Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VIII · Der Panzerzug

Am Montagabend war die Kaserne genommen worden, am Dienstag holten wir den Lamnitz aus seinem Nest, und am Mittwoch, richtig, es war am Mittwoch, ging der Tanz wieder los.

Schon der Vormittag hatte es in sich. Ich saß gerade in Brunos Arbeitszimmer, als Dr. Schilling, der Tolstoianer und Lagerkommandant, eintrat. Er hatte am frühen Vormittag bereits einige Male angerufen, in der Kaserne ginge alles drunter und drüber, die Gefangenen machten, was sie wollten, die Wache gehorche ihm nicht – jeden Augenblick könne die Chose in die Luft fliegen ... Man hatte ihn förmlich angebettelt, nicht die Nerven zu verlieren, durchzugreifen und dem Ministerium nicht noch diese Sorge aufzuladen. Und jetzt kam der Mann hierher!

Er setzte sich auf einen Stuhl an der Tür, wie ein zu Tode Gehetzter, der keinen Schritt weiter kann. Er war alt geworden. Nicht nur die Augen sahen verstört aus, das ganze Gesicht war eine Ruine. Wahrscheinlich hatte er auch eine schlaflose Nacht hinter sich.

Bruno unterdrückte einen Fluch und trat zu Schilling. Der blieb gebeugt hocken: »Ich bin fertig ... Meine Kraft ist zu Ende ... Ich muß abgelöst werden ... Die Verantwortung ist zu groß für mich ... Für solche Posten bin ich nicht geschaffen ...!«

Tatsächlich, dieser Mann war am Ende.

Einen Augenblick lang saß der kleine Trotzki still an seinem Schreibtisch. Ein Schatten beginnender Mutlosigkeit überzog sein Gesicht. Auch er hatte ja zwei Nächte kaum ein Auge zugetan, und die Schlappheit des anderen steckte ihn an. Aber dann erhob er sich mit einem Ruck:

»Karl, du fährst mit deinen Leuten in die Kaserne und schaffst Ordnung. Du wirst ja sehen, was los ist ... Sie, Schilling, Sie fahren mit und warten, bis Sie abgelöst werden. Das soll spätestens morgen geschehen.«

Die einfachste Sache von der Welt! Der Stoßtrupp fuhr los. Wir hatten seit gestern mächtig zugenommen, viele wollten mit dabei sein.

In der Kaserne war ein Spektakel wie auf einem Schulhof während der Frühstückspause. Die gefangenen Soldaten waren frech, zeigten uns lachende Gesichter, machten faule Witze und waren einfach nicht wiederzuerkennen.

Ihr Benehmen war nicht ganz unberechtigt. Die Wachkompanie befand sich in einem Zustand, der alles andere als Respekt einflößte. Keines von den drei Maschinengewehren funktionierte. Alles war versandet und verdreckt. Die Schlösser saßen wie eingekeilt. Und das Gerät lag in einem Winkel, die Munition war kaum zu verwenden. Sogar auf einige Meter Entfernung konnte man das leicht erkennen.

Ich ließ die Wachkompanie antreten, nahm ihren Führer ins Gebet, setzte sofort Maschinengewehrreinigen an und redete den halb beschämt, halb trotzig beiseite blickenden Genossen ins Gewissen. Viel Gerede brauchte ich ja nicht zu machen. Dann riskierte ich eine Generalprobe.

Die Gefangenen mußten antreten – alle Stuben wurden geräumt – und ein Viereck auf dem Kasernenhof bilden. Die Offiziere standen vor den Mannschaften. – Mitten im Karree hielt das Stoßtruppauto.

Viel mehr wollte ich ja eigentlich gar nicht. Den Gefangenen wollte ich beweisen, daß sie zu parieren haben, und die Wache sollte sehen, daß alles in Ordnung ist, wenn sie nur selbst Disziplin hält. Mir war ja ein bissel heiß dabei, denn es konnte doch passieren, daß die bewaffneten Arbeiter die Gefahr witterten, das Strammstehen sollte etwa wieder Mode werden. Aber alles ging gut. Ich überlegte eben, wie ich einen wirksamen Aktschluß finden könnte, da sah ich, wie einer von den Offizieren hämisch grinste. Der Kerl hatte eine Fresse wie zehn George-Grosz-Visagen zusammen. Ich sprang vom Wagen und trat vor ihn hin. Das Grinsen verzerrte sich etwas, blieb aber stehen.

»Warum lachst du?«

Das ganze Karree horchte.

»Weshalb du lachst, frage ich dich!«

Die Antwort ließ auf sich warten, und das Grinsen pflanzte sich weiter fort. Der Offizier zog seinen Mund schief. Ein goldener Eckzahn glänzte frech:

»Ich habe mit Ihnen noch keine Schweine gehütet.«

Alles hielt den Atem an.

Jetzt ging es aufs Ganze. Ich drehte mich um:

»Karafiol, gib mir mal deinen Leibriemen.«

In diesem Augenblick mußte ich an eine Prügelszene im Felde denken. Ein Offizier hatte einen am Wege arbeitenden gefangenen Russen mit der Reitpeitsche ins Gesicht geschlagen, weil der Mann gelacht hatte, als der Offizier zufällig vorbeiritt. Die Wollust einer unklaren Rache machte mich verrückt:

»Bataillon! Stillgestanden!«

Die Leute waren so überrascht, daß sie die Füße anzogen. Und dann schlug ich mit dem Leibriemen einmal über die George-Grosz-Visage und brüllte:

»Bataillon! Weggetreten!«

Das Karree zerbröckelte lautlos. Nur der eine Offizier stand noch eine Sekunde wie gelähmt an seinem Platze. Dann ging auch er. –

Ehe mir die Sache leid tun konnte, rief mich eine aufgeregte Stimme aus dem Fenster der Schreibstube ans Telephon. Was ich hörte, ließ mich doch für eine Weile niedersitzen. Bruno rief an: Ein Panzerzug ist unterwegs, sofort ihm entgegen, Hauptgleis zerstören, eine Brücke sprengen, das zweite Stoßtruppauto ist bereits unterwegs! Verstärkung folgt ...

Die stahlharte Stimme unseres Kriegsministers hätte einem kaiserlichen Generalstabsoffizier alle Ehre gemacht.

Verflucht! Jetzt nur nichts merken lassen! Deshalb also war die Bande hier so frech? Sie hatte wohl Lunte gerochen.

Ich gab Dr. Schilling die Hand, er verstand mich, und dann ging ich zu den Stoßtruppleuten, tat gleichgültig, und erst unterwegs packte ich die Neuigkeiten aus. Einige machten bestürzte Gesichter, aber die Sache war nun einmal im Rollen. Man sitzt auf einem dahinpolternden Lastkraftwagen, und es ist, als ob jedes Selbstbestimmungsrecht aufgehoben wäre. Unser Chauffeur holte aus dem Motor das letzte heraus.

Weit brauchten wir nicht zu fahren. Die uns bezeichnete Schienenkreuzung und die Eisenbahnbrücke lagen dicht beieinander und so nahe an der Stadt, daß man die Fenster der äußersten Häuserreihe zu erkennen glaubte. War der vermaledeite Panzerzug uns so auf den Leib gerückt?

Ein Auto voll bewaffneter Arbeiter lag schon an der Brücke. Wir schufteten wie im Akkord. Die Gleise wurden zerstört, Schwellen zersägt und zersprengt, Telegraphenstangen umgelegt und Schotterhaufen aufgeworfen. Die Sachverständigen für Dynamit bohrten inzwischen die Brücke an. Sie hatten es ja in Frankreich, beim Rückzug im Jahre 1917, als ein viele Kilometer breiter Streifen in eine Wüste verwandelt wurde, gelernt. Eine hübsche Ladung müssen sie hineingepackt haben. Die Betonbrücke wurde von einer lauten Explosion zerrissen, und die Brocken flogen weit umher. Der Krach sang uns noch lange in den Ohren.

Wir lagen weit auseinandergezogen im Gestrüpp und warteten. Nachdem die Hindernisse so gründlich besorgt worden waren, hatten wir unsere Ruhe wiedergefunden. Panzerzug – das klingt nach mehr als es ist. Im Kriege waren es ziemlich überflüssige Möbel. Wir hatten uns vorgenommen, still im Versteck liegenzubleiben, bis der Panzerzug herankam und hielt. Er mußte ja halten oder entgleisen. Wenn dann die Weichtiere aus ihren harten Schalen herauskriechen würden, um sich die Bescherung anzusehen, dann wollten wir ihnen das Salz zur Suppe besorgen.

»Du, wenn sie aber Geschütze mithaben und von hier aus in die Stadt pflastern?«

»Mensch, wo wollen die denn hinhalten?«

»Was? Die Bande funkt in die Arbeiterviertel, denen ist alles egal ... Aber das sollen sie mal probieren! Was meinst du, wie schnell die aufhören, wenn wir sie merken lassen, daß für jeden Schuß, der in das Arbeiterviertel fällt, eine Villa brennt?«

Mit solchen erbaulichen Gesprächen vertrieben sich meine Kameraden die Zeit. Wir lagen auf dem feuchten Boden und hielten die Gewehre bereit.

»Wir haben genug Sprengstoff, um das ganze Nest in die Luft zu blasen.«

Ein fanatisches Feuer schlug aus den Augen des Sprechers. Ich erfuhr von ihm, daß er Familienvater und in seine vier Kinder vernarrt war. Aber aus ihm sprach der Soldat des Krieges und die Stimme der Vernichtung. Und ich wußte es: einer so geschulten Masse, einer derart vom Krieg noch nicht entlassenen Arbeiterschaft konnte auch ein Panzerzug nichts anhaben.

Wir warteten umsonst. Er kam gar nicht erst. Anfangs bildeten wir uns ein, er hätte unsere Sprengung gehört und wäre deshalb zurückgefahren, aber dann erfuhren wir, daß er schon weiter draußen aufgehalten worden war – von Eisenbahnern, die den Schienenweg aufgerissen hatten.

Da lag nun die schöne Brücke! Jetzt erst sahen wir nicht nur das Hindernis, sondern auch die Zerstörung.

»Macht nichts. Wer weiß, für was das gut ist.«

Damit war die Sache erledigt.

— — —

Gegen Abend lagen wir wieder auf unserem Stroh. Unser Quartier war im Parterre des Grand Hotels Kaiserhof, dem Ministerium direkt gegenüber.

Das Hotel und das Ministerium waren Mittelpunkte eines richtiggehenden Etappenbetriebs. Die »gemeinen« Soldaten der Revolution standen überall und jedem im Wege, zumal dem Kommissar für Lebensmittelverteilung und denen, die »sich gesund machen wollten«, den zärtlich geliebten Brüdern, die immer da sind, wenn es Sahne abzuschöpfen gibt.

Die Regierung tat das Dümmste, was sie tun konnte. Sie hatte wohl Angst, daß ihr da einiges über den Kopf zu wachsen drohte, denn sie hatte im Einverständnis mit den Arbeiterorganisationen Flugzettel drucken lassen:

Morgen Donnerstag Aufmarsch zur ehrenvollen Bestattung der Opfer des Putsches, aber übermorgen allgemeiner Wiederbeginn der Berufsarbeit ...

»Hast du den Wisch gelesen?«

Der Angesprochene kratzte seinen Suppenteller sauber:

»Arbeit? Erst mußte welche haben.«

»Wer zur Truppe eingestellt ist, hat Urlaub. Wiedereinstellung gesichert, sobald der Klamauk vorbei ist. Mensch, ist das nicht allerhand? Die Fabrikanten wollen noch mal so gut sein und ein Auge zudrücken. Unsere Regierung ist, weiß Gott, ihr Geld wert. Nee, die Faust muß sie den Brüdern unter die Nase halten ... Und was meinst du, was mal wird, wenn der Spaß vorbei ist? Bilde dir bloß keine Schwachheiten ein und denke, du bekämst mehr Lohn, weil du einmal eine Knarre in den Pfoten gehabt hast! Solange du sie hast, wirste respektiert. Aber nachher, Junge, Junge, da gehste aber schief ab.«

Ich hörte das eine Weile mit an. Was sollte ich dazu sagen?

Das Quartier war voll Lärm und Rauch. Auf der langen Tafel in der Mitte des Raumes lag schmutziges Geschirr. Maschinengewehre standen, mit einer Zeltbahn zugedeckt, nahe am Eingang. Die meisten vom Stoßtrupp hatten sich hingelegt, in ihren Anzügen, Stiefel an, wie im Feld die alarmbereiten Grabenbesatzungen. Aber sie schliefen noch nicht.

In einer Ecke war sogar eine Art Gesangverein entstanden. Die Gruppe sang im Liegen, und ich weiß nicht, wo sie den Text und die Melodie herhatte:

Mädel, heul nicht, heul nicht, Mädel!
Die Zeit, sie geht vorbei, vorbei.
Und lange dauert es ja nicht –
Zwei Wochen oder drei.

Mädel, heul nicht, heul nicht, Mädel!
Wir halten uns dazu, dazu.
Und wenn mich eine Kugel trifft,
Dann hat die Seele Ruh'.

Mädel, heul nicht, heul nicht, Mädel!
Dem Putsch, dem tun wir not, ja not.
Denn ohne uns, das glaube mir,
Da wär' kein Tag mehr rot.

Mädel, heul nicht, heul nicht, Mädel!
Die Welt, die dreht sich rund, ja rund.
Und alles kommt zu guter Letzt
Doch wieder auf den Hund.


 << zurück weiter >>