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XVII · Ein Luftkurort

Die Straße stieg hoch hinauf. In der Fichtenschonung auf der Nordseite lag noch der Schneerest eines langen Winters. Den höchsten Ort im Gebirge hatten die Aufständischen zum Schauplatz ihrer Rebellion gemacht. Es wurde finster, und die Dunkelheit des Nadelholzes wuchs zu schwarzen Kulissen empor.

»Halt! Wer da?«

Hinter dem Anruf spürte ich im Dunkel der Nacht die Nähe der Stadt. Ich war also am Ziel.

»Gut Freund«, antwortete ich aufs Geratewohl, und der kriegerische Auftritt machte mich lachen:

»Die Parole ist Rot.«

Zwei bewaffnete Arbeiter traten auf mich zu und beschnarchten mich, so gut und so schlecht das in der Finsternis möglich war. Ich kam mir vor wie der verlorene Sohn, der sich heimgefunden hat.

Die beiden wußten nicht viel mit meiner Heiterkeit anzufangen. Einer blieb auf Posten, der andere brachte mich zu ihrem Häuptling. Mit Glacéhandschuhen faßte er mich dabei nicht gerade an.

Ich hatte mich auf einen kochenden Vulkan vorbereitet, auf einen Anführer, der die plötzlich losbrechende Empörung dieser verzweifelten Ausgebeuteten personifizierte. Und wohin kam ich? An einen stillen Waldsee. Der Anblick, der sich mir bot, war überraschend genug.

Der Führer der Revolte, ein kleiner, stämmiger und schon älterer Arbeiter mit einem klugen Gesicht, der Vorsitzende der Parteiortsgruppe, Albert nannten sie ihn, saß mit drei Bewaffneten in der Ofenecke seiner Wohnstube, und alle vier stopften ein armseliges Abendbrot hinter und berieten sich dabei. Am Tische hockte die Familie und arbeitete. Der scharfe Geruch des Tabaks lag schwer in dem schmalen Raum. Ballen, wie sie von Übersee kamen, und Kisten mit sortierter Fertigware zwängten die Arbeitenden eng zusammen. Als ich eintrat, blickten die Leute von ihrer nächtlichen Beschäftigung auf und beugten sich dann wieder in den ärmlichen Lichtkreis der Lampe. Was ging es die Frauen und die Kinder an, was die Männer trieben? Die alte Mutter, die sich ihre von der Gicht gräßlich verbogenen Hände rieb, guckte unter ihrer Brille nach den Männern herüber, als wollte sie sagen: Alberne Kerle, morgen müßt ihr doch wieder arbeiten ...

»Hallo«, rief ich, um mir selbst wieder etwas Mut zu machen, »könnt ihr noch einen brauchen, der eine Knarre abzudrücken versteht? Ich bin stellungslos und habe die besten Zeugnisse.«

Mit solchen Geschichten konnte ich aber nicht groß imponieren. Ohne das Parteimitgliedsbuch und ohne den Namen meines Vaters wäre ich sicher nicht als trichinenfrei abgegangen. Nach einer halben Stunde lag ich wieder einmal auf Stroh zwischen alarmbereiten und bewaffneten Männern.

An Schlaf war nicht zu denken.

Viel Kram machten meine neuen Kameraden nicht mit mir. Ich war eben da, basta, einer mehr. Gegen den Morgen zu wurde ich muntergestoßen:

»Hier, eine Knarre. Zieh mit auf Posten.«

Die kleine Stadt kuschelte sich schläfrig in die Morgendämmerung. Am Rande des Ortes lag ein Gartenrestaurant aus roten Backsteinen, das sich stolz »Kurhaus« nannte. Ich war also in einem Kurort gelandet. Ausgezeichnet! Komisch war allerdings, daß die Menschen, die ich bisher hier gesehen hatte, nicht so ausschauten, als ob ihnen die Luft da oben gut bekäme.

Mein Postengefährte merkte beizeiten, daß ich nicht zu den Einheimischen gehörte, und das löste ihm die Zunge.

»Wie seid ihr eigentlich auf die Idee gekommen, plötzlich wild zu werden?« fragte ich ihn.

»Na, Mensch, das war doch nicht mehr schön hier! Da mußte ja das geduldigste Pferd einmal scheu werden ... Der Metzner, was der reichste Fabrikant am Orte ist, ihm gehört die größte Fabrik, und die schlechten Qualitäten läßt er bei soundso viel Heimarbeitern machen, kam von einer Rivierareise zurück und wollte die tausend Mark, die ihm der Spaß gekostet hatte, wahrscheinlich an uns rausschinden ...«

»Was, tausend Mark? Wie lange war er weg?«

»Sechs Wochen.«

»Und da soll er mit tausend Mark langen? Du bist ja gut! Seine Alte hatte er auch mit? Na höre mal, du hast wohl noch nie einen Tausender gesehen, weil du solchen Respekt vor ihm hast?«

»Ach, Kohl! Eintausend oder viertausend! Jedenfalls wollte der Gauner die Akkordsätze drücken. Organisiert sind hier kaum dreißig von hundert, aber uns packte die Wut, und wir schmissen ihm die Fenster seiner Villa ein. Am anderen Tag hatten wir Versammlung, und da schickte der Kerl seinen Chauffeur hin und ließ uns sagen, wenn wir morgen nicht zur Arbeit gingen, ließe er Reichswehr anrücken.«

»Allerhand! Das scheint eine schwere Marke zu sein«, warf ich dazwischen. »So schnell geht das ja schließlich doch nicht.« #

»Du wirst dich wundern! Die Metzners sind eine noble Familie. Einer von ihnen hat ein Rittergut drüben im Bayrischen, schimpft sich Freiherr und kümmert sich einen Dreck darum, daß sein halbes Vermögen regelrecht gemaust ist.«

Ich lachte: »Gemaust? Richtig gemaust?«

»Gemaust auf gute Räuberart! Der Großvater derer von Metzners hat seinerzeit ein Gefährt, das mehr als dreißig Säcke Hartgeld aus Holland nach Bayern brachte, eine große Erbschaft, auf die ein Dutzend arme Schlucker warteten, angehalten und das Geld auf seinen Karren umladen lassen. Er hatte dort die Gerichtsbarkeit und das Amtssiegel, und da konnten sich die Geprellten den Kopf einstoßen. Sie prozessierten, aber das kostete ihnen noch mehr Geld. Eines Tages wollten sich die Betrogenen ihr Geld und Gut mit Gewalt holen, aber da bekam der Metzner eine Kompanie Soldaten zu seinem persönlichen Schutz und als Geldschrankwache aufs Schloß gelegt. Das ist noch gar nicht so lange her ...«

Mittelalter! fuhr es mir durch den Kopf. War ich mit jedem Schritt von zu Hause fort jahrzehnteweit zurückgegangen? Was wissen wir Industriearbeiter mit unseren Organisationen, Zeitungen und politischen Vertretern von den Zuständen außerhalb unserer Tarifzone ...

»Weshalb sollte da der hiesige Metzner nicht Militär holen? Und richtig, gestern schoben sie ein Auto voll heran. Es waren keine ausgebildeten Soldaten, sicher bloß Zeitfreiwillige, denn als wir ihnen in der Schlucht auflauerten, ihr Auto kam den Berg nicht hoch, da ergaben sie sich ohne einen Schuß. Metzner verblühte anschließend und ließ nur seine Lakaien zurück.«

Das war alles sehr schön. Der Vorsitzende der Parteiortsgruppe hatte die Führung übernommen, er war sehr beliebt, aber was sollte nun geschehen? Sie wußten es selbst nicht.

Am Nachmittag kam Albert in unser Quartier.

»Wie denkst du dir die Fortsetzung?«

»Ich habe die Bezirksleitung angerufen, aber die hat selbst ihren Kopf voll.«

Natürlich, das war zu erwarten. Die Partei war nicht auf bewaffnete Aktionen eingerichtet. Dort wurde demobilisiert, hier flammten neue Konflikte auf. Niemand war da, der einen Sinn in das Durcheinander brachte.

»So wichtig nehmen sie uns in unserer Ecke nicht. Die Entscheidung fiele in den großen Städten und Industriebezirken.«

»Das mag sein. Aber eure Sache hat doch mit dem Putsch gar nichts mehr zu tun. Das ist doch ein Hungeraufstand, ein Lohnkampf mit Schießeiseneinlage.«

Albert machte ein unklares Gesicht. Er glaubte nicht an den Erfolg, sah bereits die Niederlage:

»Man muß eben sehen, was wird.«

Am andern Tag hatte ich ihn soweit, daß er das erbeutete Auto vorfahren ließ und mir drei Mann mitgab. Wir fuhren bis zum Abend und hielten bis zur völligen Finsternis am Rande meiner Heimatstadt. Ich mußte aufpassen, daß mich niemand erkannte. Den Tierbändiger suchte ich auf. Er war sofort bereit, und wir gingen los.

Den Schrebergarten, wo wir zwei Maschinengewehre eingesargt hatten, fanden wir auch im Dunkeln. Wir arbeiteten eine volle Stunde, bis wir die Maschinengewehr-Kisten und die Munition ausgebuddelt hatten. Das war für diese Nacht genug. Der Tierbändiger blieb bei uns.

Es dauerte keine zwei Tage, da hatte er das Kommando. Die gefangenen Zeitfreiwilligen mußten ihre Mäntel hergeben und konnten dann im Galopp verduften. Grimm kleidete seine Leute ein. Er ließ reichlich dreißig Mann antreten, die Unbewaffneten schickte er nach Hause. Was sollte er mit so vielen unnützen Fressern!

Unsere Fuhre sah gefährlich aus, aber wir bekamen nichts Ernsthaftes zu tun, trotzdem wir die ganze Zeit wie besessen durch die Gegend rammelten.

Wo der lange Grimm hinkam und seine Zähne zeigte, dort sprangen die Bürgermeister und die kleinen Fabrikanten, und wir brauchten keinen Hunger zu leiden. Wir schleppten auch manches mit in unseren Standort und verteilten es, und der Tierbändiger wurde populär. Ganz geheuer war mir der Rummel nicht, aber was nicht ist, konnte ja noch werden.

Eines Tages sprach sich ein Gerücht bis zu uns durch, wir sollten uns nur einmal in der nächsten größeren Stadt sehen lassen – ein Amtsgericht war dort und andere Behörden, und die Beamten hatten eine Art Heimwehr zusammengetrommelt und mit den Angstgeldern der Industriellen ausstaffiert –, wir sollten nur riskieren, uns sehen zu lassen, sie wollten uns gehörig heimleuchten.

Jeder war froh, daß endlich etwas wie ein Daseinszweck zu spüren war. Der Tierbändiger lud auf, soviel der Wagen faßte, und dann rollten wir aus unserer Sommerfrische heraus, die steilen Kurven abwärts.

Grimm saß neben mir:

»In Westdeutschland gibt es noch lange keine Ruhe. Bei uns schlafen die Arbeiter. Vielleicht bringen wir sie munter.«


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