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X · Siebzehn Portionen und eine Leiche

Die Stimme im Apparat wurde plötzlich lauter: »Ich befehle dir, laß sofort das Feuer einstellen.«

»Bruno, du kannst mich bald mal – – – Also geh raus, Grimm, wenn das unsere Leute sind, dann sollen sie aufhören zu feuern – – – Hörst du noch? Hallo? Jetzt bleibe ich erst recht. Sie haben einen von unseren Leuten erschossen. Das ganze verdammte Nest stelle ich auf den Kopf.«

Und ich warf den Hörer hin.

Drei Mann hoben den starren Körper des Getroffenen auf. Ich lief in die Post zurück:

»Rufen Sie einen Arzt an, bestellen Sie ihn ins Rathaus!«

In dem Hause gegenüber hörte ich die erboste Stimme des Tierbändigers. Mit ihm waren zwei Stoßtruppleute eingedrungen. Als ihnen nicht geöffnet wurde, hatten sie ein Parterrefenster eingeschlagen. Sie behaupteten, aus dem ersten Stock dieses Hauses wäre geschossen worden. Im Hausflur lehnte eine zitternde Frau, keines Wortes mächtig. Sonst war niemand zu sehen ... Später erfuhren wir, daß in dem Hause der Bruder des Bürgermeisters wohnte, der Führer der Einwohnerwehr. Er blieb für längere Zeit verschwunden.

Mit entsichertem Gewehr tappten wir durch die Nacht zum Haus des Bürgermeisters. Hinter dem schwarzen Ausschnitt eines offenen Fensters der ersten Etage lagen Furcht und Haß auf der Lauer. Wir hämmerten gegen die Tür. Die Totenstille wurde noch tiefer. Was sollten wir tun? Ich wollte meinen Auftrag möglichst friedlich ausführen und dann schnell heimfahren. Der Anruf unseres Kommandierenden ließ mir keine Ruhe. Er hatte sicher Ursache, uns zurückzuholen ... Aber sollte ich hier fortlaufen? Es hätte wie Flucht ausgesehen ...

Wir rannten zur Post zurück. Ich hatte schon die Hand auf der Klinke, als ich den Beamten sprechen hörte:

»Jawohl, Herr Bürgermeister, er hat sich nach Ihrer Wohnung erkundigt ...«

Da sah er mich in der Tür stehen, erschrak und wollte den Hörer weglegen. Ich griff zu:

»Herr Bürgermeister! Hier ist der Führer des Stoßtrupps. Ich habe mit Ihnen zu verhandeln. Nehmen Sie Vernunft an und öffnen Sie. Sonst lege ich drei Handgranaten an die Tür, und sie geht auf, das garantiere ich Ihnen! Wenn Sie keine Geschichten machen, sind Sie den Stoßtrupp in drei Stunden los.«

Der Beamte neben mir hielt sich nervös an der Tischkante fest und machte ein Gesicht, als wollte er die Antwort soufflieren.

Endlich:

»Kommen Sie – – – allein? ... Bewaffnet? ... Meine Frau – – – ist leidend ...«

»Keine Angst! Ihnen geschieht nichts. Ich bringe nur einen von meinen Leuten mit, einen sehr netten Menschen.«

Der Tierbändiger schaute mich an und grinste.

»Also, wir kommen. Ich klopfe zweimal laut, zweimal leiser, dann wissen Sie Bescheid.«

Wir standen wieder vor dem Hause. Im ersten Stockwerk war jetzt Licht. Das Klopfzeichen öffnete uns die Tür. Ein kleiner dicker Mann ging uns voran in das erleuchtete Zimmer. Seine Frau und ein etwa zehnjähriges Kind blickten auf uns mit dem Ausdruck höchster Angst. Der Tierbändiger schloß die Tür nach dem Nebenraum und stellte sich dann an die Tür nach der Treppe.

Ich nahm mein Gewehr gemütlich zwischen die Knie und rückte an den Tisch:

»Geben Sie mir die Liste der Einwohnerwehr oder nennen Sie die Namen.«

Der Dicke zog seinen kahlen Kopf zwischen die hochgeschobenen Schultern. In den farblosen Augen standen eine Sekunde lang Niedertracht und Frechheit:

»Einwohnerwehr?«

»Meinetwegen mag sie heißen, wie sie will. Nennen Sie die Besitzer von Schußwaffen. Aber ein bißchen dalli. Ich habe keine Zeit, mit Ihnen zu spaßen.«

»Bitte, ich müßte erst einmal den Gendarm fragen.«

Meine Geduld wog kein Gramm mehr. Gepolter auf der Treppe ließ uns aufhorchen. Einer von den Stoßtruppleuten kam und meldete, der Arzt hätte festgestellt, daß unser Mann von zwei Schüssen aus einem Jagdgewehr getroffen worden ist. Tödlich! Ich ergriff mein Gewehr, sprang auf und legte eine Hand auf die Schulter des Bürgermeisters:

»Kommen Sie mit. Zu Ihrer Beruhigung dürfen Sie den Gendarm und den Schutzmann einladen, Ihnen Gesellschaft zu leisten.«

»Verhaftet? ... Meine Frau ...«

»Sie dürfen alle Stunden einmal Ihre Frau anrufen.«

Der Tierbändiger reichte dem Bürgermeister den Hut vom Haken, und wir gingen.

Ein Posten an der Marktecke rief uns an, wir antworteten und überquerten den Platz.

Morgenstern kam vom Lastauto herüber und erzählte, in einer Gasse hätten sich verdächtige Gestalten bemerkbar gemacht, sonst sei nichts vorgefallen.

Auf einer großen Tafel in der Rathausgaststube lag der Tote: der Mann aus dem Nachbarort, der mit uns gefahren war. Der Oberkörper war entblößt, eine fürchterliche Schrotschußwunde saß wie ein dunkler Fleck auf der linken Brust. Auch der linke Unterarm trug ein großes Wundmal. Die Lippen des Toten standen offen. Aus der blassen Haut spießten die Bartstoppeln.

Der Arzt hockte auf einem schwarzen Wachstuchsofa hinter dem kleinen Skattisch und starrte auf eine lächerliche Bronzefigur mit einer Stammtischfahne. Ich begrüßte ihn stumm, und er berichtete von seiner Untersuchung. Der Mann war tot eingeliefert worden. Ein Schuß aus einem modernen Jagdgewehr, aus ziemlicher Nähe abgefeuert, hatte die Herzgegend getroffen und sofort tödlich gewirkt. Ein zweiter Schuß hatte den Unterarm zerstört ... Der Arzt war ein alter Mann, sein gutes Gesicht hatte die nachsichtige und überlegene Ruhe jener Menschen, die in ihrer Musik die erlösende Harmonie gefunden haben. Mit leiser Stimme gab er einige fachmännische Einzelheiten über die Wirkung der Schüsse an.

Inzwischen hatte der Ratskellerwirt den Schutzmann und den Gendarm aufgestöbert. Sie bauten sich stramm vor ihrem Bürgermeister auf und machten Männchen.

Ich rief die drei Amtspersonen heran:

»Der Herr Doktor ist jetzt so freundlich, das Ergebnis seiner Untersuchung schriftlich zu formulieren. Und Sie drei bescheinigen mir mit Ihrer Unterschrift, daß dieses Schriftstück ohne Zwangsmaßnahmen ausgefertigt wurde. Ich habe keine Lust, mir nachreden zu lassen, daß ich die ärztliche Erklärung mit der Pistole in der Faust erzwungen hätte.«

Es war sehr gut, daß ich an diese doppelte Versicherung dachte. Ich konnte sie noch oft brauchen.

Der Arzt ging. Die amtliche Dreieinigkeit aber lud ich ein, Platz zu behalten. Und der Ratskellerwirt bekam den Auftrag, einen Nachtspaziergang durch den Ort zu machen und möglichst vielen Leuten zu erzählen, daß zwei Maschinengewehre darauf warteten, aus Versehen loszugehen und daß jeder weitere Schuß auf Stoßtruppleute einem von den Geiseln daß Leben kosten würde. Als erster käme der Bürgermeister dran, als zweiter der Gendarm, als dritter der Schutzmann. Es könne aber auch sein, daß in der umgekehrten Reihenfolge verfahren würde.

Auf diese friedliche Weise verschafften wir uns Ruhe. Das Kleeblatt knickte zwar etwas zusammen, als es die Drohung hörte. Aber die Drei faßten sich bald wieder, sie fingen sogar an, einen Skat zu klopfen, und der Bürgermeister beruhigte alle Stunden einmal seine herzkranke Frau.

In der Nacht war nicht viel zu machen. Die Liste der Einwohnerwehr bekamen wir. Der Gendarm nannte die Namen. Von einem Maschinengewehr wollte keiner etwas wissen.

Die Stoßtruppleute holten einige Anwohner des Marktes aus den Betten und ließen sich ein anständiges Abendbrot herauslangen. Eine schlaflose Nacht fordert eben ihren Ausgleich. Da wir jetzt auch Verstärkung bekommen hatten – vier Mitglieder der örtlichen Parteigruppe erschienen, legitimierten sich und wollten mit Posten stehen –, konnte der Tierbändiger Tischleindeckdich spielen.

Ich hatte einen Maschinengewehrposten abgelöst, damit er tafeln konnte. Als ich wieder ins Lokal trat, sah ich – und nie werde ich diesen Anblick vergessen – den großen Tisch in der Mitte der Gaststube mit siebzehn Gedecken belegt ... Teller mit Gabel und Messer, mit Brot, Wurst und Schinken und Bier dazu ... und in der Mitte der Tafel lag der Tote mit dem entblößten und blutigen Oberkörper. Die Stoßtruppleute saßen an dieser Tafel und aßen laut und mit vollen Backen.

Weshalb sollte sie der Tote stören? Den Skat der drei Amtspersonen störte er doch ebensowenig ... Und schließlich: im Krieg durfte man ja auch nicht zimperlich sein. Was dort Heldentum sein sollte, war das jetzt Roheit?

Jede Nacht geht einmal vorüber. Als das Grau des Morgens heller wurde, schickte ich den Schutzmann mit einer Handglocke und mit einem bewaffneten Begleiter hinaus, damit er an allen Ecken die folgende, vom Bürgermeister eigenhändig unterschriebene, frohe Botschaft laut und von lustigem Klingkling eingeleitet, vorlese:

»Alle Waffen, auch Jagdgewehre, sind bis heute früh 8 Uhr im Rathaus abzuliefern. Das Haus, in dem nach acht Uhr noch Waffen gefunden werden, wird eingeäschert, der Besitzer erschossen.«

Damit diese Aufforderung, die natürlich nur Theater war, den gehörigen Nachdruck bekam und weil das gähnende und übernächtige Frösteln des Stoßtrupps Bewegung verlangte, zogen wir in voller Kriegsbemalung durch den verdutzt aufwachenden Ort. Nach einer Stunde begann die Ablieferung der Waffen.

Manche waren so feig, ein Kind zu schicken. Die Kleinen konnten das Gewehr kaum tragen. Mit unwissendem Lächeln reichten sie uns das Schießeisen. Zu einigen Gewehren fehlten die Schlösser. Es genügte, wenn ein Bewaffneter den Überbringer heimbegleitete und das Stück verlangte.

Gegen acht Uhr hatten wir ziemlich zwei Dutzend Gewehre, Karabiner, Jagdflinten und die dazugehörige Munition auf unseren Wagen geladen.

Ob es noch nötig war, Haussuchungen zu machen?

Wir kamen nicht dazu.

Laut hupend fuhr ein flotter Sechssitzer über den Platz. Neben dem Chauffeur saß ein Arbeiter mit einem Karabiner, und aus dem Wagen stieg Minister Meinerling. Er kreuzte die Arme über der Brust und machte ein Scharfrichtergesicht:

»Das sind ja schöne Sachen! Sogar einen Toten habt ihr auf dem Gewissen!«

Meinerling war geborener Germsbacher, und ich nahm ihm nicht übel, daß er sich um sein Kaff kümmerte, obwohl er vorher dazu mehr Anlaß und Gelegenheit gehabt hätte.

»Erlaube, Genosse ... Auf unserem Gewissen haben wir den Toten nicht.«

Ich hielt ihm den Schein mit der Erklärung des Arztes und den Unterschriften der Zeugen vor die Nase.

Er zückte einen Klemmer und las lange. Ärzte schreiben ja nicht besonders leserlich, und wir hatten Zeit. Wenn ein Minister seiner Privatsorgen wegen hierherfahren kann, dann darf es bei uns nicht auf eine Stunde ankommen.

Der Scharfrichter setzte seinen Kneifer ab:

»Wie hast du dir das verschafft?«

Das Blut schoß mir ins Gesicht. Vielleicht war auch eine Portion Galle dabei. Ich brüllte: Aufsitzen! und schwang mich selbst auf den Wagen zu den Maschinengewehren, den erbeuteten Waffen und zu den fluchend aufspringenden Stoßtruppleuten. Der Chauffeur riß den Motor an.

Heiser vor Wut stellte ich mich an das noch geladene Maschinengewehr:

»Schuft, elender! Sieh dich heimwärts vor, daß du mir nicht in Schußnähe kommst!«


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