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XIX · Eine Nacht ohne Schlaf

Zwei Tage später stand ich mit vier Mann Posten auf dem Bahnhof. Wir lungerten umher und hatten nichts zu tun. Auf der eingleisigen Strecke rumpelte alle paar Stunden ein wackliger Zug heran, und wir guckten schon gar nicht mehr nach den wenigen Passagieren und den schläfrigen Eisenbahnern.

Am liebsten wäre ich mit eingestiegen und auf und davon! Diese Tragikomödie machte ich nicht mehr lange mit, das stand fest. Wir spielten hier den wilden Mann, aber niemand glaubte uns. Das Bereitschaftsquartier in der Villa war ein Puff, weiter nichts. Und der blutige Pippig blieb verschwunden.

Ich saß auf dem Bahnsteig und ließ die Beine von einem Handwagen baumeln. Das Maschinengewehr stand verlassen unter dem Schutzdach. Meine Kameraden plauderten mit einem Postbeamten, der sich breit aus dem Fenster seines Dienstzimmers lehnte. Der Bahnhofsvorsteher drückte sich in unserer Nähe herum und musterte uns, als hätte er uns noch nie gesehen.

Auf dem Ausweichgleis rangierte ein Leerzug. Er mußte bereits vor zehn Minuten angekommen sein, war nicht in die Station eingefahren, und kein Beamter kümmerte sich um den Zug aus etwa sechs leeren Personenwagen. Die Lokomotive schob die Wagen langsam an das Stationsgebäude heran, die Wagen waren leer, nichts bewegte sich hinter den hochgezogenen Fenstern.

Plötzlich sah ich, wie die Türklinke eines Abteils dritter Klasse von einer unsichtbaren Hand heruntergedrückt wurde. Ich griff instinktiv nach meinem Gewehr, da pfiff die Lokomotive, und in diesem Augenblick flogen alle Wagentüren auf. Ehe ich einen Schuß abfeuern konnte, war ich von einer brüllenden Horde umringt, und ein Kolbenschlag warf mich nieder.

Als ich wieder zu mir kam, schloß ich sofort wieder die Augen. Was war geschehen? Ich lag auf den Steinen unter dem Schutzdach des Bahnsteigs neben einem Haufen Tornister. Am Ohr und am Hals spürte ich das warme klebende Blut. In meinem Kopf sang es leise wie der Abendwind auf den Telegraphendrähten. Aber es war eigentümlich: mir war seltsam wohl zumute, wie einem Kranken, der eine Krise überstanden hat und das Leben wieder in den Körper zurückkehren fühlt.

Richtig, so war es: In den Wagenabteilen lagen die Soldaten auf den Bänken oder kauerten am Fußboden. Das Signal der Lokomotive hatte die Türen auffliegen lassen, und die Soldaten waren in derselben Sekunde Herr des Bahnhofs.

In der Stadt wurde gefeuert. Aber es klang nicht wie Straßenkampf, es war, als würde auf Hasen geschossen ...

Das also war das Ende?

Stiefel kamen auf mich zu und hielten nah an meinem Gesicht. Eine Stimme, es mußte der Bahnhofsvorsteher sein, sprach: »Das ist der Anführer. Ich kenne ihn.«

»Nein, das ist er nicht.«

Diese Stimme ließ mich aus der gespielten Bewußtlosigkeit aufwachen. Neben dem Bahnhofsvorsteher und einem jungen Offizier stand der blutige Pippig. Ich erhob mich, was zu meiner großen Verwunderung so schwer war, als hätte ich Blei in allen Gelenken, und starrte Pippig an wie einer, der seinen Augen nicht traut.

Der versteckte seine Verlegenheit unter einem verzerrten Grinsen. Und der Offizier ließ mich abführen, in das Dienstzimmer des Stationsvorstehers. Ein Hauptmann mit der Physiognomie eines Weinreisenden drehte sich nach mir um.

Inzwischen war ich mir klar geworden: Bayern. Keine regulären Soldaten. Zeitfreiwillige. Studenten dabei.

Das Verhör begann: »Wieviel Mann war Ihre Bande stark?«

Ich guckte die lebende Weinkarte nur an. Der Hauptmann setzte onkelhaft hinzu: »Sie brauchen sich nicht zu zieren. Das ganze Nest ist ausgehoben. Es gibt nichts mehr zu verraten.«

Das mochte stimmen. Ich sah draußen vor dem Fenster ein Bündel Gefangene, umringt von vielen Bewaffneten in Soldatenmänteln.

Hatten sie auch den Tierbändiger?

Der Hauptmann trat dicht an mich heran:

»Sie sind doch Ausländer. Russe? Was?«

»Nein.«

Wie mochte das Rindvieh daraufkommen? Soviel Dummheit machte mich frech:

»Deutscher Staatsbürger, ehemaliger Unteroffizier, Frontsoldat, noch nicht vorbestraft, vierzehnmal geimpft.« .

Der Hauptmann glotzte dumm. Dann überzog Scharlachröte seinen dicken Kopf, und er schrie: »Abführen! Der nächste!«

Mein wilder Triumph dauerte nicht lange. Ich wurde eine schmale Treppe hinabgestoßen, und dann lag ich in einem kleinen Kohlenkeller auf einem schräg an die Wand geschütteten Haufen Briketts. Ein vergittertes Kellerfenster ließ das Licht des Tages ahnen. Zwei Gefangene lagen bereits in diesem Loch, nach mir kamen noch fünf hinzu. Auch sie waren überrumpelt worden. Einige von den Insassen der Villa hatten ausreißen können.

Ich dachte an Romankapitel, die von Gefangenen berichteten, und wunderte mich, daß ich nichts von dem fühlte und erlebte, was ich dort gelesen hatte. Eine Szene aus dem »Troubadour« fiel mir ein: Die Gefangenen schmachten im Kerker, was sie nicht hindert, bis zum hohen C hinauf zu singen, und die Geliebte des gefangenen Anführers steht draußen und schluchzt steinerweichend mit Orchesterbegleitung. Was für ein Schwindel! Wir lagen hier auf dreckigen Briketts, und keiner sprach ein Wort. Über uns ging es lebhaft hin und her.

Das graue Rechteck des Kellerfensters erlosch. Es wurde also Nacht. Der Hunger fing leise an, wie ein Wurm zu nagen.

Eine große Gleichgültigkeit kam über mich. Ich dachte nicht an zu Hause, an nichts. Mir war alles schnuppe wie damals, als wir an der Somme lagen und auf den Tod warteten. Ich wartete damals eigentlich nicht, ich war schon tot. Die Kameraden beneideten mich um meinen Schlaf. Aber Schlaf war das nicht, Traum war das nicht, was war es? So ähnlich war das jetzt wieder ... Eine Ratte lief mir übers Gesicht, wischte mit dem langen, kalten Schwanz über die Oberlippe! Ich erhob mich etwas, um der ekligen Berührung zu entgehen.

Es muß schon spät in der Nacht gewesen sein, als zwei Soldaten in den Keller polterten und uns die Treppe emporstießen. Wir standen dann in einem schmalen Korridor und wurden einzeln zum Verhör Nummer zwei geführt. Ich war zuletzt dran, und bis dahin vertrieben sich die stolzen Sieger mit uns die Zeit. Sie hantierten mit den Stielgranaten so vor meiner Nase herum, daß mir himmelangst wurde, die Kerle könnten mit mir in die Luft gehen. Und das wäre doch schade gewesen. Sie sahen so wohlgenährt und unternehmungslustig aus und sind heute sicher längst Familienväter und Anwärter auf die Pension der Republik ...

Wahrscheinlich wußten die Freiwilligen selbst nicht genau, was sie von uns wollten. Sie erzählten mir mehr als einmal, wir würden alle miteinander an die Wand gestellt und – bitte, recht freundlich! – abgeknipst. Aber dann lag ich doch wieder im Brikettkeller, und zwar diesmal allein.

Ein Posten stand nicht vor meiner Tür. Es genügte, daß zugeriegelt und der Schlüssel in guter Hut war. Ich hatte mich bereits für die Nacht eingerichtet – Marke: leg dich auf den Rücken und deck dich mit dem Bauch zu –, als der Schlüssel im Schloß knackte und jemand in das Kellerloch trat. Der späte Besucher kam ohne Licht. Eine Weile blieb er lautlos stehen. Dann fragte eine erregte, aber kaum hörbare Stimme:

»Karl ...?«

Es war der Tierbändiger. Verdammt, plötzlich zitterten mir die Knie, als sollte ich gehenkt werden.

»Hier, die Jacke, schnell! Die Mütze ... Und schmiere dir das Gesicht dreckig ...«

Er drückte mir einen Eimer in die Hand, packte ihn schnell voll Briketts, seinen auch, schloß wieder ab, und dann stiegen wir die finstere Kellertreppe hinauf, gefährlich nahe an der Tür des Korridors und an lauten Gesprächen vorbei, nach den Aborten zu, und die Posten ließen uns passieren. Wir waren zwei Eisenbahner, Heizer oder so was ... Bis zum Güterschuppen trugen wir die Eimer und legten unsere Verkleidung ab. Dann gingen wir wie auf Eiern weiter, und nach drei Minuten rannten wir, was die Beine hergaben, dem nahen Walde zu.

»Mensch, Grimm, nun erzählte doch ...«

Der Tierbändiger richtete sich vom Nadelteppich des Fichtenholzes auf und spähte in die Dunkelheit:

»Junge, Junge, das war mehr als Schwein! Ich war gerade bei deinem Ortsgruppenvorsitzenden wegen einer Sache, die er im Gemeinderat besprechen sollte, als die Knallerei losging. Und ich hatte keine Knarre mit! Albert verkrümelte sich, und ich schlich mich bis an den Gartenzaun unserer Villa. Es war nichts mehr zu machen. Bis zum Abend lag ich auf der Lauer. Ich glaube, ich hätte noch eine Dummheit gemacht, wenn ich nicht einen Eisenbahner getroffen hätte, der bei der Partei ist und der mir erzählte, du lägst im Kohlenkeller. Ich bearbeitete ihn so lange, bis er den Nachschlüssel herausrückte, den er sich besorgt hatte, um im Winter nicht zu frieren. Auch seine Arbeitsblusen und zwei alte Mützen holte er aus seiner Wohnung, und dann lotste ich mich ran. Ich dachte schon, es wäre nicht heranzukommen ... Am schlausten ist der Eisenbahner dran, er hat seine Kittel wieder und zwei Eimer Briketts geerbt. Aber, verflucht, seinen Schlüssel habe ich noch in der Hosentasche ... Mag er sich einen neuen verschaffen. Hier hast du ihn zum Andenken.«

Damit war die Sache für ihn erledigt.

Als ich ihm die Begegnung mit dem blutigen Pippig erzählte, antwortete er mit keiner Silbe. In der Finsternis konnte ich sein Gesicht nicht sehen. Ich spürte nicht einmal seinen Atem. Wir waren ein Stück weitergegangen, und ich dachte schon an den kommenden Tag, als Grimm laut zu sich selbst sagte:

»Aus und vorbei.«

Das war meine Meinung auch. Ich merkte, er hatte wie ich einen dicken Schlußstrich gezogen unter diesen Abstecher. Die Bilanz wird wohl bei uns beiden gleichlautend gewesen sein, wenn wir auch nicht darüber sprachen.

Im Osten lichtete sich der Himmel. Fröstelnd standen die Wälder. In der Ferne rollte ein Zug.

Wir wuschen uns in einem hellen Wasser – ich hatte nur eine kleine Kopfhautverletzung – und hielten uns am Rand der Wälder auf den Ort zu, wo ich den postlagernden Brief meines Vaters vorzufinden hoffte. Der Tierbändiger blieb für alle Fälle in Reservestellung, als ich in den Vormittagsstunden durch das Nest ging und an den Schalter des kleinen Postamts klopfte.

Der Brief war da. Ich kaufte noch etwas Brot und Wurst ein und ging zu Grimm zurück. Während er sich heißhungrig über das Paket hermachte, öffnete ich das Kuvert.

Ich fühlte, ehe ich eine Zeile gelesen hatte, wie eine große, starke Ruhe über mich kam.


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