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In dem schweren Entwicklungsjahre, dem vierzehnten, drängt ein in sich gebanntes Leben mächtig an die Welt und aus dem Kinde der Wolken und Sterne wurde ein spöttisches Jüngelchen, krallwach und widerwärtig gescheut. Wie auch konnte es anders sein? Man ließ nicht ruhig das Erz in der Tiefe wachsen; es mußte vermünzt werden, denn ich sollte mich beweisen. Und so ließ ich mich in einen kleinen Stutzer wandeln.
Gebrannte Löckchen, auswattierte Taille, hellgelbe Lederhandschuh, elegantes Poussierstöckchen; – so ausgestattet, flaniere ich Unter den Linden auf und nieder, schnökere viele Schokolade, nehme heimlich Geld aus dem Schlüsselkorbe der nachlässigen Mutter und kaufe mir die ersten Zigaretten: »Kompagnie Laferne, das Stück einen Pfennig«. Und seitdem ich Geschmack gewonnen habe für bunte Schlipse, duftende Seife, den Spielplan des Hoftheaters, die Pferderennen, den Stadtklatsch, ja sogar schon ausspähe nach den schlanken Beinchen der seidenen Dämchen, da bin ich endlich auf dem Wege, das zu werden, was die Erwachsenen nennen »vernünftig«. Immer seltener legte ich den Kopf an das Herz des Pferdes Barbara, immer weniger bekümmerte ich mich um meinen einzigen wahrhaften Freund Sultan, den Kettenhund. Selbst am Sonntag, im Zoologischen Garten war ich schon nicht mehr so hingegeben an die Trauer in den Tieraugen, wie an die weltlüsternen Blicke der Zierpüppchen, mit denen ich Händedrücke zu tauschen begann. Nur in einem blieb ich der gesunden Natur treu. Ich schlief während des Unterrichtes, paßte nicht auf und konnte keinen »Lernstoff« aufnehmen. Aber das Versagen im Lernen ward schon mehr und mehr auf »das System« geschoben. »Arschpauker! Steißtrommler!« polterte mein Vater. »Veralteter Kram! Wenn der Junge das Einjährige hat, kommt er ins Bankgeschäft.«
Als im Frühling 1885 die schwere Krankheit überstanden war, wurde auf Betreiben der neuen Pflegemutter der Beschluß gefaßt, mich für einige Zeit aus der Schule zu nehmen. Wir reisten ins Bad.
Pyrmont, im Fürstentume Waldeck, war in jenen Tagen ein Modebad für bleiche Jungfern. Vom Brunnentempel führte die schnurgerade Lindenallee in einen Zauberpark voller Palmen. Da wucherten Orchideen. Im Schatten der Azaleenbüsche schwammen in Teichen, unter Wasserrosen, glitzernde Zierfische. Immer tönte Musik und immer schwirrte der geputzte Müßiggang. Die Mutter, zwei Kinder, das Kinderfräulein und die Tanten Fanni und Elise bewohnten das Parterre im »Grand Hotel des Bains«. Grete verließ uns im Zorn und war erst versöhnt, als man mich später ihrer Pflege übergab.
In Pyrmont gastierte den Sommer über der Schauspieler Carl Sontag, ein naher Freund meines Vaters. Er war der Typ des warmherzigen Egoisten, des seelenbezaubernden Schwerenöters. Ein »Flittchen Juchhe«, das immer ein wenig hypochondert. Ein Menschenalter später schien er mir wieder auferstanden zu sein in dem Freunde Harry Liedtke. Er war der Liebling des Publikums, der Liebling aller Frauen, der Liebling der Musen, hatte aber auch sich selber sehr lieb, wozu er denn auch manchen Grund hatte. In vergangenen Zeiten hatte es zwischen Carl Sontag und Grete Ehrenbaum irgend einen Theaterkrach gegeben. Seither haßten sie einander mit großer Inbrunst. »Knabe!« dröhnte Sontag, »schwöre! Werde ein Mann! Lasse dich nicht gängeln von einer abgeblühten Heroine, heute komische Alte.« Die Scheltworte trug ich brühwarm Grete zu. Aber grade das hatte er gewollt. »Kind, geliebtes«, schluchzte Grete, »der schlechte Kerl! Er gibt dir Kognak. Er lehrt dich rauchen. Er bringt dich in leichtsinnige Gesellschaft.« Sie hatte recht. Aber die Zerstreuungen, die ich durch den Onkel Sontag kennen lernte, waren durchaus nicht anders als jene, die ich später in Berlin auch bei Grete genoß. Nur daß diese alle Ergötzungen der Welt fleißig übergoß mit heldischer Moral, während Sontag dazu lachte. Sie waren beide schlechte Erzieher.
Eines Abends nahmen ein paar mäßige Dämchen den Jungen mit zum Ball. Es seien zu wenig Tanzherrn zur Kur; auch der kleinste müsse gebraucht werden. Der Kurdirektor, ein weiser Mann, lächelte: »Kinder gehören nicht auf die Réunion. Geh nach Hause, Kleiner, und leg dich schlafen.« Das war eine rechte Beschämung für das männernde Selbstgefühl, und um das Gleichgewicht wieder herzustellen, machte ich Verse. Meine Gönnerinnen figurierten darin als herrliche Nymphen, die einen kleinen Bacchus zum Reigen führen. Aber Zerberus kommt, das herzlose Ungeheuer, und verbellt den jungen Gott: »Kinder gehören nicht auf die Réunion, geh nach Hause, Kleiner, und leg dich schlafen.« Dieses Poem vertraute ich dem Onkel Sontag und dieser, belustigt, zeigte es seinem Freunde, dem Kurdirektor von Gersdorff, und weil er im Theater gerade auftrat, in einem von ihm selbst verfaßten Lustspiel »Frauenemanzipation«, so benannte er mich »Bacchus, der Tanzemanzipator«. Einige Tage später sagte am Brunnen der Herr von Gersdorff: »Weil du so schön gedichtet hast, so sollt ihr Kinder einen eigenen Ball haben.« Zu diesem Kinderfest spendete der Fürst von Waldeck Kuchen, Gummizucker, Konfetti und Luftballons, denn ein paar kleine Prinzessen nahmen teil. Zu Beginn des Festes wurde der König und die Königin ausgelost. Es war aber so abgekartet, daß ich zum König und eine pummelige Prinzeß zur Königin bestimmt war, und das war bitter, denn ich hatte mich in eine kleine Tänzerin aus Brüssel verliebt, sie hieß Lola van der Meere, und mußte nun während des ganzen Festes mit dem langweiligen Elefantenkücken hopsen.
In meinem Lieblingsbuch stand die Geschichte von der kleinen Seejungfer. Darin sagt die Meergroßmutter: »Hoffart muß Zwang erleiden!« Wie oft habe ich dies Wort vor mich hingemurmelt. Alle Eitelkeiten und Scheinerfolge wurden schließlich zur Last. Auf der Höhe des Lebens befand ich mich einst in London im Ritz-Hotel im Kreis der verwöhntesten Leute, als einer die Frage aufwarf nach dem glücklichsten Lebenslaufe. Da erzählte ein amerikanischer Multimillionär die folgende Geschichte aus Plato. »Rhadamantys, der Totenrichter, hält die Urne mit den Losen der Wiederkehr. Zu oberst liegen die glänzenden Lose. Alle Schatten drängen heran, um eines der Glückslose zu erhalten. Jeder will bei der Wiedergeburt reich oder mächtig werden. Nur der weiseste aller Griechen, Ulyss, hält sich zurück. Schließlich liegt in der Urne nur noch das Lebenslos eines Bauern, der hundert Jahre alt wird, ohne je aus seinem Dorfe herauszukommen und die Welt kennenzulernen. Da springt Ulyss zu und ruft: ›Dies ist mein Los!‹«
Nach der Fackelpolonaise um den Brunnen wurde ich in der Allee auf einen Tisch gehoben, um ein selbstverfaßtes Huldigungsgedicht auf den Fürsten vorzutragen, wovon mir die letzten Worte noch im Gedächtnis haften, Fremdworte, die ich auf dem Theater aufgeschnappt hatte. »So stimmt denn ein mit lautem Schall, ein Hoch bringt der Orator, ein Hoch die Kinder Pyrmonts all, dem Tanzemanzipator.« Die Erwachsenen lachten, der Fürst sagte: »Ei, charmant«, die Fackeln wurden auf einen Haufen geworfen und Mütter und Tanten kamen, nahmen die erregten kleinen Herzen an der Hand und brachten sie zu Bette, König und Königin.
Nicht alle Ausflüge ins Rosenrote der Welt trugen so hoch, aber immerhin, statt mit Wolken und Märchen lebte ich nun schon, übrigens mich schlechter machend als ich eigentlich war, mit den Asphaltsöhnlein und Goldkindern aus Vaters guter Praxis, weltzugewandt, vergnügungsbeflissen. Das Verhältnis zu den Eltern hätte also besser werden können, denn jetzt gedieh ich endlich nach ihrem Herzen. Aber wie ich »vernünftig« zu werden begann, so wurde ich widerborstig.
Der Wandel eines verträumten Sinnierers zum Willensmenschen zeigte sich zunächst bei unsern Spielen. Ich wollte mich keinem andern mehr fügen, verprügelte die Jüngeren, wollte immer etwas Führendes oder Besonderes bedeuten. Dabei verwickelte mich diese Großmannssucht in die dümmsten Schlappen. Ein Junge von der Straße, von dem ich nicht einmal den Namen kannte, trug einen Indianerfederschmuck, so bunt, daß sein Besitz ohne weiters zur Häuptlingschaft vorbestimmte. Auf diesen Stirnschmuck hatte ich es abgesehen, der Junge aber auf die mexikanischen Briefmarken in dem Album, das der Großvater mir geschenkt hatte. Eines Abends bestellte ich den Jungen in die Köhlerhütte und ging hinunter mit der Markensammlung. Er verlangte für die Federn »drei Mexikaner«. Aber die Marken ließen sich nicht von der Buchseite lösen. Ich mußte das Blatt aus dem Album schneiden. Als ich das Blatt herausgerissen hatte, mit schlechtem Gewissen, da machte der Junge Schwierigkeiten. Er müsse auch noch die nächste Seite haben. Schließlich riß ich auch diese heraus mit zitternden Fingern. Nun versprach er, seinen großen »Bumerang« dem Kopfschmuck beilegen zu wollen, wenn ich noch eine Seite, nur noch eine, herausreiße. Er flehte und überredete. In einem nervösen Taumel der Zerstörung (der Besitz des Flitzbogens verhieß ja ungeahnte Taten), halb voll Verzweiflung, halb voll Grauen, zerlegte ich mein Buch, Seite nach Seite. Und weil nach Verlust der schönsten Blätter mir der Rest nun auch nichts mehr wert erschien, warf ich schließlich, aufschluchzend und aus mir selber herausgefallen, das ganze Album dem Jungen hin, der es blitzschnell aufgriff und verschwand. Hinterher mußte ich mich belehren lassen, daß mit der geringsten Marke aus meiner Sammlung der Flitzbogen wie die Federn noch überbezahlt worden wären. Mein Vater tobte, aber darum kam der fremde Junge mit der vertanen Markensammlung doch nicht wieder.
Zu den Wunderlichkeiten des Vaters gehörte, daß er von schlecht zahlenden Patienten, statt sie zu verklagen, lieber Gefälligkeiten annahm, durch die er sich schadlos hielt. Rund um die Stadt wohnten Landwirte und Gutsbesitzer, die er umsonst behandelte, wofür sie in den Ferien die Kinder aufnehmen und pflegen mußten. So war er die Last der Familie los und kam zu seinem Honorar. Wir waren lange auf der Domäne Wülfinghausen bei Eldagsen, im Hause des Amtsmanns Küchenthal. Sodann in Südhagen, einem Gute nahe Schloß Schaumburg, wo wir bei einem kauzigen Junggesellen, dem alten Onkel Eduard Fikendey glückselige Tage verlebten. Während der schweren Cholerazeit, als die Schulen geschlossen wurden, befanden wir uns auf dem Schlosse Dannenbüttel in der Heide nahe Gifhorn, bei der Familie Biermann, deren Kinder mit uns gleichaltrig waren. Aber der schönste aller Ferienaufenthalte, beginnend im vierzehnten Lebensjahr, war Derneburg, eine Station hinter Hildesheim.
Der Reisende, der von Bremen nach Leipzig fährt, erblickt, ehe er in den Vorharz kommt, nahe Hildesheim auf einem bewaldeten Hügel ein stattliches Schloß. Es ist wohl vor Zeiten ein Bischofsitz gewesen und beherrscht noch heute die Gegend inmitten eines Parks, der in Terrassen abwärts gleitet. Zu Füßen des Hügels schläft schilfüberwuchert ein Teich, und jenseits des Schloßberges rauscht jahrhundertealter Laubwald.
Dieses Schloß Wohldenburg, oberhalb der Ortschaft Derneburg, war damals die Residenz eines Schriftstellers, der unter den verschiedensten Namen das Bücherverfassen so betrieb, wie man allenfalls ein Warenhaus einrichten oder eine Fabrik organisieren kann. Sein bürgerlicher Name war Oskar Meding. Er war ein geschliffener Herr, mittelgroß aber brüstig, hatte rotblonde Haare und ein kluges forschendes Fuchsgesicht. Er war sehr höflich, sehr gepflegt, sehr weltgewandt, aber eigentlich ein nüchterner, immer auf politische Geschäfte und vorteilhafte Unternehmungen bedachter Rechner, zugleich aber einer der unbürgerlichsten Menschen, deren ich mich entsinnen kann.
Am Hofe des letzten Königs von Hannover hatte Meding einige wichtige Vertrauensposten inne und seine dreibändigen »Memoiren zur Zeitgeschichte« geben ein vollständiges Bild seines amtlichen Lebens. An den gestürzten König, der nach Hietzing bei Wien übersiedelte, klammerten sich allerlei Abenteurer, darunter auch dieser Regierungsrat Meding, der zunächst als hannoverscher Gesandter nach Paris ging, um von dort aus die europäischen Kabinette im Dienst des Welfenhauses zu bearbeiten. Man betrieb eine Politik der kleinen Mittel, die in aller Herzenseinfalt das Schicksal der Völker abhängig sein ließ von dem Schicksale ihrer angestammten Dynasten. Durch Heiratsprojekte und Personalpolitik, durch Waffenlager und Geldschiebungen, sollte Preußen entgegengewirkt und Hannover wieder selbständig werden. Auf dem Boden Nordafrikas wurde eine aus zwanzigtausend Hannoveranern und zahlreichen Fremdtruppen zusammengesetzte Armee unterhalten und einexerziert mit dem Ziel der Wiederherstellung des Königreiches Hannover bei Gelegenheit des ersten Konfliktes zwischen Preußen und den andern europäischen Mächten. Diese Phantasie verschlang Millionen, aber das Jahr 1870 änderte das Weltbild: Preußen trat an die Spitze Deutschlands. Die Welfenlegion wurde aufgelöst. Die Sache des blinden Königs und seines Sohnes, des Herzogs von Cumberland wurde endgültig hoffnungslos. Meding gehörte zu den Beamten und Offizieren, die in den Dienst Preußens übertraten. Durch Bismarcks Gnade erhielt er die Pension eines Gesandten für Lebenszeit zugesichert. Er tat ein Übriges und schrieb eine lobhudelnde Lebensgeschichte Kaiser Wilhelms des Ersten unter dem Titel: »Achtundachtzig Jahre in Glaube, Kampf und Sieg.« Damals kaufte er, nachdem er lange in dem reizenden Schlößchen der Fürsten Solms in Hannover gewohnt hatte, das Schloß Wohldenberg, und hier entfaltete sich ein Haushalt, dessen Eindrücke lebhaft in meiner Erinnerung haften.
Er war ein Schuldenmacher und Lebensspieler von großem Stil und da er auch seinem Arzt, meinem Vater, nur ungern in bar die Honorare zahlte, so hielt mein Vater sich schadlos, indem er möglichst oft mich auf den Wohldenberg schickte; mir aber war das so ersehnt, daß ich die Freude mir nicht anmerken ließ, damit sie ja nicht zerstört werde.
In den Ställen standen schöne Reit- und Wagenpferde. Auf den Wagen saßen gallonierte Diener mit verschränkten Armen. Der Park war voll edler Bäume. In den Treibhäusern blühten seltene Gewächse. Bei der Mittagstafel herrschte eine Feierlichkeit der Form wie bei Hofe. Woher bezog er die Gelder? Er bekam von Preußen seine Pension, er mochte wohl auch in der hannoverschen Zeit Gelder zurückgelegt haben, aber die Haupteinnahmen kamen aus einer unverantwortlich breitströmenden und uferlosen Schriftstellerei. Er schrieb unter einem Dutzend häufig wechselnder Decknamen. Am häufigsten gebrauchte er den Namen Gregor Samarow. Aber nebenher hat er auch viele Romanbände geschrieben unter den Namen Leo Warren, Detlev von Geyern und Friedrich Stein. Damals wirkte in Stuttgart ein literarischer Großunternehmer, der Verleger Hallberger. Ihm gehörten mehrere Zeitungen, darunter die große Bilderzeitschrift »Über Land und Meer« und die »Deutsche Romanbibliothek«. Meding, der mit Hallberger eng befreundet war, hatte mit ihm einen Vertrag geschlossen. Er erhielt eine feste Jahreseinnahme und belieferte dafür unter den verschiedensten Autorennamen Hallbergers Unternehmungen mit Romanen, Novellen, geschichtlichen Arbeiten, Skizzen und Biographien.
Morgens um acht erschien auf Schloß Wohldenberg der Stenograf. Meding lag im Bett, trank Kaffee, rauchte schwere Zigarren und begann je nach Laune zu erzählen. Er blieb bis gegen Mittag im Bette; der Schnellschreiber saß hinter einem Wandschirm stumm im Winkel; er durfte nicht sprechen, kein Geräusch machen; mußte alles sofort aufzeichnen, was der Regierungsrat einsam vor sich hin sprach. Und der sprach ausgezeichnet; er war ein glänzender Erzähler und amüsanter Plauderer und immer fiel ihm etwas Fesselndes und Spannendes ein. Er diktierte Tag für Tag mindestens drei Druckbögen. Der Sekretär nahm das Stenogramm mit und übertrug es sofort ins Reine. Es ging dann sogleich an Hallberger. Meding bekam es nur in der Korrektur wiederzusehen. Aber auch die Druckfahnen las er nur selten; ich las für ihn Probeabzüge von Plaudereien, ohne daß er sich um den Erfolg bekümmerte. Seine mehrbändigen Romane (er goß Unmengen Wassers in seinen Wein), hatten große Erfolge. Ich entsinne mich noch der Romane »Die Saxoborussen« und »Europäische Minen und Gegenminen«. Sie waren in einem flüssigen Periodenstil geschrieben. Sie spielten in den höchsten Kreisen. Das war um 1880 die Lieblingskost von Adel und gebildetem Bürgertum.
Ich war vierzehn Jahre alt, als ich zum ersten Male auf den Wohldenberg kam; man hatte mich gern und lachte über meine Phantasterei. Medings liebenswertester Zug war eine große Vorliebe für Pferde und Hunde. Seine Gattin, eine kränkliche Dame aus dem hannoverschen Adel, war eine Hundenärrin; wenn man in ihr Zimmer trat, so kroch aus jedem Winkel, unter jedem Sessel ein Kötertier hervor. Sie wurde auf dem alten Kirchhof in Derneburg begraben in Mitten ihrer Hunde. Ich durfte auch Sultan, meinen Neufundländer mit auf den Wohldenberg bringen; beim Wildern dort ist er erschossen worden. Ich durfte reiten oder mit Medings Sohn Wenzel, einem in Ostpreußen stationiertem Leutnant auf die Jagd gehen. Meding diktierte bis in den späten Mittag, der ganze übrige Tag gehörte der Geselligkeit. Am Nachmittage um fünf wurde große Tafel gehalten. Es waren fast immer Gäste anwesend. An der Spitze der Tafel stolzte der Hausherr, zu seiner Linken eine sehr üppige dunkelhaarige Schöne, eine Jüdin aus Hamburg, damals Bühnenkünstlerin, jetzt seine Geliebte. Ich hatte meinen Platz zwischen den drei Töchtern, verwöhnten, strahlend lustigen Mädchen, die ihre Tage mit Reiten und Ballspielen, Ausflügen und Tanzen verbrachten und sich die Cour machen ließen von den glänzenden, jungen Offizieren, die auf dem Wohldenberg oft wochenlang Gastfreundschaft genossen. Während der Tafel wurde viel Wein getrunken und häufig französischer Sekt. Zwei Diener servierten, weißes Glaces über den Händen. Aber manchmal platzte mitten in diese Herrlichkeit der Gerichtsvollzieher aus Hildesheim. Er bekam dann ein Mittagessen und ein paar Glas Sekt, und Meding zeigte göttliche Gelassenheit. Spät am Abend wurde nochmals Tee und Sandwiches gereicht; es wurde geplaudert, vorgelesen und viel musiziert. Manche wunderlichen Leute erschienen auf dem Wohldenberg. Ich entsinne mich des Redakteurs der Wochenschrift »Daheim«, des Literarhistorikers Robert König, eines engen schulmeisterlichen Mannes, der die kleinste Handschrift schrieb, die ich je sah. Vor allem aber erinnere ich mich an unsre »Geisterséancen«.
Es war mein Entgelt für die vielen Demütigungen, die der Vater und sein Freund Grahn mir zuteil werden ließen, daß ich, sobald dazu Gelegenheit gegeben war, die erwachsenen und klugen Leute gern in Verlegenheit brachte. Ich pflegte auch mit Vorliebe die stärksten Jungen, denen ich auf dem Turnplatz unterlegen war, in den »Unterirdischen Gang« unter unserm Hause einzuladen, und wenn wir möglichst tief hineingekrochen waren, so begann ich von Gespenstern und Totenknochen zu erzählen, bis sie sich gruselten und wieder ans Licht begehrten. Ähnliches geschah auf dem Wohldenberge. Meding hatte Vorliebe für alle spiritistischen und okkulten Angelegenheiten und lud die Geisterseher jener Tage gern zu Gast. Da erschienen der Doktor der Medizin und der Philosophie Egbert Müller, ein hagerer Selbstkasteier, der auch inmitten des Sybaritentums auf Schloß Wohldenberg unbeirrbar wie ein Mönch lebte. Er nahm nur Milch und Pflanzenkost und fuhr nicht mit der Eisenbahn, sondern lief zu Fuß. Er leitete die abendlichen Geisterbeschwörungen. Eine Freundin des Hauses, die in der Steiermark lebende Baronin Adelma von Vay, geborne Gräfin Wurmbrand, eine männliche Frau, und der Professor Cyriax, ein weiblicher Mann, waren unsere ergiebigsten Medien. Der Leutnant Wenzel, der Sohn des Hauses, war ein harmloses Gemüt. Inmitten all des hochliterarischen und okkulten Getues schuf es ihm Genugtuung, wenn er die Geister und Geistesleuchten zum Besten halten konnte, und ich leistete ihm dabei willig Hilfe. Wir brachten jeden Tisch zum Wackeln und halfen den Klopftönen und »teloplasmatischen Wundern« nach. Und da jeder Schabernack, den wir veranstalteten und selbst die frechsten Botschaften aus dem Jenseits ernst genommen und lange hin und her besprochen wurden, so hielten wir denn auch alles andere für Selbsttäuschung oder Betrug und alle Leute des Geisterkreises für eindrucksvolle Narren.
Die Herrlichkeit dauerte einige Jahre, dann kam der Verfall. Die Schulden wurden immer größer. Meding verkaufte seinen Besitz an den Fürsten Münster und verzog nach Berlin. Er verkaufte seine Kunstschätze, Bücher und Handschriften. Als er starb, verblieben seine Kinder in trauriger Dürftigkeit. In den Straßen Hannovers sehe ich bisweilen drei alte Fräulein, die schlecht und recht sich durch ein entsagungsreiches Leben geschlagen haben. Das sind die schönen stolzen Mädchen, mit denen ich einst durch die Wälder um Derneburg schwärmen durfte.
Es konnte nicht ausbleiben, daß ein so schweifendes Wohlleben, wie just um die Zeit des Reifejahrs mir geboten wurde, für die Schule und für den gewohnten Frondienst verhängnisvoll wurde. Als ich zurückgegeben werden sollte in die tägliche Mißhandlung beim Kerkermeister Grahn, da konnte keine Milde und keine Strenge, keine Prügel und keine Schmeichelei mich noch zum Lernen bewegen. Ich leistete unzerbrechlichen Widerstand. So kam es, daß der Kerkermeister selber meinem Vater vorschlug, mich ein Jahr lang in Tertia wiederholen zu lassen. Ich blieb also zum ersten Male sitzen. Und das war ein Glück. Denn nun kam ich in eine neue Klasse unter unbekannte Jungen. Unter diesen neuen Mitschülern war der Primus und Musterschüler ein versonnener blonder Knabe, der neben dem Garten der Alten Blindenanstalt auf der Hildesheimerstraße wohnte, uns schräg gegenüber. Schon dadurch kamen wir zusammen, daß wir viermal am Tage denselben Schulweg machen mußten. Aber bald nahm ich ihn auch mit, um meine Herrlichkeiten ihm zu weisen: den Pferdestall, das Pferd Barbe, die weißen Mäuse, das Skelett in des Vaters Untersuchungszimmer, den »Unterirdischen Gang« und meine Bücher. Für ihn, der bis dahin in enger Dumpfheit aufgewachsen war, brachten diese Wege die ersten Einblicke in die verwickelte bunte Welt. Mir brachten sie mehr. Sie gaben mich meinen eigensten Träumen zurück, gegen welche gehalten alles Welt-Erfahren doch nur dumm, eitel und lächerlich war. Wir rankten an einander. Was war mir nun Grete? Was der Freund Alfred? Was vermochte der Zorn des Vaters? Was die kalte Hölle Grahns? Eine Freundschaft begann, derentgleichen auf Erden nicht wiederkehrt.