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24. Jagd nach Liebe

Dreiundzwanzig Jahre war ich alt. Noch war der Schleier nicht gerissen und nicht die beschwingte Ungeduld des Erwartens, die sich leicht hätte verschenken können an die leicht erreichbare Leiblichkeit gefälliger Frauen. Aber noch hielt mich im Bann der Schwur am Grabe Johann Scherrs und die Jordanische Zuchtethik, dazu das Erinnern an die elterliche Hölle und jener Stolz, der eine Angst verbirgt vor der eigenen Schwäche. Wie kam die Wandlung? »Es wäre zunächst zu sprechen von den Leiden der jungen Menschen um 1890, welche, wenigstens in der bürgerlichen Schicht rundum mit Lügen und Vorurteilen umstellt waren. Denn heute, wo die Beziehungen der Geschlechter, wenn auch nicht unbefangen und frei, so doch zweifellos leichter und froher geworden sind, heute ist es keinem mehr gegenwärtig, wie tief die alte Generation gelitten hat.

Der junge Mann um 1890 hatte nur die Wahl zwischen zwei Frauenlagern, dem der sogenannt Anständigen, die geheiratet und dem der sogenannt Gefallenen, die bezahlt sein wollten. Der wüste Taumelreigen anwachsender Großstädte lockte und reizte zu allen Freuden der Sinnen, aber folgte die Jugend diesen Verführungen, dann zerrte man sie vor den Hochsitz einer Sittlichkeit, welche die gute und legitime Gesellschaft streng abschied von der verworfenen. Unser Herz aber gehörte den Verworfenen. Unser Herz begriff nicht den Undank gegen Frauen, die Freude bringen. Ja, die verworfenste Dirne erschien mir nicht nur anmutiger, sondern auch reiner und sauberer als die bürgerliche Damenwelt mit ihren scheinheiligen »höheren Töchtern«.

Zu diesem allgemeinen Verhängnis kam ein besonderes. Ich lernte als Mediziner manche Enthüllung kennen, die so ernüchtert, daß auch der Liebhaber nicht mehr den Gynäkologen hätte abstreifen können. Der Leiter der Frauenklinik, ein Vetter, machte mich zum Gehilfen bei den ihm zugeteilten Untersuchungen von Freudenmädchen, und so bekam ich zur Jagd auf Genokokken und Spirochaeten vielerlei Geschöpfe zu Gesicht, Kinder von 16, ja von 14 Jahren und verblühte Vetteln; ein Knäuel von Schicksalen, das ich vergebens zu entwirren trachtete in Tagen, wo ich noch keine Frau kannte. Kundig und unkundig, in eines so unschuldig als zynisch, prahlte ich in der »Dichtelei« mit meiner Erfahrung. Frank Wedekind, der ins Gespräch lauschte, merkte sich die Gelegenheit und erschien in einem dem Untersuchungslokal der Mädchen gegenüberliegenden Café. »Selection of the fittest« nannte er das. Denn dieser Romantiker des Geschlechts vermochte auch in den Lamien noch den Zauber der Venus zu schauen, uns aber wurde die Venus selber entzaubert zum hautsinnlich nahen Gegenstande der Physiologie. Aber weder die Lage der Jugend von 1890 noch das Studium der Medizin wurden für meine Wandlung so bestimmend, wie der mein ganzes Leben überschattende Wettstreit mit dem Freunde. Wozu denn anders hatte ich durch all die Jahre ein strenges von Schiller und Hebbel, Scherr und Jordan genährtes Ideal dargelebt, als um dem Freunde mustergültig zu sein? Die Mutter hatte ich entbehren gelernt, hätte auch die Geliebte entbehren können, ja hätte, obwohl sie Erfüllung meines Lebens geworden sind, auch auf Kinder verzichtet; unentbehrlich aber erschien mir damals der mitfliegende, alles begreifende Gefährte. Und nun begann die Ablösung. Was war in ihn gefahren? Alles Richterlich-Pathetische, alles was er bis dahin an mir geliebt hatte, ja der ganze überstiegene »Idealismus« wurde für Klages nicht nur fremd, sondern schlechthin widerwärtig. Wir beide, – so hatte ich geträumt, – würden in der kalten Nacht des Zeitalters stolz und streng, die Wage der Werte halten. Jetzt schlug er die Wage zu Trümmer und bezweifelte das Recht ihrer Gewichte. Er war in die Schule Friedrich Nietzsches entflohn, und auch ich konnte nicht länger mich verschließen vor dieser unsre ganze Generation um und um wühlenden Philosophie des Zweifels. Für jeden unsrer alten Aufschwünge, für Idealismus, Moralismus, Christentum fand die neue Art Weltschau einen negativen Triebanlaß. Wie ich aber wilder als der Freund geplagt wurde von allen Dämonen des Erdgeistes, so war ich auch weit stärker zu Selbstquälereien bereit und leicht mit Verschuldungsgefühlen zu überschwemmen. Und so begann ich, die Leitbilder unserer Frühzeit zu unterwühlen. »Sittliche Ideale«? Ach, diese Lückenbüßer des Lebens! Alle Werte erschienen mir als Notausgänge oder Ausgleiche der ermattenden Lebensglut. Die Verödung und Vernüchterung ihrer Seele polsterte die Menschheit aus mit den Wattebäuschen der Ideale. Unsre Moral war nun ein Schutz für Leute, die sich leicht erkälten. Die moralische Entrüstung, ja der Gerechtigkeitsdrang selber erschien mir nun als ein Beweis, daß ich dem natürlichen Leben nicht gewachsen sei. Werk wird, was nicht Tat zu werden vermag. Auch hinter dem brannte nur der Überhunger nach Lebensreizen. Was also blieb als Sinn eines Lebens ohne Zweck und Ziel? Die Freude!

Freude, der einzige Sinn aller Kreaturen, das war die Erkenntnis, in welcher Klages und ich noch übereinkamen. Aber grade seine Freudefähigkeit war angekränkelt. Er bedurfte der Selbstübersteigerung, der befriedigten Eitelkeit. Eine sehnsüchtige Freudlosigkeit erlöste sich beständig in eine dionysische Theorie, Freude verkündend. Und da er kaum jemals naiv und unmittelbar sich dahingehen konnte, so verklärte er als Denker just die Gelöstheit und Selbstlosigkeit, die er entbehrte. Seine gewaltige Anhimmelung des »Lebens« verbarg einen geheimen Haß gegen moralische Werte und deren Träger, den Willen und den Geist. Urbild des lebensfeindlichen Auswertens und Bemäkelns aber ward ihm: der Jude. Und wenn er »Jude« sagte, dann meinte er – mich. Sein Denken war wider Moral, diesen »Ausdruck des schlechten Blutes« wurde allmählich zur Rebellion gegen den Freund. Im Alter nannte er sein Werk: »Der Geist als Widersacher der Seele«, damals hätte es heißen können: »Ludwig Klages überwindet Theodor Lessing.« Nietzsche war ein Professor gewesen, der in sich den Dichter haßte, aber Klages war ein Dichter, der durchaus als Professor zu erscheinen bemüht war. Er war durch und durch Auto-Erotiker, weiblich, zart und kalt. Er zehrte immer von den Aufschwüngen unserer Jugend, aber was einst Blut gewesen war, das wurde nun fleißig abgezogen auf die konservierenden Flaschen des Begriffs. Er kannte alle Geheimnisse der Mütter, aber ermangelte ihrer mütterlichen Wärme. Sein Schiff lag im klaren Eise, und je kälter es um ihn wurde, um so unwohlwollender begann er mich zu kränken, denn, der größte Menschenkenner in der Theorie, hatte er doch wenig unmittelbare Seelenfühlung. Ein Kenner jeglicher Stimmung des Ich und Meister in der Analyse der Gefühle, besaß er doch nicht das, was man Gemüt nennt, oder was man Humor nennt. An die Stelle unsrer brüderlichen Gemeinschaft traten viele Kameradinnen der Geister. Er blieb einsam, aber stand nie allein. Und es ging wieder, wie es in der Schule gegangen war. »Ich war der Vorsänger, aber wenn die Klasse sang, dann hatte ich zu schweigen, um nicht im Chore zu stören. Der Freund konnte nicht so gut als einzelner singen aber er trug den Chor und gab den Takt an.« Und doch war sein Weg vielleicht schwerer als der meine, denn wie Apoll haschte er nach der Daphne, die sich in Lorbeer verwandelt. Er wollte vom Baum des Lebens pflücken und erntete vom Baume der Erkenntnis. In einer Hinsicht aber war er weit glücklicher als ich. Er liebte immer nur eine ferne Geliebte, denn jede Nähe hätte ihn wie sie bald erkalten lassen. Ihm war es eigen, daß er alle Nähe alsbald zu einer ihn gar nicht mehr berührenden Verklärung entwirklichte. Ich aber, dem Eros der Nähe verfallen, mußte auch das Fernste in begreifbare und sozusagen handgreifliche Nähe zwingen. Und das geht nicht ab ohne Enttäuschen und Ernüchtern. –

Wir wandelten im Juli durch die Allee am Brunnen. »Jede Frau kannst du erobern«, prahlte ich, dumm und jung. »Es ist eine Frage der Muße und des Stiefelleders.« – »Oho!« sagte er und blieb angewurzelt stehen. »Mensch! Schau dorthin! Anadyomene!« Und alsbald rezitierte er seinen heiligen Stefan:

»Am süßen Leib, im Gang der schlanken Bogen
Sie zur Umarmung zaubertoll erschauten,
Doch scheu sind meine Blicke fortgezogen
Eh sie in diesen Blick zu tauchen trauten.«

»Donnerwetter!« sagte ich, »so eine Gans!« – »Mensch, wähnst du, ein solches Wunderbild lasse sich einfach greifen?« – »Glatt!« – »Na, dann tu's.« Alsbald raste ich die Allee hinab bis zum Sendlinger Tor. Dort machte ich kehrt und schritt ruhig Anadyomenen entgegen, indes Klages hingegeben, dem schönen Bilde folgte. Ich zog den Hut. »Gnädiges Fräulein, erschrecken Sie nicht. Ich heiße Ypsilanti, Baron Ypsilanti. Habe nie gewagt, Sie zu begrüßen. Ich wußte, daß Sie diesen Weg herabkommen. Einmal mußte es gewagt sein. Ich habe gewagt. Weisen Sie mich fort.« Sie war verdutzt. Unter dem Baum stand ein Blumenmädchen; der warf ich ein Geldstück hin, ergriff alle Rosen und gab sie der Erstaunten. Dann schritten wir über den Platz und kamen in den kleinen Park des Krankenhauses. Dort erreichte uns Klages und in dem Augenblicke, wo er es bemerken mußte, schlang ich leicht den Arm um den »zur Umarmung zaubertoll erschauten Bogen« und fragte so deutlich, daß er es hören mußte: »Wann sehn wir uns wieder?«

Am Abend sagte ich zu Franziska Reventlow, der einzigen Frau, für die er je entbrannte: »Heute habe ich Ludwig Klages vorgemimt, wie man Gänschen verführt. Er fand mich ›kolossal‹.« – Und sie seufzte: »Mich findet er auch ›kolossal‹. Wenn im Tanze meine Haare flattern, dann steht er hinter der Säule und verachtet. Er verachtet Hentschel und verachtet Wedekind und verachtet Felix Greve und verachtet Ohaha Schmitz. Kurz alle verachtet er, die mich nehmen und küssen. Denn ich soll mich läutern und mit ihm fliegen. Und ich will ja auch fliegen. Aber man kann nicht lange oben fliegen. Und weil er der einzige ist, mit dem ich fliegen kann, so muß ich doch mit den andern mich küssen.« – »Lais«, sagte ich, »schau! Die Zoologie von Schwabing teilt die hier eingestellten Genies in Albatrosse und Sträuße. Friedrich Nietzsche, Stefan George, Ludwig Klages, – so heißen Deutschlands seltene Edel-Albatrosse. Es sind unsre großen Ätherbewohner. Aber sie sollten auch hübsch im Äther bleiben. Denn wenn sie so dahergehen oder, richtiger gesagt, daherschreiten, beziehungsweise daherstolzen, dann erscheinen sie immer etwas würdebärtig prätentiös, etwas kleinbürgerlich, um nicht zu sagen provinz-theatralisch. Das ist dann keine natürliche Natur sondern eine literarische, auch wenn sie beständig auf »Literatur« schimpfen. Wir beide dagegen, o Lais, gehören wohl nur zu der gemeinen Sorte, zu den Straußen. Das sind eigentlich tragische Geschöpfe. Denn die Strauße sind auch als Vögel und auch für den Äther geboren. Aber die Erde zieht uns allzu mächtig oder vielleicht ist auch nur unser Leib zu schwer, zu gut ernährt. Jedenfalls, du sagtest es richtig: ›Man kann nicht lange oben bleiben.‹ Und weil wir somit nicht die kühnsten aller Flieger werden können, so werden wir wenigstens die schnellsten aller Läufer. Wir rasen und rasen. Durch Sand und Wüste über die Erde hin. Und die Albatrosse schauen aus dem Äther erhaben auf uns herab. Aber merkwürdig. Wenn sie behaupten uns zu verachten, dann halten sie es wie der Fuchs, der die Trauben für sauer erklärt, die ihm zu hoch hängen. Sie sprechen: ›Uneingeweiht sind sie, die Sträuße, und fliegen können sie nur schlecht. Aber sie verstehen sich wohl auf das Laufen und werden auf Erden jedes Ziel erreichen, das doch eigentlich nur uns Albatrossen gebührte.‹ Und Fränze Reventlow, Braut von ganz Schwabing, seufzte: »Ach, wir armen Strauße.« »Ja«, bestätigte ich, »die Kosmiker ahnen nicht wie gut sie es haben. Zum mindesten sind sie lebenslang sicher vor Syphilis.«

So taumelten wir denn an Abgründen dahin, aber die stilreinen Feste Stefan Georges wie die kosmischen Rauschdoktrinen von Klages erschienen mir nur als eine Philisterei, denn diese beiden beteten zum Eros Kosmogonikos, daß er über sie komme, während ich betete, daß er mich nicht zermalme.

»Der Sinn Deines Lebens ist die Arbeit an Deinem Werke, zeitweise unterbrochen von festlichen Räuschen mit Deinen Freunden«, so schrieb Klages. Aber so konnte ja nur schreiben, wer weder an seinem Werk noch an seinen Räuschen verblutete. Immer wieder geriet ich in Lagen, in denen ich den Freund mir überhaupt nicht vorstellen konnte. Konnte der mit Landstreichern und Strolchen durch die Lande ziehn und heute mit diesem, morgen mit jenem Zigeunermädel im Stroh liegen? Oder konnte er Händel haben und raufen im Wirtshaus? Oder auch nur ein Dienstmädel auf dem Tanzboden verführen? Ich schleppte ja eine schwere Blutlast von Wüstheit und sollte mir durchaus Urnatur, Heidentum und moralinfreie Dionysik predigen lassen von Geistesgranden, die im Ernstfall nicht mal einen Schnupfen wagten.

Einmal ergriff der Eros einen Zipfel seines Göttermantels und machte einen traurigen Versuch, ihn aus dem Aether zu ziehn. – Salambo! So nannten wir ein exotisches Mädchen, das bei einem Feste uns erschienen war und von Klages in den »Blättern für die Kunst« eingereiht wurde in die Reigen der verklärten Frauen. Ich aber, besessen vom entzaubernden Eros der Nähe, hatte beobachtet, daß Salambo in einem Landhaus nahe der Theresienwiese wohne. Ich hatte ein Faktotum. Er hieß Pfeifer. Ein alter Feldwebel mit ausgezeichneter Feldwebelhandschrift, die meine Manuskripte ins Reine schrieb. Schreibmaschine gab es noch nicht. »Pfeifer«, sagte ich, – und er war für so etwas gut vorgedrillt, – »machen Sie ein Paket aus meinen Strümpfen.« Alsbald ging Pfeifer mit dem Paket in das bezeichnete Haus und fragte, Stock um Stock, ob eine Dame gleich der ihm geschilderten dort bekannt sei. Sie habe ein Paket liegen gelassen in dem Modehause »Hirschberg Söhne«. Er komme nun im Auftrage der Firma, um das Liegengebliebene zurückzugeben. Und so stand er schließlich vor Salambo und konnte feststellen, daß sie Fräulein Gussow heiße und die Tochter Professor Gussows, des Kunstmalers sei. Kaum aber war diese Kunde an den Freund übermittelt, so machte auch er ein Paket, aber nicht aus seinen Strümpfen, sondern aus seinen Träumen und Gesängen und zu den Gesängen und Träumen legte er einen Brief, ehrlich mit Name und Adresse unterzeichnet, darin stellte er fest, daß er von Salambo nichts Irdisches begehre, sondern als ein vom Eros der Ferne Trunkener lediglich huldigen wolle dem in schönheitsarmer Zeit erschienenen Urbild der panischen Zauberin. Und da er nun wußte, welchen Weges die Schaumgeborene schreiten müsse, so stellte er sich in einem Hauseingang, schritt kühn auf sie zu und sagte inständig: »Mein Fräulein, Sie haben dies Päckchen verloren.« Und ehe die Überraschte das Geschehnis zu begreifen vermochte, hielt sie schon den Bulk, und der Spender war verschwunden. Salambo aber, die Gans, ahnte nicht, daß ihr damals ein Diadem geschenkt wurde. Selbigentags schickte sie Brief, Lieder und Träume zurück mit der Versicherung, sie habe nicht den Wunsch, dem unsterblichen Reigen der Töchter des Traums und der Legende beigesellt zu werden. Um jene Zeit veranstaltete ich in einem Saale unsrer Stammburg »Luitpold« eine Vorlesung meiner Gedichte zu Gunsten eines notleidenden Malers namens Ostertag. Münchens ganze Kunst- und Literaturwelt wurde zusammengetrommelt. Mein Onkel Ahrweiler hatte den Auftrag, auch die Familie Gussow heranzuschaffen, und Pfeifer mußte dafür sorgen, daß der Dichter und die Besungene nebeneinander zu sitzen kamen. Denn wenn ich verliebt war, so gab es nur eine Rettung: die Flucht, aber ihn, den Glücklichen, mußte man zur Geliebten setzen, dann waren er und sie gerettet.

Um jene Zeit schrieben wir »Gedanken über Goethe«. Sein Aufsatz verklärte Goethe als den natursichersten und lebensfrohesten aller Deutschen, welcher frei blieb vom predigerhaften Moralismus des Christentums, der Blutsverderbnis der germanischen Seele. Nur eines sei in Goethes Leben beklagenswert: daß der richtende Mensch gesiegt habe über den dichtenden, daß der geistige Wert, die sittliche Würde aufgebraucht habe den blumenhaften Naturtraum. Mein Aufsatz aber, als reiner Gegenpol, (abgedruckt in »Philosophie der Tat«) schüttete grimmige Galle über Goethe, den spielerischen Naturburschen, dessen Leben unheroisch und ohne Tragik sei, weil ohne entsagende Größe.

In allen meinen Schriften aus der Periode 1904 bis 1914, also in allen zwischen »Schopenhauer-Wagner-Nietzsche« und »Philosophie als Tat« entstandenen Schriften, in deren Mittelpunkt immer dasselbe Problem stand, das mit Rousseau anhebende »Kulturproblem«, die Frage nach Herkunft und Wert des wachen Wirklichkeitswissens, wird man immer wieder ein und den selben Ringkampf finden. Den Kampf des richtenden Menschen gegen den dichtenden, des männlich-heroischen Geistes gegen die an Schicksal und Trieb verhafteten ästhetisch elementare Seele. In meinem privaten Leben war das der Krieg der beiden nie aus mir zu reißenden nächsten Menschen, der Frau und des Freundes. Denn Maria, die damals in mein Leben trat, war die menschlich heroischste, schlechthin ethischste Gestalt die ich gekannt habe, während der Freund die schicksals- und naturwilligste war, von der ich wußte. Gewann ich den einen, so verlor ich den andern. Und so verlor ich sie beide.

Bitter und schwer waren diese Jahre des Übergangs. Bitter und schwer die tausend vergrübelten Nächte. Es war in mir etwas Gegen -Gesundes. Es begann das Leiden, das ich völlig nie mehr los wurde: das stundenlange Wachen im fruchtlosen Grübelwahn. Das Blut brannte überwach. Und wenn ich nachts im dumpfen Zimmer die kleine Lampe immer neu anzündete und wenn ich ans Fenster trat und hinausstarrte auf die unheimlich vom Monde beschienene Müllerstraße, dann winkten drüben an der Ecke die lachenden Mädchen. Ich wußte wohl, wie leicht der Durst ins Blaue zu ersättigen sei und wartete dennoch auf die Göttin, nach der meine Strophen riefen. Es geschah viele Male, daß die Sehnsucht den Schlaflosen wieder hinuntertrieb in die noch lichtbesäten, langsam verödenden späten Gassen. Dann lief man sich müde, trank sich dumpf. Nächtelang planlos und sinnlos schweifte ich umher, einzig aus innerer Friedlosigkeit und Unrast. Gegen Morgen schlich ich gedemütigt heim und sank in das Dickicht wirrer Träume. Oft sprach ich Frauen an, die mir gefielen. Ich setzte mich in kleinen Nachtcafés neben diese und jene, bis eine neue vorüberkam, die mir am begehrenswertesten erschien. Denn ich begehrte schlechthin nach allen, aber an jeder fand ich bald einen verstimmenden Makel. Und immer wieder wurde mir die selbe Erfahrung zuteil: die Wandlung des Glühenden in den Wissenden, welchem alle Lasten und Sorgen der fast immer glücklosen Existenzen zugetragen wurden. Denn ich hörte nie das Wort »leb liebe dich«, aber fast täglich: »Dich möchte ich zum Vater haben.« Und wurde der helfende Mensch aufgerufen, dann war auch der brennende bald zur Nüchternheit verpflichtet. Indem ich am Wesen des Freundes das meine maß, wurde es mir schmerzlich gewiß, daß alle Nähe entglänzt und vernüchtert und das ethisch wollende Leben auch ein gegennatürliches, belastetes Leben ist. Belastet mit dem verdoppelnden Spiegel, darin die Seele sich selber beschaut, belastet mit Werten und Urteilen, den zwei Hüllen, darin die Natur verbrennt und sich läutert. Denn damals glaubte ich das Leben nicht ertragen zu können, wenn ich mich nicht edel und groß fühlen könne, und es wäre mir leichter geworden, das Leben zu lassen, als die Selbstachtung.

Der Bruch mit dem Reinheitsideale vollzog sich schließlich so selbstverständlich und trocken wie nur denkbar, aber wunderlicherweise in einer Stunde überstiegener Begeisterung. Ich hatte zum ersten Mal Richard Wagners Tristan erlitten und kam, zitternd und bebend in jedem Nerv aus der Oper mit dem kühnen Vorsatz, das erste beste hübsche Mädchen mit mir zu nehmen. Nachdem ich lange umhergeschweift war unter widerstrebenden Gefühlen, angriffslustig und angewidert, befangen und unbefangen, und doch auch wieder über alle Gefühle hinweggleitend und in aller Aufgewühltheit sachlich kalt, sah ich eine von später Arbeit heimkehrende arme Person, deren schwermütige Demut mich ermutigte, sie anzusprechen. Es war ein armes Mädchen, das am Rande des Forstenrieder Parkes hauste und gar nicht erstaunt war, als ich in einer kleinen Kaffeewirtschaft ihr sagte, daß ich mit ihr gehen werde, aber fassungslos staunte, als der Fremde seinen verrückten Konflikt vor ihr ausbreitete, aus dem sie ihn erlösen solle, von Keuschheit und Sünde redend wie der Pfarrer. Das Mietzinshaus am Rande der Stadt, die dunkle knarrende Treppe, das hämmernde Herz, die unheimliche Heimlichkeit, eine armselige Küche, ein altes Weib schlafend im Lehnstuhl, daneben eine Kinderwiege, die Kammer des Mädchens mit rotgewürfeltem Bauernbett, ihre Zärtlichkeiten, deren Mütterlichkeit mich rührte und die doch unterströmt waren von Roheit, Genußgier, Geldgier, alle Eindrücke dieser Nacht, der so manche ähnliche Nächte folgten, erschütterten mich so schwer, daß ich am Morgen angeekelt und übel bis zu körperlichem Erbrechen nach Hause schlich, todtraurig und zerstört. Das Bewußtsein, beschmutzt und schuldig zu sein, war nie mehr wegzuspülen, und doch war von nun an der Bann gebrochen. Ich gewöhnte mich an das Gefühl ewiger Verschuldung als an das nie zu begleichende menschliche Schicksal. Meine Stimmung glich der eines Kindes, welches lange vor den vergoldeten Toren eines Königsgartens stand und von Rosenhängen, Goldfischteichen, Nachtigallen, exotischen Blumen träumte, bis plötzlich alle Tore aufsprangen und eine Stimme sagte: »Geh hinein. Es ist alles von Pappe. Du kannst nehmen was immer dir gefällt.« Bis dahin war ich ein Dichter gewesen ohne Wissen um die sinnliche Laune und wartende Begehrlichkeit der schönen Wesen, nach denen ich mich sehnte. Jetzt fand sich, daß sie alle nur waren was ich selber war: Glückshungrige, betrogene Kinder, zwar nicht grade suchend, aber doch bereit, sich finden zu lassen So wurde aus dem Schwärmer ein schwermütiger Faun, der sich sagte: »Diese ganze lebenerfüllte Stadt mit ihren tausend begehrlichen jungen Nymphen ist dein Jagdrevier.« Denn ich liebte nicht so sehr das schöne Wild, wie die Jagd und die Eroberung, nicht die Geliebte sondern den beschwingten Zustand der Verzauberung. In einer aus vielen Nächten des Taumels lauschte ich unter den herbstlichen Bäumen des englischen Gartens auf Detlev von Liliencrons knarrende Stimme, die, während die bunten Blätter vor dem Winde trieben, schwärmte von der Lust des frei schweifenden Steppenwolfes. Nicht die Frau sei es, was so locke und verlocke, sondern der Beutetrieb, der Jagdeifer, das Eroberertum, ein Rest unsrer primitiven Urzeit, damit in den grauen Steinkäfigen unsrer vernützlichten Städte doch noch ein Wissen dämmere um brennende Lust und überschäumende Abenteuer. Denn nicht sind wir von dem Ziel, sondern vom Suchen des Zieles beglückt und verliebt in die Verliebtheit selber, denn das ist die Schönheit, Jugend und Ewigkeit des Lebens, die uns bald entgegenblitzt aus einem dunklen Auge, bald lockt aus der demütigen Beuge eines stolzen Nackens, bald verführt mit der zarten Wölbung rosiger Brüste. Ja die Göttin kann sich kleiden in tausend, abertausend Gestalten und je schneller wir alles Aktuelle und Empirische daran vergessen, um so beseligender war die Begegnung. So war die Jugend und der Rausch, aber ich gehörte leider zu denen, die nie und nichts je vergessen, die immer fragen, begreifen, entzaubern müssen, die alle Ferne zur Nähe und somit zu Asche brennen. Und der ekstatische Dichter konnte eines mir nicht nacherleben: die Rache, mit welcher das gestörte Leben zurückschlägt wider den Herrenwillen, der in fremdes Schicksal eingreifend das Kettenhemd der sittlichen Verantwortung sprengt. Da wandelt sich der lustgierige Jäger in das gehetzte Beutetier selber, in das Opfer seines Lusthungers, denn einmal freigegeben wird der nie zu ersättigende Trieb zur Getriebenheit, begehrt alle Blumen der Erde zu pflücken und begnügt sich im rechten Manne keineswegs an Bild und Schöne und Schau, sondern will Besitz ergreifen um zeugend sich selber zu verwirklichen. Es ist aber nun einmal unser Notgesetz, daß die Fülle des Lebens nur erblüht aus Entsagung. Denn das Leben, um nicht zu verwelken, hat weit nötiger Traum und Glauben, Hoffen und Sehnen, Illusion und Täuschung als Sättigung und Erfüllung an Leibern, Dingen und Wirklichkeiten. Darum treten die Götter mit ihren Seligkeiten nur in die engen Kammern und kahlen Zellen. In Eremitenklausen oder Zuchthauszellen, die Mansarde der Dichter und Hütten der Not. Wehe jedem, der nicht lernt, sich zu beschränken; er verschüttet den Trank statt zu läutern. Denn just weil das Leben in Milliarden Gestalten erscheint, kann man in jeder Gestalt das ganze Leben haben.

Auf der großen Jagd nach Liebe, in welcher jedes Herz Jäger ist und jedes Herz Wild, jagen wir alle nur nach einem Wunschtraum, der sich nie erfüllt und nie erfüllen darf. Mein Wunschtraum aber ging von früh an nicht so sehr auf das Anmutige, Liebliche, Schöne wie auf das Heroische und Große und hätte ich wie Paris den Apfel zu vergeben gehabt, so hätte ich ihn sicherlich nicht der Aphrodite gegeben sondern der Hera, lieber der Matrone als dem Mädchen, lieber der Mutter als der Geliebten. Aber es scheint uns verhängt, daß das immer wiederkehrende Erlebnis der Liebe – und jeder Mann hat sein immer wiederkehrendes Erlebnis – wenig fragt nach Wunschträumen und Idealen, denn das mir verhängnisvolle Begegnis war stets jene in Kleistens Kätchen so lieblich verklärte Hingegebenheit, der sich fortschenkenden Herzen, die den Beschenkten im Grunde nur belasten und selber um so weniger empfangen, je rückhaltloser sie sich fortgeben. So war mein Weg immer umsäumt mit klammerndem Epheu und saugenden Lianen, liebenden, glaubenden Seelen, deren Hingegebenheit, Hilflosigkeit, Abhängigkeit mich zu Treue und Verantwortung zwang und die mir, alle die wohlmeinenden Freunde und Freundinnen, so oft eine Last gewesen sind, unter deren Druck ich stöhnte: »Anhang ist Anhang, durch öde Steppen mußt du den Anhang weiter schleppen.« Immer sollte ich, ein schwacher Mensch, Verantwortung tragen für so viele gesündere und stärkere Menschen. Wenn ich selber gelitten habe als einer, der sein Herz darbot, das nicht genommen wurde, so war das wohl die mir auferlegte Buße für das Leiden, das ich Seelen antun mußte, die sich von mir nicht losmachen konnten und mir doch nur Last waren, denn wir lieben alle an einander vorbei ... Das Ergebnis dieser Schule der Empfindsamkeit waren zwei Dokumente, von denen man kaum zu glauben vermöchte, daß sie aus der selben Seele und gleichzeitig hervorbrachen: »101 Epigramme auf das schönere Geschlecht«, zynische Verspottungen, illustriert von Josef Sattler und sodann ein Gedicht-Zyklus »Der Priester«, wohl der äußerste Verzweiflungsschrei einer Seele, die Einheit und Reinheit verlor und im Banne der Gedankenschuld unter den Klauen des Geschlechtsdämons langsam zum Selbstmorde schreitet. Beide Produkte, die ich später mit großen Opfern aus dem Buchhandel zurückgezogen habe, waren, so verschiedener Lebensstimmung sie entsprungen scheinen, doch der ganz einheitliche Ausdruck meiner verhängnisschwersten Jahre, und wäre ich damals gestorben, schweifend und friedlos, dann hätte ich keine andere Grabschrift verdient als jene, in der ich etwa um das dreißigste Jahr das Ergebnis eines zerstörten Lebens zusammenfaßte:

»Durch deine Augen glitten Menschenländer
Und seltne Ferne, doch du starrtest aus
Nach Glück. Du hattest Reichtum, Kränze, Ehren
Und warfst sie fort. Sie galten zu gering.

Du küßtest Seelen, die nach dir sich streckten
Und zitterten in deiner Hand. Du gingst
Und suchtest in den Gassen, und zu Hause
Brannte zu Tod dein Lämpchen. Sahst du's je?

Liebst du den reinen frühen Morgen? Kanntest
Den Reiz der Kinder und der Blumen? Nie
Sahst wunschlos du ein Schönes, reulos nie
Lebtest vorbei dem Leben, Leben suchend

Bis deine Kraft zerbrach in Launen, Lüsten
Und Scherben, ungerundet, unerquicklich
Nun muß an schöner Trümmer Hügel weinen
Dein treues Glück. Es folgte ungekannt.«

Hier möchte ich einen Denkstein hinterlassen für einen tragisch umwitterten Freund, der die unheilvolle Getriebenheit des sich nie genügenden Eros mir vor Augen brachte, indem sein Denken stets ein Zerdenken, sein Lieben stets ein Verlieben gewesen ist und sein äußerlich grade aufwärts führender Weg doch nur der Weg ins Nichts, rechts und links besät mit Scherben leergetrunkener Gefäße wie mit den Leichen zerrupfter Blüten, ohne daß sein großartiges Wollen Fülle und Gestalt gewinnen konnte.

Kurz nach der Ankunft in München lernte ich in einem Studentenverein, der sich »philosophische Gesellschaft« nannte, einen gleichaltrigen Studenten kennen, der in meiner Nachbarschaft, mir schräg gegenüber bei seinen Eltern wohnte. Schon diese Nachbarschaft fügte, daß wir uns fast täglich sahen, indem er zu mir herüberkam, um seine Verse oder Reflexionen vorzulesen oder ich in seinem kahlen, ungemütlichen Elternhause weilte. Die Eltern lebten ewig im Streit. Die Mutter, eine Jüdin aus der angesehenen Familie Feuchtwanger, war eine unruhig bewegte, geltungswillige, stolze Seele: der Vater, Domänenverwalter des Königs, sanfter und schwächer, passiv und traurig, zeigte sich merkwürdig bedrückt. Die junge Schwester schien dem Vater nachgeraten zu sein, während der Sohn die geistige Überbewegtheit und den Stolz der Mutter in beängstigendem Ausmaß besaß. Max Scheler war zu der Zeit, wo wir uns nahestanden, ein schöner stolzer hochgesinnter Jüngling, zwar ohne Weichheit des Herzens und vorwiegend auf Ehrgeiz und Wille gestellt, aber nicht ohne großartige Hochsinnigkeit, obwohl er nur allzu leicht die Verantwortung von sich warf in kleinen Dingen, aus denen nun mal das Leben besteht und auf die es zuletzt ankommt. Da aber seiner überbegabten Natur die Gründe und Gegengründe aus Sprache und Logik tausendfach zuströmten, so war er bei kleinen Unzuverlässigkeiten nie festzulegen. Er demonstrierte etwa, daß ein dämonischer genialischer, herrentümlicher Mensch alle Höhen und alle Tiefen des Lebens durchmessen müsse, daß die Allfältigkeit der Seele nicht minder wertvoll sei, wie die Einfalt, daß nur vermöge der Sünden der Weg zur Gnade zu finden sei und daß just durch das Böse hindurch der Mittelpunkt des Kosmos aufblitze oder sonst etwas Erhabenes und Tiefes. Und so endeten unsre Gespräche meist in Verstimmungen, worauf wir uns Grobheiten sagten und doch am nächsten Tage wieder zusammenkamen, um unsern Ärger an einander zu genießen. Denn es bestand unter uns eine Gemeinschaft, die uns von der ästhetischen Luft um George und von der metaphysischen um Klages abschied, nämlich unsre leidenschaftliche Anteilnahme an allen aktuellen Vorgängen und sozialen Fragen, denen weder Klages noch George auch nur einen Blick gönnten. In den zwei Jahren, während deren ich ganz sorglos und ohne Gedanken an Broterwerb zu leben vermochte, hatte ich in Wahrheit ein immer schlechtes Gewissen. Ich war nicht zum Liebhaber und Genießer des Lebens geboren. In den Kliniken empörte mich die Behandlung der Armen. Sie waren die Versuchstiere, die Demonstrationsfälle, an denen wir lernen sollten zu Gunsten der sogenannt »besser bemittelten«. Am schlimmsten war das in der Klinik von Ziemssen, in die Scheler, der in seinen ersten Semestern auch Medizin studierte und mit dem Plan spielte, Schiffsarzt zu werden, mich gern begleitete. Unser Lehrer Ziemssen war imstande, am Bette eines armen Holzknechts den Studenten zu sagen: »Bei Herzschwäche geben Sie den Domestiken Anweisung zur Belebung der Herztätigkeit etwas Sekt zu reichen.« Das war, wie wenn man an Hand eines Armutsmodells zur Behandlung von Bankdirektoren angelernt werde. Ich erinnere mich eines Morgens im Pathologischen Institut, wo fünf Leichen von Kindern eingeliefert wurden, die in unserm Stadtteil an Hungertyphus gestorben waren. Bollinger, der Pathologe, hatte kein Wort der Empörung, und die Assistenten und Studenten begafften mit ihren frechen kalten Augen die kleinen Leiber, während midi ein Schluchzen in der Kehle würgte als ob es meine eigenen Kinder seien. Ich ballte die Faust in der Tasche und schwur, um der Entrüstung Herr zu werden, den Tod dieser Kinder einst zu rächen an der Gesellschaft, der ich doch damals selber zugehörte und in deren Strom ich munter mitschwamm. Aber eben bei dieser Gelegenheit offenbarte sich auch der große Gegensatz in meiner und Schelers Grundstimmung. Denn als wir den Tatbestand auswerteten, stemmte sich Scheler durchaus gegen die Ethik des sentimentalen Gefühls und guten Herzens, sondern wollte hinaus auf ein antidemokratisches Ideal, herrenmenschlich und anarchisch. Er versuchte, genau wie Klages, mir klar zu machen, daß meine sozialistischen und kommunistischen Forderungen nur aus den Wunden der Schlechtweggekommenen gespeist werden. Mit diesem Streit hing zusammen, daß wir über den Wert und Unwert seelischer Gemütsbewegungen nicht ins Reine kommen konnten, eine Kontroverse, deren Spuren noch in meiner »Wertaxiomatik« fortdauern. Scheler forderte, daß Neid, Haß, Eifersucht, Rache, kurz alles was man damals gern mit dem Wort »ressentiment« abwertete, schlechthin negativ, dagegen Liebe, Großmut, Adel und Glut des Herzens schlechthin positiv zu schätzen sei, während ich die Ansicht verfocht, daß die ganze Welt des Logischen und Ethischen aus den von ihm als »negativ« bewerteten Affekten stamme und daß an und für sich in Gefühl und Affekt weder Wert noch Unwert zu suchen sei, vielmehr unter der Optik des auswertenden Bewußtseins sowohl Liebe und Edelmut als unberechtigt, ja als strafwürdig wie umgekehrt Neid und Eifersucht als berechtigt, ja als gefordert betrachtet werden müsse. – Max Scheler gehörte zu den Genien, deren Lebensrausch und Überschwang am Altar des Christengottes in Reueparoxysmen strandet, weil alle Maßlosigkeit zum Frevel wird, sei es, daß die körperliche Ausschweifung sich an tausend Frauen sättigt, deren Seelen man hungernd zurückläßt, sei es, daß der geistige Wüstling immer neue Bücher aufsaugt, immer neue Wissenschaft aufhäuft, um ihre Inhalte für vergängliche »Kulturziele« zu verwerten. Der Maßlose aber fühlt insgeheim doch den Frevel und glaubt dann, ihn zu sühnen, indem er danklos in den Becher spuckt, daraus er doch getrunken hat.

Die Peripetie unsrer Beziehung wechselte unaufhörlich. Es gab nie zwischen uns eine tiefere Freundschaft, aber auch nie einen entscheidenden Bruch, und das ging so fort bis zum Ausbruch des Weltkrieges. Da befand ich mich von der ersten Stunde an in so tobendem Aufruhr gegen die Barbarei der Welt und so entschieden und bis zur Selbstvernichtung im Gegensatz zu dem Irrsinn des Zeitalters, daß die Stellungnahme zum Krieg der Maßstab wurde, nach dem ich Echtheit und Unechtheit, Lebenswahrheit und Lebenslüge abmaß an all den Menschen, denen bis dahin ich mich geistig verbunden fühlte. Scheler aber entfiel. Er entbrannte wie alle am großen Flammenrausch des Vaterlandes. Er wollte die große Stunde nicht verpassen. Er schrieb ein bluttriefendes widriges Buch, das die weltgeschichtliche Metzelei dialektisch rechtfertigt und mir schlimmer schien als ein Mord. Damals erst gingen wir endgültig auseinander.

Über dem Hause Scheler stand ein böser Stern. Die Eltern siechten glücklos dahin. Die Schwester wurde von einem Wirrkopf entführt und getötet. Den Freund selber sah ich in unleidliche Bindungen verstrickt. Im Jahre 1904, als er Privatdozent in Jena geworden war, weilte ich ein paar Tage bei ihm zu Gaste und fand ihn in einer friedlosen Ehe. Wir fanden auch in der Philosophie nicht mehr zu einander. Der einzige Denker, den ich in Jena sehr hoch schätzte, der Philosoph Otto Liebmann war ihm zuwider. Die beiden Päpste des damaligen Jena dagegen, der materialistische: Ernst Häckel und der idealistische: Rudolf Eucken erregten in uns entgegengesetzte Stimmungen. Wir waren bei beiden Männern zu Gast. Häckel philosophierte grobdrähtig und kindlich, dennoch gefiel mir von Herzen der gesunde freie Mann, dem die klare Redlichkeit aus den blauen Augen blitzte. Dagegen empfand ich gegenüber dem eitlen und geschwätzigen alten Eucken nur verlegenes Unbehagen, und da mir diplomatische Klugheit abging, so verlief das Zusammensein mit Eucken unerfreulich. Zur gleichen Zeit befand sich auch der Theosoph und spätere Anthroposoph Rudolf Steiner in Jena und kam ebenfalls als Gast in Schelers freudearme Behausung. Wir hatten an zwei einander folgenden Abenden Vorträge und mit dem mir anhaftenden Ungeschick, Feindschaft zu erregen, wenn ich Gereiztheit oder Verstimmung nicht genugsam beherrschte, mißbrauchte ich meinen Vortrag zu einem heftigen Angriff auf das unklare Sekten- und Konventikelwesen der Zeit mit seinem Propheten- und Priesterkult, dahinter zumeist doch nur der Machtwille oder gar der Gelderwerb des einzelnen brenne, nicht aber das lautere Bekennertum und die Unabhängigkeit sachlicher Wahrheit. Rudolf Steiner, den ich schon aus früheren Jahren kannte, hörte in Gesellschaft Schelers meinen Vortrag. Er wurde durch ihn so heftig verärgert, daß er am folgenden Abend es nicht fehlen ließ an einer »Retourkutsche«. »Es wirken in Deutschland«, so etwa führte er aus, »nur allzu viele Narren auf eigene Faust, die, weil sie selber ohne Anhang und ohne Erfolg bleiben, unsre Gemeinschaft schmähn und sich neidvoll verschließen vor der großen Seelenwandlung des Menschengeschlechtes durch die Theosophie. Kläffer sind es. Mit ein paar Steinwürfen müssen wir sie verscheuchen oder noch besser einfach nicht hinhören.« – An Mißachtung gewöhnt und wohl bewußt, daß Steiners Schelten eigentlich eine Beunruhigung offenbar machte, hätte ich die Abfuhr ruhig eingesteckt, wie ich denn in späteren Jahren immer den Wunsch und das Bemühen gehabt habe, Steiners großer Sache gerecht zu bleiben, aber er verzapfte vor seinem Volk eine unerträgliche Mischung von Halbmystik und Halblogik und wenn er gereizt wurde, so begann der schwächliche, leicht erregte Mann zu brüllen wie ein Stier und quasselte alles heraus, was durch seinen Kopf ging: Buchfetzen und Begriffsfetzen und forderte, daß man diese Lesefrüchte oder Denkparoxysmen für Offenbarung, Intuition, Schauungen halten solle, gleichwie Jehova spräche aus Bileams Eselin. Nein, ich konnte das stundenlange Hin und Her auf philosophischen Gemeinplätzen nicht aushalten, stand leise auf und ging. Steiner sah darin eine Beleidigung und nahm fortan keine Notiz mehr von mir. Scheler aber benahm sich zwiespältig, indem er gleichzeitig mit Steiner Freundschaft schloß und doch vor mir sich über ihn ebenso lustig machte, wie über den alten Eucken. Scheler wünschte eben Karriere zu machen. Er schloß sich in den folgenden Jahren zuerst an Theodor Lipps, dann an Edmund Husserl, dann an die katholische Kirche und entdeckte, als er durch die Kirche in Köln Ordinarius geworden war, zuletzt wieder das freisinnige Herz.

Ich habe gelesen, daß in China die Wildschweine zur Jagd auf Trüffel benutzt werden, indem man einen Eber in den Wald treibt, wo er den Erdboden mit seinen Hauern aufreißt und die im Dunkel verborgenen Trüffel ans Licht bringt, welche die Nachfolgenden aufsammeln. Max Scheler leistete der deutschen Philosophie diesen Finderdienst. Sein ganzer Lebensweg war mit Trüffeln bedeckt. Er warf sie auf und ließ sie liegen, ohne sie zu essen, denn seine Aufgabe war, Trüffel finden, nicht sie in Fleisch und Blut zu wandeln. Was diese Schule und ihre Nachfolge (Schelers letzter Erbe hieß Martin Heidegger) an Scharfblick und Tiefsinn geleistet haben, das mag die deutsche Universität ihnen danken. Ich aber, der lebenslang abseits zu stehen hatte, darf nicht vergessen, daß das Begriffeklettern und Begriffeturnen die Kunst der amusischen Seele ist, welche die deutsche Sprache dialektisch mißbraucht, schlimmer als selbst Hegel unsre Sprache mißbraucht hat. Wo diese deutsche Spekulation gedeiht, da wächst kein Wald mehr, da grünt kein Gras. Aber nicht darum vermeide ich die Universitäts-Philosophen, weil ich sie für schlechte Schriftsteller halte, sondern weil ich die Dissonanz nicht ertrage des Reichtums einer kaum noch zu übertreffenden denktechnischen Apparatur zu der Verarmung und Vermünzung des sie tragenden Lebensschoßes. Gewaltige Bauten, aufgebaut aus dem Stoffe, der sie tragen muß. Gebäude, die den Untergrund so lange vernutzen, bis er zu dünn wird. Dann stürzt alles wieder zusammen. Dies war mein schrecklichstes Erlebnis, bestimmend für den ganzen Lebensweg.


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