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Einst kaufte eine Mutter ihrem Knaben
ein Kämmlein, das ihm wohlgefiel.
Er wollt' es immer bei sich haben,
beim Buchstabieren wie beim Spiel.
Er kämmte sich damit vergnügt die Locken,
sie waren gelb wie Gold,
niedlich gerollt
und weich, wie feiner Flachs am Wocken.
Was für ein Kamm war's aber auch! Die beste Ware!
Da man mit Recht den Kamm doch preist,
der gar nicht reißt
und leichten Striches gleitet durch die Haare,
Drum dünket er dem Knaben auch ein Schatz.
Da war einmal der Kamm verschwunden,
als drauf der Knab' mit einer wilden Hatz
von Buben auf dem Grasplatz spielt,
so war in wenig Stunden,
sein Haar zerzauset und verwühlt.
Die Amme will das Haar ihm schlichten,
der Knabe leidet es mitnichten.
»Wo ist mein Kamm?« so schreit er.
Der Kamm wird wieder aufgefunden
und angesetzt, doch will er nicht recht weiter;
er reißt und kratzt, schon ist die Haut geschunden.
Der Knabe weint und ruft mit Grimm:
»Was bist du, böser Kamm, so schlimm?«
Der Kamm versetzt: »Mein Freund, ich bin noch, der ich war,
verwühlt ist nur dein Haar,
daher der Schaden.«
Der Knabe aber, voll Verdruß,
wirft seinen Kamm rasch in den Fluß.
Jetzt kämmen sich damit Najaden.
Ich hab' es oft erfahren,
daß mit der Wahrheit auch man so verfährt.
Solange das Gewissen ist im klaren,
ist uns die Wahrheit lieb und wert,
man hört sie gern, sie wird verehrt.
Sobald jedoch die Seele nicht mehr grade,
so findet auch die Wahrheit keine Gnade;
und niemand ist, der gern sich kämmt,
wenn wüstes Haar des Kammes Zähne hemmt.