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Die Völker eines großen Teiles der Nordwestküste Amerikas werden von den Russen ganz allgemein als Kaluschen oder Koloschen bezeichnet. Die Eingeborenen, von denen ich hier im besonderen spreche, nennen sich G-tinkit oder S-chintik oder auch S-chit-cha-chon, d. h. Bewohner von Schitcha oder Sitki. Sie lebten vormals im Norfolk-Sund; ihr jetziger Wohnort ist die nordöstliche Landspitze der Mündung des oben erwähnten Kanales, auf einem Felsen, der sich mehrere hundert Fuß aus dem Wasser erhebt. Der einzige Zugang liegt an der nordwestlichen Landspitze; er ist durch ein Verhau aus ungeheuren Baumstämmen sehr erschwert. Der Felsen selbst ist mit einer doppelten, 12 bis 15 Fuß hohen Palisade aus dicht aneinandergereihten Baumstämmen gegen feindliche Angriffe gesichert. Ein hoher natürlicher Erdwall entzieht außerdem die dahinterliegenden Hütten jedweder Sicht von der Seeseite her. Die Häuser sind rechteckig und verschieden groß; sie stehen in regelmäßigen Reihen einige Klafter weit voneinander entfernt. Das aus breiten und einzeln aufeinandergelegten Baumrinden bestehende Dach ruht auf etwa 10-12 dicken, tief in die Erde gegrabenen Pfosten, in die Bretter als Hüttenwände eingesenkt sind. Der Hütteneingang ist an einer der schmalen Giebelseiten und zuweilen bunt mit Erdfarben bemalt.
Das Innere ist wie die Menschen außerordentlich schmutzig. Der Rauch, der Gestank von Fischen und Tran, der Anblick der mit Kohle und Erdfarben beschmierten und durch Lippenlöffel entstellten Gesichter ist ekelhaft, und manche ihrer Handlungen erregten unsern heftigsten Widerwillen. So suchten sie sich z.B. das Ungeziefer aus den stinkenden Pelzkleidern und brachten die kleinen Tierchen sogleich zum Munde.
Mut, Verstand, Alter, zeitliche Glücksgüter, die durch Jagd und Tauschhandel erworben wurden, und die Größe der eine Familie umfassenden Angehörigen scheinen mir die Würde und das Ansehen eines Kaluschen zu bestimmen. Unter einem Oberhaupt dieser Menschen verstehe ich den Vorsteher einer zahlreichen Familie, der die Gewalt eines unabhängigen Hausvaters ausübt; er weist seine Untergebenen an und bestraft Ungehorsam. Jede Familie lebt für sich allein, entfernt sich wohl auch wochenlang in die Jagd- und Fischgründe. Die Familie des Vaters unserer Dolmetscherin möchte aus 30-40 Köpfen bestehen, die alle in einer Hütte wohnten. Die Zahl der Festungsbewohner schätze ich auf 1300-1400 Menschen.
Einzelne Familien wie auch einzelne Stämme haben zuweilen Streitigkeiten miteinander; dabei entscheidet das Recht des Stärkeren. Wird ein Feind gefangen, so muß er als Sklave so lange dienen, bis man ihn gegen eine gewisse Zahl Seeotterfelle wieder freikauft.
Hauptnahrungsmittel sind frische und geräucherte Fische, Fischrogen, Seehunde, im Frühjahr und Sommer verschiedene Arten von Seetang, der gekocht eine gallertartige Suppe liefert. Ferner ißt man Muscheln (Pinna Mytilus und Mya) und Mollusken (Sepia), den Bast von der Sprucetanne, der in der Form eines viereckigen Kuchens zusammengeschlagen wird, sowie Wurzeln und Beeren, die mit Tran vermischt werden. Statt des Salzes verwenden sie Seewasser. Fleisch und Tran vom Walfisch essen sie nie; vielleicht verbietet ihnen ein Vorurteil den Genuß.
Neben Jagd und Fischerei widmen sie sich der Anfertigung von Kanus. Diese bestehen aus einem einzigen Baumstamm und sind mit großem Geschick angefertigt. Es gibt Boote, die 30-40 Menschen aufnehmen können. Außerdem stellen sie Holzschüsseln, Masken und Angeln her. Die Angelschnüre bestehen aus einer getrockneten Seetangart.
Ihre Waffen waren früher Bogen und Pfeile, jetzt sind ihnen durch die Weißen Gewehre in die Hände gespielt worden, so daß sie die alten Waffen nur noch für die Jagd auf Seeottern und Seehunde verwenden. Sodann fertigen sie Decken aus der feinen Wolle eines Wildschafes, das bis jetzt wissenschaftlich noch unbekannt ist. Die aus Baumbast und Gras geflochtenen Körbe sind überaus zierlich und so dicht, daß sie selbst zum Wassertragen verwendet werden. Im Sommer beschäftigen sich die Frauen vorzugsweise mit dem Eintragen der Wintervorräte, dem Sammeln von Beeren und Reinigen der Fische.
Unter den Schmucksachen findet sich hier übrigens der wertvolle Meerzahn (Dentalium entalis) der Alëuten wieder. Gern tragen die Frauen Eisendrahtringe um die Handgelenke. Die Kleider der Kinder behängt man mit kleinen Glöckchen, Münzen u.a. Kleine Kästchen zum Aufbewahren der Kostbarkeiten oder irgendwelcher Geräte werden mit den Backenzähnen der Seeottern und mit kleinen polierten Stückchen des Seeohres (Haliotis) verziert.
Stellen sich bei einem jungen Mädchen die ersten Zeichen der Reife ein, so muß sie, abgesondert von der übrigen Familie, in einer kleinen Hütte wohnen. Die ersten zwei Tage bekommt es gar nichts, während der folgenden nur sehr wenig zu essen und zu trinken. Das Wasser, das man ihm reicht, muß es durch den Flügelknochen eines weißköpfigen Adlers schlürfen und darf dabei nie mehr als drei Züge tun. Man glaubt nämlich, daß das Glück des künftigen Ehestandes davon abhängt, je enthaltsamer das Mädchen lebt und je häuslicher es sich in dieser Zeit gibt. So kommt es vor, daß ein solches Mädchen zuweilen ein volles Jahr fern von den Geschwistern und Gespielen eingesperrt verbringen muß.
Gewöhnlich hat jeder Kalusche nur eine Frau; einige wenige, sehr reiche Oberhäupter halten deren auch zwei, eine alte und eine junge. Sittlichkeit, Schamhaftigkeit und eheliche Treue charakterisieren im allgemeinen die Frauen dieses Volkes; darin unterscheiden sie sich zu ihrem Vorteil von den Alëuten.
Ich konnte nicht erfahren, ob diese Menschen ein göttliches Wesen verehren. Ihre Toten erfahren eine besondere Behandlung. Der Leichnam wird in einen Kasten gelegt und an einem abgelegenen Platz im Wald, gewöhnlich zwischen vier im Quadrat stehenden Bäumen, beerdigt. Alle schweren Krankheiten werden den Hexereien böser Menschen zugeschrieben. Als Heilmittel ist ihnen die Wurzel einer Valeriana bekannt.
Am 30. mittags traten wir die Rückreise an, nachdem wir noch von unserem Wirt, dem Vater der Dolmetscherin, eine Menge geräucherter Lachse und andere getrocknete Fische als Wegzehrung erhalten hatten. Wir fuhren dann zu dem freundlichen Häuptling Schinchetäez und übernachteten bei ihm. Als wir uns am nächsten Tag auf den Weg machten, sahen wir ein gar seltsames Schauspiel. An diesem Morgen liefen nämlich alle Kaluschen männlichen Geschlechts bei einer Kälte von 8 Grad Reaumur nackend über das Eis bis zum nahen Seeufer, um dort zu baden. Diese Sitte ist bei ihnen allgemein üblich. Kleine Kinder werden schon wenige Tage nach ihrer Geburt und zu jeder Jahreszeit in der See gebadet und auf diese Weise gegen die Unbill der Witterung abgehärtet.
Wind und Strömung waren uns diesmal günstig, so daß wir unbeschadet die gefährliche Durchfahrt passieren konnten. Am 1.November erreichten wir wieder frisch und gesund die russische Niederlassung im Norfolk-Sund.