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Die geliebte Handschrift bedeckte zwölf große Seiten. Es waren die Schriftzüge eines guten, klaren Menschen.
Ich habe diesen Brief immer bei mir, als Kompaß:
Mein lieber Junge!
Ich freue mich, daß ich ein Lebenszeichen von Dir bekommen habe. Und ich freue mich noch mehr darüber, daß Du einen so gesunden proletarischen Instinkt hast, der Dich warnt, Dich in Dinge zu verlieren, die wirklich nichts mehr mit dem Kampf unserer Klasse zu tun haben.
Dieses starke proletarische Empfinden ist der beste Kompaß für alle, die sich in den Dienst unserer großen Sache stellen. Du bist darüber empört, daß in unseren eignen Reihen oft in wegwerfender Weise über die proletarischen Massen geurteilt wird, die, wie man gern zu sagen pflegt, »noch nicht politisch und gewerkschaftlich diszipliniert« sind und die man dann ganz im Jargon der Aristokraten von gestern und heute als »Janhagel« und als »Mob« abstempelt. Ich habe es selbst stets abgelehnt, die proletarischen Massen in dieser oberflächlichen Weise zu klassifizieren. Immer, wenn ich so über die »Undisziplinierten« als vom »Janhagel« und »Mob« sprechen höre, beschleicht mich das Gefühl, als vollziehe sich oder symptomatisiere sich da eine ideologische, wenn nicht gar soziologische Spaltung des Proletariats in Arbeiteraristokratismus und Proletentum, als entferne sich der eine Teil immer weiter von dem anderen.
Alle, die heute so schnell fertig sind mit ihrem Urteil, haben vergessen, daß es noch gar nicht lange her ist, wo in den Augen der bürgerlichen Welt die »Roten« gleichgesetzt waren mit »Pöbel«, »Janhagel« und »Mob«. Ich muß dann immer an die Hetze der Ordnungspresse denken, wenn es gelegentlich politischer Massenaktionen, großer Wahlrechtsdemonstrationen oder bei großen Streiks zu Zusammenstößen mit der Polizei kam. Es war dann immer der Janhagel, der Pöbel, der Mob, der von den sozialdemokratischen Agitatoren aufgeboten worden sei, um »Ordnung, Ruhe und Sicherheit« zu untergraben. Vor dieser Terminologie empfinde ich nur Ekel. Man klatscht nach, was die natürlichen Feinde der Arbeiterbewegung dem Volke in demagogischer Absicht vorgeschwatzt haben. Pfui über solche »arbeiteraristokratischen« Manieren!
Ich reichte dem Tierbändiger, der den stärksten Appetit gestillt hatte, das erste gelesene Blatt. Er wischte sich die Finger an der Hose ab und griff zu. Es ging ja auch ihn an.
Dann las ich weiter:
Als Marxisten haben wir in dem Zustand unserer Klasse eine soziologische Aufgabe zu erblicken. Diese Aufgabe besteht darin, das Proletariat gemäß seiner geschichtlichen Pflicht zu gestalten. Das aber ist etwas wesentlich anderes als das Nachplappern von Schlagworten, die der Haß und der blöde Stolz der Besitzenden diktiert haben. Die Geschichte der Klassenkämpfe lehrt folgendes:
In bestimmten Situationen der Gesellschaft wird die unterdrückte Klasse zur Erhebung gezwungen, sie wird dann durch ihre universellen Leiden so solidarisiert, daß alle in ihr entstandenen ideologischen Differenzen im Moment der Erhebung zum Schrecken ihrer Fraktionsführer wie weggeblasen erscheinen. Befangen in einer geradezu dogmatischen Auffassung über den Gang der Entwicklung, können diese Fraktionsführer in revolutionären Situationen den Massen nicht folgen, stellen sich diesen oft entgegen und werden von diesen zunächst überrannt. Ein Teil von ihnen paßt sich an, gewinnt wieder Oberwasser und sammelt seine Anhängerschaft wieder um sich. Die Fraktionskämpfe beginnen und zerreißen die Klassenkräfte. Und nun bricht die alte Demagogie allenthalben wieder durch. Es werden wieder Gegensätze konstruiert: Reformisten, Revisionisten, Opportunisten, Revolutionsromantiker, Phantasten, Utopisten usw. Der große Rest ist dann wieder der »Mob«, der »Pöbel«, der »Janhagel«, zusammengeworfen zum »Lumpenproletariat«. Das Resultat ist: das Gewicht der Arbeiterklasse verliert, und das seiner Gegner gewinnt. Im günstigsten Fall entsteht dann ein »Gleichgewichtszustand der Klassenkräfte«, der dann von den Massen als gegebene Tatsache anerkannt werden soll.
Dieser Anpassung können die Massen nicht folgen. Sie widersetzen sich dieser Anpassung an die oft durch die eigene Politik und Taktik verschuldete politische Situation. Wer in solchen Situationen vom Recht der Kritik Gebrauch macht und ausspricht, was ist, wird als Parteischädling in Verruf gebracht und als Ketzer verschrien, der nur den Massen nach dem Munde rede. Geht er dann gar noch so weit, eine spontan ausbrechende Erhebung anders zu werten, als es von den Instanzen geschieht, dann kann er von Glück reden, wenn er nicht als »Anwalt des Mob« vollständig kaltgestellt wird. Mir fällt da immer ein, wie es einem unserer besten Vorkämpfer, Joseph Dietzgen, erging, als er den amerikanischen Anarchisten beisprang, indem er an die Stelle der verhafteten Redakteure der Chikagoer anarchistischen »Arbeiterzeitung« trat und die Redaktion fortführte. Am liebsten möchte ich Dir hier alles abschreiben, was Dietzgen über diese Solidarität mit verfolgten Revolutionären hinterlassen hat. Einige Stellen mögen genügen.
Wenn ich wieder zu Hause sein würde, dachte ich, dann werde ich den Lieblingsschriftsteller meines Vaters lesen. Ich erinnerte mich, wie oft er von diesem Lohgerber und Revolutionär geschwärmt hatte. Es wurde Zeit, daß ich mehr von ihm las.
Dietzgen schrieb 1886 an einen Freund:
»Ich für meinen Teil lege sehr wenig Gewicht auf den Unterschied, ob Anarchist oder Sozialist, weil mir scheinen will, daß man aus diesem Unterschied zuviel Aufhebens macht.
Wenn die einen tolle Wüteriche zwischen sich haben, sind die anderen dafür mit Angstmeiern gesegnet; deshalb sind mir die einen so lieb wie die anderen.
Die große Zahl bei den Fraktionen bedarf noch sehr der Erziehung, die von selbst den Ausgleich bewerkstelligen wird.
Der Anarchismus hätte mich schwerlich viel stören können, nur sofern er das Putschen und die Privatrache zum System macht, hätte ich mich nicht mit ihm befreunden können. Daß das oder der vorgefallene Spektakel der Partei so viel schadet, wie die Zartseligen daraus machen, glaube ich gar nicht. Im Gegenteil, daß dem Volke ein Beispiel gegeben wird, wie man sein Zähne zeigen soll, hat auch viel für sich.«
Du mußt mir das schon verzeihen, mein lieber Junge, aber Du weißt es ja: wenn ich einmal bei meinem Lohgerber zu Besuch bin, gibt's kein Loskommen.
Ich muß mit dem Abschreiben fortfahren:
»Nach meinem Dafürhalten – und darin stimme ich mit allen unseren besseren und besten Genossen überein – erreichen wir die neue Gesellschaft nicht ohne ernstliche Kämpfe, denke sogar, daß ohne wüsten Rummel, ohne ›Anarchie‹ es nicht hergehen kann. Ich glaube an die ›Anarchie‹ als Übergangsstadium. In der Wolle gefärbte Anarchisten tun zwar, als sei der Anarchismus das Endziel. Es sind insoweit Tollköpfe, die sich für die Radikalsten halten. Die Radikalen sind wir, die hinter dem Anarchismus die kommunistische Ordnung wollen. Das Endziel ist die sozialistische Ordnung, nicht die anarchistische Unordnung.«
Dietzgen schlägt vor, die Namen »Anarchist«, »Sozialist« und »Kommunist« so zu mixen, »daß hernach kein Hornvieh einen Verstand mehr daraus gewinnen kann,« daß also alles als eins betrachtet werden muß, wie das ja der Gegner längst tut. Die Sprache ist nicht nur dazu da, die Dinge auseinanderzuhalten, sondern sie zu verbinden – dann ist sie dialektisch.
Und als man nicht aufhörte, Dietzgen wegen dieser Haltung Vorwürfe zu machen, erklärte er:
»Von meiner Anlehnung an die sogenannten Anarchisten bin ich heute noch voll erbaut und glaube fest, damit heilsam gewirkt zu haben.«
Diese Auffassung finde ich bestätigt in Engels' »Enthüllungen über den Kommunistenprozeß«, und zwar am Anfang dieser Schrift in der Ansprache der Zentralbehörde an den Bund:
»Wir müssen dafür sorgen, daß die unmittelbare revolutionäre Aufregung nicht sogleich nach dem Siege unterdrückt wird. Wir müssen sie im Gegenteil so lange wie möglich aufrechterhalten. Weit entfernt, den sogenannten Exzessen, den Exempeln der Volksrache an verhaßten Individuen oder an öffentlichen Gebäuden, an die sich nur gehässige Erinnerungen knüpfen, entgegenzutreten, muß man diese Exempel nicht nur dulden, sondern ihre Leitung selbst in die Hand nehmen.«
Das heißt, das Proletariat als Aufgabe erkennen. Dann wird man nicht den folgenschweren Fehler machen, den organisatorisch noch nicht erfaßten Teil insurgierender Massen als Mob oder Janhagel zu bezeichnen oder als Lumpenproletariat zu brandmarken, wie das leider so oft geschieht.
Das Lumpenproletariat hat mit der Arbeiterklasse nichts gemein. Es läßt sich von der Gesellschaft aushalten, während die Arbeiter die Gesellschaft erhalten.
Der Lumpenproletarier geht der Arbeit aus dem Wege, der Arbeiter fühlt sich am elendsten, wenn er arbeitslos ist, ganz gleich, ob er politisch indifferent oder geschult ist. Die Lumpenproletarier betteln, aber sie kämpfen nicht.
In revolutionären Situationen sind diese Elemente gefährlicher als die bewaffneten Gegner, sie warten auf den Moment, wo alle Katzen grau find, um zu plündern und zu stehlen. Wenn man vom Janhagel und vom Mob sprechen will, dann sollte man sich auf diese Erscheinung beschränken. Statt dessen werden alle, die nicht immer auf die Parolen der Instanzen warten, in einen Topf geworfen.
Das ist weder demokratisch noch sozialistisch.
Unsere Aufgabe besteht darin, nicht die aufständischen Massen zu trennen, sondern sie zu organisieren und auf ein bestimmtes Ziel zu konzentrieren, kurz: den Aufstand zur Revolution zu gestalten. Mit Lumpenproletariern gelingt das nicht. Hier gilt in vollem Umfang, was Friedrich Engels in seiner lehrreichen Schrift über den deutschen Bauernkrieg schreibt:
»Das Lumpenproletariat, dieser Abhub der verkommenen Subjekte aller Klassen, der sein Hauptquartier in den großen Städten aufschlägt, ist von allen möglichen Bundesgenossen der schlimmste. Dies Gesindel ist absolut käuflich und absolut zudringlich. Wenn die französischen Arbeiter bei jeder Revolution an die Häuser schrieben: ›Tod den Dieben‹ und manche auch erschossen, so geschah das nicht aus Begeisterung für das Eigentum, sondern in der richtigen Erkenntnis, daß man vor allem sich diese Bande vom Halse halten müsse. Jeder Arbeiterführer, der diese Lumpen als Garden verwendet oder sich auf sie stützt, beweist sich schon dadurch als Verräter an der Bewegung.«
Wer diese Lehre Engels' befolgt, wird nicht fehlgehen.
Entschuldige diese Ausführlichkeit, sie war notwendig. Ich bin nicht im Zweifel, daß auch Du den rechten Weg finden wirst.
In dieser Zuversicht umarmt Dich
Dein Vater
Viele Grüße von Mutter.
Ich lag neben dem Tierbändiger und wartete, bis er zu Ende gelesen hatte.
»Iß doch«, unterbrach er seine Lektüre und deutete auf das angebrochene Wurstbrot. Richtig, ich hatte lange nichts in den Magen bekommen.
Grimm reichte mir den Brief herüber:
»Ganz werde ich ja nicht aus allem klug. Aber dein Alter hat schon recht: Die Lumpen muß man sich vom Leibe halten. Es ist heute eben nicht ganz einfach, Lumpen zu unterscheiden. Es gibt solche und solche, Lumpen oben und Lumpen unten. Wir hätten eben dort bleiben sollen, wo wir hingehören.«
Auch er hatte aus dem Briefe meines Vaters den Ruf der Klasse vernommen.