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V · Das Meisterstück

Im nächsten Augenblick war das Lastauto leer. Die Soldaten retteten sich in die Haustüren oder stürzten zurück an die Straßenecke, um die sie vor einer Minute gekommen waren und wo jetzt die Mitte und das Ende des Zuges aus der Würde eines stolzen militärischen Aufmarsches ohne Übergang in einen Tumult vollendeter Hilflosigkeit gerieten.

Es waren völlig unerfahrene Truppen, das war unser Glück. Wir dagegen hatten unsere vier Jahre Schliff hinter uns und konnten jetzt unser Meisterstück machen.

Ich denke, wir haben es gemacht!

Wie ich den zweiten Gurt in das Maschinengewehr reißen wollte, stieß mich der Führer des Konsumautos, der sich neben uns an die Hausecke geschmiegt hatte, mit dem Karabiner:

»Zieh deine Knarre zurück. Wir brauchen die paar Patronen noch. Jetzt spielen wir weiter.«

Kaum hatten wir unser schon warm gewordenes Maschinengewehr zurückgeschoben, da peitschte auch schon der erste Schuß über unsere Köpfe. Die Zuschauer schoben nach hinten, nur die Leute mit den Karabinern traten an die Ecke. Es war, als ob sie für den Straßenkampf ausgebildet wären. Einer von ihnen legte sich nieder, der zweite kniete an die Ecke, und der dritte stand, scharf zielend an die Hauskante gelehnt. Sobald sich oben ein Soldat zeigte, knallten sie los.

»Wenn die Courage hätten«, meinte einer hinter uns, »dann sausten sie die Straße herunter und hackten uns zu Mus.«

»So siehste aus«, gab Karafiol zurück, »unser M.-G. würde sie schön zudecken.«

»Mensch, dann aber ran!« Der Führer der Bewaffneten drehte sich nach unserem Gespräch um: »Schaut, daß ihr durch die Albertstraße kommt, zwei von unseren Leuten mit, und besorgt es den Halunken vor dem Rathaus. Wir halten einstweilen hier die Ecke, damit sie nicht umfällt.«

Er stand schon wieder in Deckung, langte einen Patronenstreifen aus der Hosentasche, schob ihn in das Karabinerschloß und zielte um die Ecke.

Was soll ich dir alle Einzelheiten erzählen! Wir pirschten uns an den Markt heran, feuerten, wurden wieder beschossen, legten ein M.-G. der Rathausbesatzung lahm, und dann griff die Menge, die ich bis dahin für kaum etwas anderes als Schlachtenbummler angesehen hatte, an.

Ich weiß heute noch nicht, wie das zuging. Aber eines weiß ich: Nie werde ich aufhören, an die Masse zu glauben, an ihren revolutionären Elan, an ihren kämpferischen Instinkt, an ihre Bereitschaft zur Aufopferung. Sie hatte keinen Führer, und wenn sie einen gehabt hätte, keiner hätte es wagen können, die unbewaffnete Masse gegen den Drahtverhau und die Bajonette zu jagen ... Ich habe seither viel Enttäuschungen erlebt. Die Masse erschien mir oft unberechenbar und sinnlos. Aber dann denke ich an diesen Angriff, der kein Kommando brauchte, kein Signal. Der Geist der Masse offenbarte sich in diesem Angriff. Weder zuvor noch hinterher fragte einer nach dem Preis, nach dem Lohn, nach einem Wort des Dankes. Diese Angreifer hatten sich vor dem Kriege für ihre Ideale geschlagen und schlagen lassen, sie ließen diese Ideale von der Tagesordnung absetzen und sich auf die Schlachtbänke von zehn Fronten schleppen, sie kehrten zurück, ausgeplündert, tausendfach betrogen, und sie ließen sich abermals mit schönen Worten füttern. Und obschon sie nicht satt davon wurden, folgten sie ihnen, legten sie ihre Waffen nieder, die von anderen ergriffen und gegen sie gekehrt wurden, stellten sie sich wieder an die Maschinen, an die Hochöfen, begruben sie sich in der Nacht der Bergwerke, ausgedörrt, ärmer als je zuvor, damit der Staat wieder reich und groß werde und stark genug, ihnen das letzte Feuer in der Brust mit einem Faustschlag zu ersticken. Sie haben Königreiche verschenkt und sind Bettler dabei geworden. Sie haben Weltgeschichte gemacht, und man nennt sie Janhagel. Sie haben gearbeitet, als es hieß: arbeite! Sie haben gestreikt, als es hieß: streike! Sie haben gezahlt, als es hieß: zahle!– Aber das alles taten sie nicht etwa wie eine von Hunden umbellte Hammelherde, sondern sie taten es, weil sie glaubten, weil sie haßten, weil sie hofften.

Sie haben auch hier nicht gefragt: Wer gibt uns nun zu essen, es ist längst Essenszeit! Wer ersetzt uns die zerrissenen Kleider, den entgangenen Arbeitslohn, wer ernährt die Witwen und die Waisen der Ermordeten? Sie standen in dichten Haufen um die gefangenen Soldaten und hielten sie mit den Klammern ihrer Fäuste, aber sie schlugen sie nicht. Der schwerverwundete Leutnant wurde in das Rathaus getragen. Mit verstörten Gesichtern standen die Soldaten in der Menschenwoge, die dunkel und schwer über sie hinweggeschlagen war.

»Koppel runter!« Die Gewehre hatten schon neue Eigentümer gefunden. »Hosenträger und Leibriemen her, damit eure Hände wissen, mit was sie sich beschäftigen!« Es fing an, gemütlich zu werden. Der Anblick der Gefangenen, die ihre Hosen hielten und nach dem Lichthof des Rathauses geführt wurden, lockerte die Spannung der Szene etwas.

Nur um den Kapitänleutnant und den Zeitfreiwilligen Hauptmann kochte Aufregung:

»Ihr habt es nötig! Ihr Leuteschinder, Strolche! Euch werden wir die Etappenröcke ausziehen!«

Ein Kolben stand eine Sekunde lang hoch über der Gruppe, und der Schlag hätte die Textilindustriellen gezwungen, sich nach einem neuen Syndikus umzusehen, wenn nicht zwei, drei Arbeiter den Arm des Jähzornigen heruntergezogen hätten. Nur eine wütende Faust traf die Brust Millers, der ein bleiches und vor Angst freches Gesicht zeigte.

Ich sah plötzlich meinen Vater. Er stand mit bloßem Kopf mitten im Gewühl. Mehrere sprachen zugleich und laut auf ihn ein. Ich wollte zu ihm hin. Aber ehe ich mich bemerkbar machen konnte, schob uns überraschend aufflackerndes Maschinengewehrfeuer in eine geschützte Platzecke. Die vorhin aufgehaltene Truppe machte von einer anderen Straße her einen Vorstoß. Alles, was Waffen hatte, verteilte sich an die Straßenecken.

Eine wilde Knallerei ging los.

Die Situation war kritisch genug. Wenn noch mehr Verstärkung herangerückt wäre und die Besatzung des nahen Ministeriums einen Ausfall gewagt hätte, dann gute Nacht!

Stelle dir vor: Das Feuer, das scheußliche Peitschen der Querschläger, die aufgeregt werdenden Gefangenen, der jähe und etwas entmutigende Schreck unserer Leute über den unvermuteten Angriff ...

Die beiden gefangenen Offiziere waren in die Portalnische des Rathauses gedrängt worden.

Drei bewaffnete Arbeiter hielten neben ihnen die Stellung und schauten wie Menschenfresser drein, um nicht noch »an die Front« zu müssen.

Gefolgt von etlichen Parteifreunden, arbeitete sich der graue Kopf meines Vaters durch die Menge, zu den Offizieren hin. Die blassen und verschlossenen Gesichter der beiden starrten in das Gesicht meines Vaters, das in diesen Minuten zur verzerrten Maske geworden war.

Zwei Augen glühten sie an:

»Sie wissen, daß Sie Gefangene sind. Ich verlange von Ihnen, daß Sie die Straße hinaufgehen, zehn Schritt bis vor die kämpfende Truppe, dort bleiben Sie stehen, heben ein Taschentuch hoch und rufen laut: Ergebt euch, es – ist – alles – verloren!«

Die Offiziere standen schweigend. Ihre Lippen preßten sich zu schmalen Falten zusammen.

»Hören Sie nicht? Gehen Sie! Und denken Sie ja nicht, daß Sie überlaufen können! Hier diese drei und unsere Leute an der Ecke schießen Sie nieder, sobald Sie einen Schritt mehr riskieren!«

Handgranaten krachten in der umkämpften Straße wie schwere Geschütze. Maschinengewehre ratterten nahe.

Miller war blaß wie ein Tuch:

»Wir gehen nicht!«

Ein flammendes Antlitz versengte ihn:

»Ich – lasse Sie – erschießen!«

Der Speichel eines entstellten Mundes flog ihm ins Gesicht.

– – – »Tun Sie es, wir gehen nicht!«

Die drei Bewaffneten rissen ihre Gewehre hoch. Sie standen so nahe vor den Offizieren, daß sie dabei in die Knie gehen mußten. So kauerten sie, gekrümmte Rücken wie gespannte Bogen, die zerknüllten Mützen tief in die Stirn gezogen. Ihre Augen forderten den Befehl, abzudrücken.

Eine fürchterliche Minute lang lagen die Gewehrläufe so dicht vor den Gesichtern der Offiziere, daß diese vom Metallkreis der Mündungen berührt wurden. Der lange Körper Meschkes schwankte wie ein Rohr im Winde:

»Wir gehen ...«

Die anderen Worte blieben tonlos zwischen den greisenhaft kauenden Lippen.

Langsam gingen die beiden Offiziere über den Platz. Im bloßen Kopf. Mit der linken Hand hielten sie ihre Hosen, und in der rechten hing ein weißes Taschentuch. An der Ecke blieb ihre Begleitung zurück. Drei Gewehrläufe und ein Maschinengewehr folgten zielend der dunkelblauen und der grauen Uniform. Der Straßenkampf hielt den Atem an.

Jetzt blieben die beiden stehen.

Die Sekunde wurde zur Ewigkeit.

Jeder hob eine Hand hoch. Zwei kleine weiße Tücher wehten. Und die ihre Gewehre krampfhaft umspannenden Arbeiter an der Straßenecke hörten eine seltsam in der Stille hängenbleibende Stimme:

»Ergebt – euch ... Es – ist – alles – ver – loren ...«

Was nun folgte, war phantastisch und fast lächerlich wie ein zu schnell gedrehter Film. Als ob die Truppe darauf gewartet hätte, flog am oberen Ende der Straße ein weißes Tuch hoch. Die Soldaten verließen ihre Schützennester an den Haustüren, lehnten die Gewehre weg und schnallten ab. Und die Straße verlor ihr steinernes Angesicht und wurde zum Schrei. Auf einmal war alles voll Menschen. Kein Filmregisseur kann seine Massen so aus dem Boden stampfen. Die Soldaten gingen in der tobenden Woge unter.

— — —

Eine halbe Stunde später war das Ministerium gestürmt. Als wir in die zweite Etage eindrangen, über Munitionskästen, Haufen von Tornistern und Kisten voll Handgranaten hinweg, standen die Maschinengewehre noch dampfend in den Fenstern.

Die Gefangenen wurden in die oberen Räume und in die Dachkammern gesperrt und scharf bewacht. Unter ihnen waren der Reichswehrmajor Grube und viele Offiziere. Der Rittmeister von Lamnitz hatte sich im Abort versteckt und war im Durcheinander, wahrscheinlich durch eine Hintertür, entkommen.

Im Sitzungssaal des Landtages war ein Arzt mit den Verwundeten beschäftigt. Das Auto des Krankenhauses fuhr hin und her. Arbeitersamariter trugen die blutige Last vorsichtig durch die Straßen, und unsere Toten lagen in stummer Reihe in einem Wandelgang des Ministeriums.

Als ich mit einem Haufen Bewaffneter das Regierungsgebäude verließ, drehte sich ein Arbeiter, das Gewehr über die Schulter werfend, um: »So, nun können unsere Minister wieder hinein.«

Ich vergesse nicht, wie ein älterer Arbeiter, der mit zwei Munitionskästen neben meinem Maschinengewehr herlief, trocken hinzusetzte: »Alle, bis auf einen, bis auf den Meinerling.«

»Weshalb?«

Der Alte machte eine Bewegung, als würfe er Schmutz weg.


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