waren kleine Leute an Rhein und Main; sie fristeten ihr Leben mit Ackerwirtschaft, so weit die den Juden gestattet war, und mit Korn-, Vieh- oder Weinhandel. Es ist wenig über diese Vorfahren in Erfahrung zu bringen, weil erst um 1800, auf Verfügung Napoleons, die Juden in den Rheinlanden Familiennamen erhielten; bis dahin führten sie hebräische Namen.
Die Gemeinden am Rhein und Main waren alt. In Köln und Trier, sicher aber in Worms und Mainz, saßen schon zur Römerzeit Juden. Die Häuser des Ghetto trugen Bilder und Abzeichen, wie Schiff und Kahn, Wolf und Bär, Traube und Spieß. In vielen Fällen wurde der durch ein Schild kenntlich gemachte Name des Hauses einfach auf die Familien übertragen, welche das Haus bewohnten, und so bekamen sie denn Namen wie Gans, Hirsch, Lamm, Fuchs, Ochs und Kuh. In andern Fällen wählte die Familie den Namen des Ortes, wo die Voreltern begraben lagen und woher sie stammten.
Als meine Urgroßeltern den Namen Ahrweiler annahmen, da wohnten sie bereits im benachbarten Koblenz; dort betrieben sie um 1800 eine Metzgerei, welche nachweislich durch drei Generationen in der selben Familie blieb. Das Handwerk des Schlächters, des rituellen Schlächters, konnte in den alten Gemeinden nur von strenggläubigen Männern ausgeübt werden. Daher ist wohl anzunehmen, daß diese Vorfahren fromme Leute gewesen sind, obwohl schon mein Großvater, welcher reich geworden als Bankherr in Düsseldorf lebte, nicht mehr der jüdischen Gemeinde angehörte. Zur Zeit meiner Geburt (1872) lebte noch der Vater des Großvaters als Metzger in Koblenz, ein bäurischer Mann, der weder schreiben noch lesen konnte und das Vieh eigenhändig auf die Märkte trieb. Wenn ich recht berichtet bin, so hatte er vierzehn Kinder, von denen mein Großvater Leopold das letztgeborene war. Gekannt habe ich von den vielen Kindern nur eine Großtante, welche, unverheiratet und hochbetagt, im Hause des Großvaters wohnte. Gehört habe ich von dem ältesten Bruder, welcher als einziger von den Kindern bessere Bildung erhielt, als Badearzt in Neuenahr und Kreuznach wirkte und 1860 als Medizinalrat verstorben ist. Mein Großvater wünschte zu studieren, aber weil der älteste Bruder zum Studium bestimmt ward, mußten die andern Söhne minder kostspielige Berufe ergreifen. Der Großvater erlernte das Bankfach; zwanzig Jahre alt wurde er in Düsseldorf Buchhalter in der Bankfirma Gebrüder Wolf, welche in der Bolkerstraße 53 unterstandete; meine Mutter und Heinrich Heine wurden im gleichen Hause geboren.
Zu Anfang seiner Zwanzigerjahre war der Großvater ein hoch aufgeschossener hagerer Jüngling mit stark knochigen Gesichtszügen, großer energisch vorspringender Nase, weichem bräunlichen Haar und schwärmerischen, braunen Augen. Da er anfällig auf der Brust war, so verbrachte er viele Sommer in Davos. Er war eine wunderliche Mischung von Schwärmer und Rechner, ein nüchterner Geschäftsmann, aber insgeheim weich und begeisterungsfähig. Sein Leben war reich an Glücksfällen. Der Inhaber des Geschäfts, in dem er arbeitete, war ein betagter Hagestolz, dem eine etwa vierzigjährige Nichte die Wirtschaft führte, ein unschönes, derbes, schon verblühendes Mädchen, namens Sophie Meyer. Sie verliebte sich in den um zwanzig Jahre jüngeren Buchhalter, woraus, wie die erhaltenen Briefe bezeugen, ein gefühlsseliges Verhältnis sich entspann; sie schrieben einander Briefe im Stile des »Werther« über Naturfreuden, gelesene Bücher, bescheidene Reisen, und der Großvater, der ein nicht unbedeutendes dichterisches Talent hatte, schickte seiner Gönnerin Gedichte und kleine Dramen. Da der Onkel Wolf die Heirat seiner Nichte mit dem Buchhalter nicht erlauben wollte, so floh schließlich das tatkräftige Mädchen mit dem jungen Manne nach Schottland, wo man damals unschwer die bürgerliche Trauung erlangen konnte. Sie wurden getraut von dem bekannten Schmied in Greetna Green, und der zürnende Onkel mußte sich drein ergeben. Er soll froh gewesen sein, als die Ausreißer, ohne die er nicht leben mochte, wieder zurückkamen. Er zog sich dann bald aufs Altenteil zurück und machte den neuen Neffen zu seinem Nachfolger. Der führte die Firma schließlich unter seinem eigenen Namen und brachte sie dank mancher Glücksfälle zu erstaunlicher Höhe.
Es kam der siegreiche deutsch-französische Krieg. Es kamen die Gründerjahre. Der Großvater war jetzt Hausbankier der Fürsten Hohenzollern. Die Bank befand sich in einem Patrizierhaus an der Kanalstraße. Ein Bach, genannt die Düssel, floß am Hause vorbei. Jenseits des Baches lief die schöne stille Königsallee. Einige Schritte weiter begannen die Promenaden des Hofgartens. In dem weißen Hause, das überstopft mit altertümlichem Hausgestühl, Ölbildern, Kupferstichen, Stahlstichen, Büchern, Gobelins, kostbaren Porzellanen und Teppichen mehr einem Museum glich als einem Wohnhause, habe ich einen Teil der frühen Kindheit verlebt.
Der Großvater besaß ein Vermögen von etwa drei Millionen Mark, war also für jene Tage ein sehr reicher Mann. Er wurde nach dem Tode seiner Frau, mit der er zwanzig Jahre lang die zärtlichste Ehe geführt hatte, zum Sonderling. Er bekümmerte sich nur noch wenig um Geldgeschäfte, kümmerte sich auch kaum um seine Umgebung, sondern lebte in Sammlerinteressen oder für seine schöngeistigen Neigungen. Da er erst im Alter seinen Hunger nach geistigen Freuden stillen konnte, so blieb er immer ein unkritischer Dilettant; er sammelte eine altmodische Bücherei und eine Fülle von Autographen, unter welchen später wichtige Urschriften entdeckt wurden, so von Erich Schmidt die Urfassung von Bürgers Ballade »Leonore«. Ferner besaß der Großvater eine beträchtliche Gemäldegalerie. Er schrieb bis zu seinem Lebensende im achtzigsten Jahre (1898) viele Gedichte und Dramen, wovon Einiges sich erhalten hat.
Er hatte alle Fehler eines Emporkömmlings, der befangen in den Vorurteilen des damals allmächtig werdenden bürgerlichen Mittelstandes, seine Herkunft aus Handwerk und Proletariat vergessen hat und vergessen machen möchte. Er legte großen Wert auf seinen Verkehr mit Künstlern und in Adelskreisen. Die Maler Hasenclever, Preyer und Böker und der Dichter Friedrich von Uechtritz waren die nächsten Freunde des Hauses. Gern zeigte er sich auf den Wegen im Hofgarten in Gesellschaft glänzender Offiziere, ließ sich im Schmuck des Hohenzollernschen Hausordens fotografieren, kurz war behaftet mit komischen Eitelkeiten, die allzu bescheiden waren. Seine Kinder wurden, wie viele Kinder aus reichen Häusern, zugleich verwöhnt und vernachlässigt, sie lernten nur oberflächlich, aber stellten gleichwohl große Ansprüche, und da die Familie aus kleinen Verhältnissen durch das Geld emporgekommen war, so wurde Geldbesitz zum Wertmesser für den Rang und das Ansehen in der bürgerlichen Gesellschaft.
So lebte der alte Herr das Leben eines gesättigten Großbürgers, dessen oberster, fast geheiligter Grundsatz lautet: »Nur kein Kapital anbrechen«. Sein Augenmerk war, das Erworbene zusammenzuhalten; mehr erstrebte er nicht und wurde darüber ungerecht und bequem.
Er hatte eine kindliche Gabe, alles was sein Behagen stören oder ihn vor unangenehme Gedanken oder starke Entscheidungen stellen konnte, sich mit Diplomatie vom Leibe zu halten. Er sagte zu keiner Sache je ein unbedingtes Ja oder Nein, sondern ließ alles in der Schwebe, wich aus und gebrauchte gerne Redewendungen, wie: »Ei, ei, das nenne ich wunderlich«. »Ja, das sind wieder so neumodische Sächelche.« »Ja, ja, alles hat zwei Seiten.« »Leutchen, Leutchen, das will überlegt sein.« Gewöhnlich verliefen Familienangelegenheiten folgendermaßen:
Großvater tat zunächst so, wie wenn er den Redenden nicht verstände. »Wie? Was meinst du? Nu, was wieder? Sprich doch lauter! Ich höre nicht gut.« Auf diese Weise zwang er den, der Bitte oder Anliegen hatte, zunächst zwei- oder dreimal dieselbe Sache vorzutragen. Währenddessen überlegte er sich, was er antworten und wie er ausweichen könne. Sah er aber keinen Ausweg, dann schlug er entsetzt die Hände zusammen und sagte: »Neumodische Sachen! Ungefangene Fische! Wills mir in Ruh überlegen.« Damit lief er hinaus und war nicht mehr zu erreichen. Er forderte, daß in seiner Gegenwart immer nur Angenehmes und Liebenswürdiges gesprochen werde. Er nannte das »Goethesche Lebensweisheit«. Er mochte nichts Häßliches sehn oder hören. Worte wie »Krankheit«, »Sterben«, »Tod« durften in seiner Gegenwart nicht ausgesprochen werden. Todesfälle aus seiner Generation wurden ihm verschwiegen. Nie ging er zu Beerdigungen, nie in ein Krankenzimmer. War ein Familienmitglied auch nur erkältet, dann kam es in Quarantäne in das oberste Stockwerk des großen Hauses. Der Hausherr kam nie dorthin; man mochte sich wochenlang dort vom Personal verpflegen lassen, aber vor dem Hausherrn durfte man nur dann auftauchen, wenn man fröhlich war und gesund. Zumeist saß der alte Herr im hintersten Hofzimmer des Parterre zwischen alten Folianten; er saß in einem rotplüschenen Sessel und studierte durch ein mächtiges Vergrößerungsglas die Dichter des vergangenen Jahrhunderts. Während der Sommermonate zog er in sein Landhaus nach Heidelberg. Das war eine an der Straße nach Neuenheim am Neckarfluß gelegene Bergvilla, mit einem großen, terrassenförmig ansteigenden Garten, darin Granaten, Edelkastanie und Wein wuchs. Der alte Herr war immer bedacht auf »Reputation«. Jeden Abend, jahraus, jahrein, ging er in den »Verein« und trank dort eine Flasche Rheinwein. Der »Verein« war ein Klub alter Würdebären; auf deren Meinungen legte er am meisten Wert.
In seinen letzten Lebensjahren hatte er die Schrulle, alles zu vergolden. Er band die Bücher seiner Bibliothek in vergoldete Pappen. Er vergoldete eigenhändig die Beine der Stühle und die Lehne seines Bettes. Wenn er in guter Laune war, dann lud er mich zu einem Glase Wein und begann seine Gedichte und Dramen vorzulesen; er hatte gern, daß ich ihn durch Ausrufe der Bewunderung unterbrach, geschah das nicht, so machte er Pausen und sah mich so lange fragend an, bis ich »Herrlich« sagte. Kam eine Stelle, die er für gut hielt und ich schwieg, dann sagte er sicher: »Warum redest du nichts?« Dann mußte ich »Herrlich« sagen. Doch das tiefste Zeichen seiner Zuneigung war, wenn er von seiner »in Gott ruhenden Sophie« zu sprechen begann.
Er hatte nicht die mindeste Ahnung von Liebesgeschichten und sah das Verhältnis von Frau und Mann mit den Augen eines romantischen Jünglings der Wertherzeit. Nie in seinem Leben hat er eine andere Frau erkannt, als seine Sophie, die weder schön war, noch jung und nach der Geburt von fünf Kindern einem Krebsleiden verfiel. Sie wurde jahrelang im Rollwägelchen gefahren, und er wachte eifersüchtig darüber, daß kein anderer als er selber die Geliebte in der Königsallee spazieren fahre. – Als sich ein junger Mann aus wohlhabendem Hause um meine Schwester bewarb, da zog der Großvater Erkundigungen ein nach dem Vorleben des Bewerbers. Dann sagte er, daß die Verbindung mit einem solchen Schurken unmöglich sei. Als ich ihn bat, mir zu sagen, was denn der Jüngling verbrochen habe, da schwankte er lange, ob er das Erfahrene aussprechen könne. Dann nahm er mir das Versprechen ab, nie davon zu reden und flüsterte schließlich mit dem Ausdruck des Ekels und Entsetzens mir leise ins Ohr: »Denke nur, der Lump hatte eine Maitresse.«
Meine Mutter, am 5. März 1848 geboren, war das älteste Kind. Dann kam eine Tochter Antonie, gestorben 1920 als Gattin des Fabrikanten Friedberg in Berlin. Dann Clara, gestorben 1925 in Hamburg als Gattin des Großkaufmannes Calmsohn. Zu viert der Sohn Otto, vom Vater verwöhnt und vergöttert. Er wurde Kunstmaler, Schüler Otto Strützels in München. Er malte hunderte hübscher Landschaften und starb 1906 in Berlin, fünfzig Jahre alt. Zu fünft endlich Maria, welche kindisch und zeitlebens mit wunderlichen Schrullen behaftet blieb. Sie lebte unverheiratet, nachdem alle Geschwister ausgeflogen waren, in einem großen Hause als Haupterbin des Vaters unter den hinterlassenen Kunstsammlungen mit einer ebenso wunderlichen Gesellschafterin, verschroben und grillenhaft, erfüllt von beständiger Angst vor Stecknadeln, Glassplittern, Katzen und vergifteten Speisen, womit sie sich und andern das Leben schwer machte.
Als 1868 die Mutter starb, war die älteste Tochter Adele zwanzig Jahre alt.
Während ich von den Vorfahren meiner Mutter mangels jeglicher Familienforschung nur dieses Wenige ermitteln konnte, vermag ich von den Ahnen von Vaters Seite manches Gesicherte festzustellen, nicht freilich in männlicher Linie, deren Kunde schon bei dem Großvater erlischt, wohl aber im Verfolgen der Linie meiner Großmutter.
Wenn die Angaben in Büchern und Briefen keinen Irrtum enthalten, so stammte mein Urgroßvater vaterseits aus der Grafschaft Hoya. Und zwar soll er eine an der Hunte gelegene Ackerwirtschaft geführt und mit Vieh gehandelt haben; er wird in alten Papieren bezeichnet als »der Schutzjude Leiser (Eliesar) aus Hoya«. Er selber nannte sich Levy und soll aus dem priesterlichen Stamme der Leviten gekommen sein. Dieser Urgroßvater soll zweimal verheiratet gewesen sein. Mündliche Überlieferung berichtet, er habe nach dem Tode seiner Frau die christliche Magd bei sich behalten und ein Kind von ihr als das seine legitimiert. Welcher Sohn das gewesen ist, läßt sich nicht feststellen. Mein genealogisches Wissen endet bei drei Söhnen dieses Levy, von denen der älteste Alexander den Namen Leiser beibehielt aber in Leser umwandelte. Ich weiß nicht, ob dieser Leser schon Christ war oder später die Taufe nahm oder ob erst seine Kinder getauft wurden. Ich entsinne mich nur einiger Vettern und Kusinen dieses Namens, die um 1900 in Hannover wohnten; eine davon wurde Gattin eines Ministerialdirektors namens Adolf Matthias, welcher durch pädagogische Schriften (»Wie erziehen wir unsern Sohn Benjamin?«) sich bekannt machte.
Der zweite der drei Brüder, mein Großvater, führte zum Gedächtnis an seinen Vater den Vornamen Levy und schrieb den Familiennamen nicht Lessing, sondern abwechselnd Leshing oder Lehsing. Das Wort dürfte wendischen oder slavischen Ursprungs sein und zurückgehen auf die Silbe less oder löss, wie sie erhalten ist in Ortsnamen wie Unterlüss oder Lössgrund und ursprünglich Wald oder Förster bedeutet. Ganz sicher läßt sich feststellen, daß dieser Namenswechsel zurückzuführen ist auf das Erscheinen von Gotthold Ephraim Lessings Drama »Nathan der Weise«, auf dessen Fürsprache zugunsten der Juden und auf die Befreiung, welche diese Fürsprache hervorrief. Aus Dankbarkeit für dies hohe Lied der Duldung nahmen damals mehrere jüdische Familien in Preußen, Hannover und Bayern den Namen Lessing an. Der dritte und jüngste Bruder endlich behielt zum Andenken an den Herkunftsort Hoya den Namen Heuer oder Hoyer, ein Name, der in Hannover häufig ist.
Sicher weiß ich, daß mein Vatersvater Frühling 1803 mit einem Talerstück, das ich noch bewahre, von Hoya nach Hannover kam, ins Haus seines Onkels Heilbronn aufgenommen wurde und alsbald vom Kurfürsten Erlaubnis bekam, ein kleines Lotterie-Geschäft aufzutun in der Residenzstadt, die unter dreißigtausend Einwohnern etwa dreihundert Juden hatte. Er heiratete seine Kusine, kaufte ein (noch heute vorhandenes) Haus an der Bäckerstraße und hatte dreizehn Kinder, von denen mein Vater das jüngste war.
Ein zuverlässiges Werk »Geschichte der Familie Lessing« verzeichnet sämtliche Personen, die von Jakobus, dem jüngeren Bruder Gotthold Ephraims stammen. Es ist selbstverständlich, daß die jüdischen Familien, die seit etwa 1800 den Namen führen (und nach Siebmachers »Deutscher Wappenkunde« drei ineinander geschlungene Ringe als Familienwappen annahmen), nicht mit Gotthold Ephraim blutsverwandt sein können. Aber der folgende Umstand stiftete genealogische Verwirrung.
Die sogenannte Emanzipation der Juden, also ihre »bürgerliche Gleichberechtigung«, führte zu Massenübertritten; so trat ein großer Teil der Judenschaft Berlins zur evangelischen Kirche über, darunter auch die Verwandten meiner Großeltern, Personen, welche ebenfalls den Namen Lessing trugen. Es läßt sich daher, wenn heute der Name auftaucht, oft nicht mehr feststellen, ob eine jüdische oder germanische Abkunft dahintersteht, ja, es wäre sogar möglich, daß zwischen den jüdischen oder christlichen oder neuchristlichen Namensträgern eine Blutmischung stattgefunden hat.
Ich besitze einige Bücher von Personen, die angeblich mit mir blutsverwandt waren, ohne daß ich doch Grad und Art dieser Verwandtschaft noch festzustellen vermöchte. Zunächst eine Reihe medizinisch-pharmakologischer Werke, darunter eine umfangreiche »Materia Medika« vom Jahre 1859 von einem Michael Benedikt Lessing in Berlin, welcher auch eine Biographie des Parazelsus schrieb und Ehrenbürger der Stadt Salzburg gewesen ist. Ferner besitze ich eine vierbändige »Lehre vom Menschen« aus dem Jahre 1832 von Carl Friedrich Lessing, Kanzler des Standesherrlichen Gerichtes in Polnisch-Wartemberg, welcher als »der ehrliche Lessing« ein bekannter Jurist war und einundzwanzig Kinder hinterließ.
Von meinem Großvater Leiser Levy Lessing bewahre ich ein altes Petschaft zum Siegeln von Briefen, welches als Wappen drei ineinander verschlungene Ringe zeigt, was wohl eine Anspielung sein soll auf die Erzählung von den drei Ringen, mit welcher Nathan der Weise den Sultan Saladin belehrt. Es gab in der Familie meines Großvaters ein Exemplar von »Nathan der Weise«, welches eine eigenhändige Widmung Gotthold Ephraims enthielt.
An meinen Großvater erinnere ich mich als an einen alten Mann zwischen dem achtzigsten und neunzigsten Lebensjahr, groß, dürr, hager, mit langen weißen Haaren und Bart. Er gestikulierte und sprach unruhig aufgeregt; ich hatte große Furcht vor ihm. 1879 starb er im Stephansstift, einem Altersheim bei Hannover; sein Grab auf dem jüdischen Friedhof an der Strangriede ist noch erhalten. Meine Großmutter Täubchen war die Kusine ihres Mannes. Sie war kräftig und groß, blauäugig, blond, von sehr zarter Haut, hatte ein tüchtiges und frohes aber ganz und gar unschwärmerisches Gesicht, ein wenig ähnlich dem der lächelnden Mona Lisa. Sie war eine fromme Jüdin, opferte bei der Verheiratung ihr Haupthaar und trug den Scheitel und das Kopftuch, wie es unter den Frommen Sitte war. Sie schrieb nur hebräische Schrift. Ihre Herkunft läßt sich zurückverfolgen bis zum Jahre 1750, wo sie endet bei einem Talmudgelehrten in Halberstadt, einem Rabbi David Federschneider. Sie wurde in späteren Jahren Therese genannt, wonach ich Theodor heiße und stammte aus einer Gelehrtenfamilie namens Heilbronn. Von ihrem Großvater Aron Heilbronn, Sohn des Simon aus Heilbronn, ist auf dem alten Bergfriedhof in Hannover noch der Grabstein erhalten. Die Inschrift, welche den 3. Juni 1775 als Todestag verzeichnet, lautet in deutscher Übersetzung so:
»Finsternis und Todesschatten haben sich über uns gesenkt.
Laß auf den Höhen Klagelieder anstimmen, Gemeinde.
Erhebe schluchzend Deine Stimme, daß so viel Schönheit in die Erde gesenkt wurde.
Darob verfinstere die Sonne, und der Mond lasse nicht mehr strahlen sein Licht.«
Der Sohn des also Besungenen und jung Verstorbenen hieß nach seinem Großvater Simon Heilbronn und heiratete ein junges Mädchen namens Sarah Simon, Tochter eines der reichsten Männer in ganz Deutschland, des hannoverschen Hofbankiers Ezechiel Simon, in dessen Bankhaus Anselm Rotschild, der Begründer der Gelddynastie, welcher den Lehrherrn später weit überflügelte, als Kommis gelernt hat. Aus dieser Ehe ging als die älteste von vier Geschwistern meine Großmutter hervor. An ihren Großvater Ezechiel erinnert in Hannover noch heute ein nach ihm benannter Platz mit einem Schmuckbrunnen.
Ich will nun noch einige Daten über die Eltern und Voreltern dieser Großmutter Täubchen-Therese festhalten. Das Grab ihres Vaters ließ sich nicht mehr finden; wohl aber ließen sich Gräber ihrer Geschwister nachweisen. Da ist zunächst das Grab einer kleinen Schwester Edel, die als ein Kind von zehn Jahren verstarb und sodann das Grab einer unverheiratet gebliebenen jüngeren Schwester Jeanette; sie wurde Tante Nette genannt und mein Vater nahm bei ihr als junger Arzt im Jahre 1860 seine erste Wohnung. Das Grab dieser Jeanette Heilbronn liegt unmittelbar neben dem meiner Großmutter auf der höchsten Spitze des Friedhofs, in welchem, da der Raum zu klein wurde und der Judengemeinde kein neuer Raum zur Bestattung ihrer Toten zugewiesen wurde, so, wie auf dem alten Friedhof in Prag, immer das folgende Geschlecht über den Resten des vergangenen gebettet wurde, bis aus dem Friedhofe ein Berg ward. Es ist dies das letzte Grab gewesen, welches auf dem alten Friedhof angelegt wurde und zugleich das erste, welches im Gegensatz zu den anderen Gräbern eine Inschrift in deutschen Lettern trägt. Wenn ich unter der Tränenweide auf dieser Bergspitze stand, so hatte ich das Bewußtsein, die letzte Blüte dieser aller zu sein.
Ein Bruder meiner Großmutter hieß Aron; er selbst wie seine Kinder wurden früh getauft und gaben einer Reihe protestantischer Pastoren das Leben. Er war ein mächtiger Mann, ihm gehörte das ganze Terrain zwischen Hannover und dem Dorfe Döhren, wo heute der Engesohder Friedhof sich befindet. Er lebte meist in London. Übrigens waren die Geschwister der Großmutter alle blonder blauäugiger Typ und von dem ortsansässigen niedersächsischen Schlage kaum verschieden, obwohl die Abkunft von beiden Eltern her, sicher rein jüdisch war.
Die Geschichte und Vorfahrenschaft der Familie Simon, also der großmütterlichen Eltern und Voreltern, ließ sich leicht zurückverfolgen, weil es die versessenste Welfenfamilie Hannovers war, welche mit dem englisch-hannoverschen Königshause emporkam und mit ihm unterging. Diese Familie erfuhr jähen Wechsel von Erfolg und Mißgeschick und zeugte Menschen von merkwürdigem Schicksal.
Ezechiel Simon, der Bankier der englischen Könige, soll inmitten seines Reichtums immer schwermütig gewesen sein. Er vergiftete sich am Passahfest 1839, worauf sein Sohn Israel, also der Onkel meiner Großmutter, welcher den Titel Oberkommerzrat führte, das Geschäft und Vermögen seines Vaters erbte. Er vermehrte seine Hausmacht, indem er Henriette Berend heiratete, die Tochter des polnischen Residenten, der neben den Simon zweitmächtigsten Judenfamilie Hannovers. Der Sohn aus dieser Ehe hieß Eduard und wurde Spielgefährte des Kronprinzen, des 1920 gestorbenen Herzogs von Cumberland. Alte Leute in Hannover erinnern sich noch, wie die beiden Jünglinge allmorgendlich auf milchweißen Pferden die lange Lindenallee nach Herrenhausen hinunter ritten. Dieser im Überfluß aufgewachsene Eduard ist bettelarm gestorben.
Als 1866 Hannover preußisch gemacht wurde, da tat Israel Simon, als der damals reichste Mann im Lande, den Schwur nicht zu rasten, bis das Königreich Georg des Fünften wiederhergestellt sei. Er folgte dem Könige in die Verbannung und stellte ihm sein Geld zur Verfügung. Zunächst wurde mit dem Gelde die sogenannte Welfenlegion angeworben, erst in Paris, sodann in Algier; mit ihrer Hilfe sollte dem blinden Könige sein verlorenes Reich wiedererobert werden. Dies Unternehmen mißlang, und das Gold Simons bereicherte schlechte Ratgeber und dunkle Ehrenmänner. Später versuchte Simon im Interesse Hannovers andere Länder zu finanzieren. Er kämpfte aus einem krankhaften Hasse gegen die Vormacht Preußens, welche doch allmählich über ganz Deutschland hin mächtig ward und die kleinen Länder des alten deutschen Bundesstaates verschluckte. Schließlich verlor Simon sein Letztes durch die betrügerischen Bankgründungen eines merkwürdigen Abenteurers, namens Klindworth, der den weltunkundigen blinden König betrog und ausbeutete. Übrigens ist die Tochter Agnes dieses Dunkelmanns die Geliebte Ferdinand Lassalles gewesen. Als alles Geld verloren war, fiel Simon beim Könige in Ungnade. Er endete wie sein Vater durch Selbstmord. Sein Geschlecht hat sich, wenn ich nicht irre, nur in seiner Tochter Paula fortgepflanzt, welche den Bankier und Mathematiker Wolfskehl in Darmstadt, den Stifter des eine Million betragenden sogenannten Fermat-Preises der Universität Göttingen, heiratete. Von ihr stammt ab der Dichter Karl Wolfskehl in München. Dagegen hat ein anderer Sohn des alten Ezechiel eine weit verzweigte deutsche Juristenfamilie hinterlassen, alle getauft und in hohen Würden. Ich entsinne mich, von einem dieser Nachkommen ein Buch »Gedanken eines Juden« gelesen zu haben, in welchem er den Massenübertritt der Juden zu den beiden christlichen Kirchen anempfahl.
Meine Urgroßmutter war, wie sich aus diesen Nachforschungen ergab, die mittelste von drei Töchtern. Ihre älteste Schwester hieß Schönchen Jochebed, ihre jüngere Schwester hieß Bune. Schönchen heiratete einen Engländer. Einer ihrer Söhne wurde Bischof der englischen Hochkirche. Bune heiratete einen Talmudgelehrten (Joel Blumental aus Höxter) und bekam einen Sohn und eine Tochter. Der Sohn Meyer Blumenthal, hannoverscher Kommerzrat, war einer der kauzigsten Menschen, deren ich mich entsinne. Er wohnte fünfzig Jahre lang Ecke Bahnhof- und Georgstraße und lebte genau nach der Uhr. Zweimal am Tage spazierte er im Gehrock und hohem Zylinder den Georgenwall hinunter bis zum Ägidientor. Sein alter Diener Haller schritt, in Livrée gekleidet, ehrfurchtsvoll hinter ihm drein, auf seinen Armen die Bologneser Hündchen Chéri und Susi tragend. Der Spaziergang zweimal am Tage wurde unternommen, »damit die Hunde frische Luft bekommen«. Der alte Herr Rat konnte nicht mehr lesen, hatte wohl auch niemals richtig lesen gelernt. Eine Zeitlang mußte ich täglich ihm die Inserate aus dem »Hannoverschen Tageblatt« vorlesen. Dafür durfte ich abends ins Theater. Er war nämlich, weil das alle vornehmen Leute taten, »aufs Hoftheater abonniert« und zwar »Fremdenloge erster Rang, Platz eins«. Ein halbes Jahrhundert hindurch. Aber es geschah nur selten, daß er das Billett benutzte. Als ich Student der Medizin wurde, mußte ich ihn in meinen Ferien elektrisieren. Meinem Vater, den er in der Erinnerung alter Zeit stets als heranwachsenden Knaben betrachtete, war es zu langweilig, für den alten Herrn den kleinen »Ruhmkorffschen Schlittenapparat« in Ordnung zu bringen. Darum mußte ich es tun, und weil ich es sorgsam machte, durfte ich mir ein Honorar ausbitten und wählte die Gesamtausgabe der Schriften Arthur Schopenhauers. Der Alte hielt das für ein medizinisches Lehrbuch und gestattete, daß ich auf seine Kosten es kaufe. Es blieb meine beste Heilquelle für Lebenszeit. – Dieser alte Blumenthal hatte eine Schwester namens Zipora, das heißt Sofie, die mit einem aus Rußland zugewanderten Schriftgelehrten namens Leiser Rosenthal verheiratet war, einem Manne, der seiner ungeheuren hebräischen Gelehrsamkeit wegen von der Gemeinde erhalten wurde und lebenslang in der Synagoge wohnte, wo er Tag und Nacht Talmud studierte, während seine Frau riesige Ofenschirme stickte. Der Sohn dieser beiden, Baron George von Rosenthal, wurde einer der mächtigsten Männer in Holland. Er wohnte in Amsterdam an der Heerengracht. Von ihm und seiner Schwester Nanni, die einen Chemieprofessor Cohen geheiratet hatte, erhielt ich 1910 diese Daten. Durch sie erhielt ich auch den Stammbaum meiner Vorfahren. Er führt auf den im Jahre 1758 gestorbenen Michael David, der eine noch heute blühende Gelehrtenstiftung begründete und der Gemeinde die Synagoge baute. Durch ihn bin ich mit den Vorfahren Heinrich Heines blutsverwandt, denn der Stamm dieses Ältervater Michael David führt durch eine weitverzweigte Familie namens Düsseldorf auf eine Familie namens Hameln. Meine Stammutter Jente Hameln verehelichte Gans, war die Tochter der Glückele von Hameln, deren auf die Nachwelt gelangte und mehrfach gedruckte Memoiren ein wichtiges Dokument des Mittelalters sind. Von dieser Glückele von Hameln (1645-1719) stammt auch Heinrich Heine, und zwar nicht nur in väterlicher, sondern zugleich auch in mütterlicher Linie, so daß meine Blutsverwandschaft mit Heine doppelt besteht. Während ich somit die Herkunft meiner Großmutter in weiblicher Linie bis auf Glückele von Hameln zurückverfolgen kann, endet sie in männlicher Linie bei dem Vater jenes Michael David, dessen Namen in einigen hannoverschen Stiftungen fortlebt. Dieser älteste nachweisbare Vorfahre war ein aus Halberstadt nach Hannover zugewanderter Rabbi, namens David Alexander Federschneider.