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Als die Luft nicht mehr eisenhaltig war, kamen unsere Minister zurück. Sie hatten sich auf Veranlassung der Parteileitung in Nachbarorten und bei Bekannten versteckt, und sie übernahmen jetzt wieder die Regierungsgeschäfte. In den oberen Räumen des Ministeriums wurden nur die Gefangenen erster Klasse gelassen; alle anderen, auch die gestern im Rathaus untergebrachten Soldaten, mußten in die Kaserne. Lagerkommandant dieser vollgestopften Gefangenenanstalt wurde Dr. Schilling. Es fehlte eben an – führenden Persönlichkeiten.
Das Volksblatt erschien wieder. Viel Gescheites hatte es nicht zu berichten. Überall saßen noch Putschregierungen. Das Militär hielt die Straßen, Eisenbahnen und Telephonverbindungen in seiner Faust. Aber trotzdem erfuhren wir, daß es in vielen Städten zu Straßenkämpfen gekommen war.
Nur wenige Bahnkilometer von uns entfernt saßen starke Garnisonen. Wir mußten damit rechnen, daß diese mit den Putschisten sympathisierten und, sobald sie die Hände frei hatten, heranrückten, um uns Mores beizubringen. Die Regierung ging deshalb schleunigst an die Aufstellung einer Truppe, und die Partei und die Gewerkschaften halfen ihr dabei. Viel Mühe machte das nicht. Waffen und Munition waren genug da, und der Soldat steckte den meisten noch in den Knochen.
Es wurde natürlich nicht exerziert. Zu solchem Unfug war keine Zeit. Die Disziplin war sehr lose. Aber die Hauptsache blieb schließlich, daß Gruppen und Kompanien eingeteilt waren, Maschinengewehrabteilungen und Wachformationen, und daß mit dem Tag- und Nachtdienst abgewechselt werden sollte. Das Oberkommando übernahm einer von unseren Ministern, der nie Soldat gewesen war, der nie einen Schuß abgegeben hatte und kein Blut sehen konnte, der Genosse Paschke, Bruno nannten wir ihn bloß, ein Mann, der gerne den Diktator spielte. Aber er machte seine Sache tadellos, dieser kleine Trotzki!
Er war es auch, der auf den Gedanken kam, sofort einen Stoßtrupp I zu bilden. Ich hatte gerade einen kurzen Sprung zu meiner Mutter getan und war ins Regierungsgebäude zurückgekommen, um meinen Vater zu suchen, der die ganze Nacht über Sitzungen gehabt hatte und überhaupt für etliche Tage im Parteibüro oder im Ministerium bleiben mußte. Bruno erwischte mich und zog mich zu sich ins Zimmer:
»Du bekommst ein Lastauto und einen tüchtigen Fahrer. Wenn du unterwegs Benzin oder irgend etwas brauchst, hier hast du einen Block mit dem Stempel der Landesregierung. Dann beschlagnahmst du einfach, was du nötig hast. Auch Lebensmittel für deine Leute. Du suchst dir vier Mann aus, die ein schweres, vier, die ein leichtes Maschinengewehr oder beide bedienen können; weiter vier Pioniere, die sprengen können und so weiter. Jeder von euch hat außerdem einen Karabiner oder ein Gewehr. Ihr nehmt auch eine Kiste Handgranaten mit. Wenn du noch Platz auf dem Wagen hast, kannst du noch drei oder vier Leute aufladen, möglichst einen darunter, der den Chauffeur ersetzen kann. In einer Stunde sehe ich mir an, was du zusammengestellt hast ... Der Wagen steht schon im Vorhof. Ein strammer Fabriklastkraftwagen ... Übrigens, wenn einmal etwas Besonderes los ist, kannst du noch einen Wagen dazunehmen. Auf jeden Wagen zwei Maschinengewehre. Und genug Munition ... So, hol dir recht tüchtige Kerle heran. Wir kriegen Arbeit.«
Die Sache machte mir Spaß. Ich hatte sofort die richtige Rotte beieinander. Der lange Grimm war mit dabei, natürlich, und Morgenstern, der Karafiol, noch zwei aus der »Eremitage«, und die anderen kannte ich kaum dem Gesicht nach. Außer uns fünf Mann aus der Schule bestand der Stoßtrupp I aus Arbeitslosen, sogar ein paar »Eckensteher« waren dabei – du weißt ja, sogenannte zweifelhafte Elemente. Alle hatten den frisch-fröhlichen Krieg mitgemacht, sahen so aus, als ob sie imstande wären, das Oberste nach unten zu kehren, und bewiesen bald, daß sie in den vier Jahren »großer Zeit« etwas gelernt hatten.
Ehe die Stunde um war, kam anstatt unseres »obersten Kriegsherrn« ein Posten und bestellte mich zu Paschke. Wir bekamen den ersten Auftrag.
In Unterlamnitz, etwa drei Fahrstunden entfernt, sollte eine Einwohnerwehr existieren, eine bewaffnete Bauerngruppe. Denen sollten wir die Schießprügel abnehmen und die Munition. – Der Landarbeiter, der die Nachricht gebracht hatte, stand noch, die Mütze schüchtern in den Händen, im Zimmer des Ministers und erzählte, gestern abend hätten die bewaffneten Bauern die Straße besetzt gehalten.
Also los!
Wir hatten erst noch eine kleine Debatte mit Hans, der uns absolut auf seinem Schimmel vorausreiten wollte, »um aufzuklären«. Mir war diese romantische Soldatenspielerei zuwider, aber den anderen gefiel das Theater, und so fuhren wir ab, und Hans ritt uns stolz voran. Wahrscheinlich sah unser Aufzug sehr malerisch aus, denn die Menschen auf den Straßen staunten uns an, und die Spießer spannten groß hinter ihren Gardinen hervor.
Der schwere Wagen schüttelte uns hübsch durcheinander. Es war kalt, und wir hatten vor lauter Eile vergessen, etwas für die Mittagszeit mitzunehmen. Aber schließlich hatte ich ja meinen Block mit dem hübschen Regierungsstempel. Nach zwei Stunden hielten wir vor einem großen Bauernhof – ich weiß nicht mehr, wie das Kaff hieß – und verlangten zu essen. Wir bekamen Brote und Würste, konnten unsere gestempelten Zettel behalten, und die Bauern waren froh, als wir weiterrollten.
Gegen zwei Uhr nachmittags erreichten wir Unterlamnitz. Die ersten kleinen Häuslerbudiken ließen wir liegen und hielten vor einem größeren Hof. Vier, fünf Mann sprangen vom Wagen und holten den Besitzer aus seinem Bau. Wo er sein Gewehr hätte, wer noch in dem Schießprügel verein wäre?! Er verstand sehr schnell, als er beim Kragen genommen und zu uns auf das Auto gestellt wurde. Die – Gewehre – die seien – im »Grünen Baum« – im Wirtshaus ...
Es war eine glänzende Einrichtung. Die Gewehre waren tatsächlich im Wirtshaus. In einem Vereinszimmer stand der Gewehrschrank, die Wirtin fand vor Schreck den Schlüssel nicht, wir bekamen aber die Kiste trotzdem auf, und dann hatten wir vierzehn Infanteriegewehre, neuestes Modell, hübsch eingefettet, und an jedem hing ein kleiner Pappstreifen mit dem Namen des Eigentümers.
Dieser schöne Anfang unserer Stoßtrupparbeit machte uns lustig. Wir luden die Beute auf den Wagen, ließen uns von den Bauern, deren Namen uns die Pappanhänger verraten hatten, die zu den Gewehren gehörige Munition geben, und alles ging wie geschmiert. Die Matzer hatten wohl nicht daran gedacht, daß wir so schnell zu Besuch kämen.
Wir wollten eben aufbrechen, als mein Blick auf den ausgeräumten Gewehrschrank fiel. An der Stirnleiste stand in unbeholfen gemalten Buchstaben: Gestiftet von Herrn Rittmeister Günther von Lamnitz.
»Wer ist das – ?«.
Die Wirtin starrte mich an.
»Wer ist der edle Stifter ... ein Rittmeister?«
»Ach su, das is der Harre, drum ufm Barge ...«
»Der Herr, droben – ach, der Rittergutsbesitzer? Holla! Fertigmachen! Den besuchen wir! Halt, haben Sie ein Telephon? Ja? Ist weiter keins im Dorfe? Auch im Gemeindeamt nicht? Na schön. Da bleiben also zwei Mann hier, Hans mit, und passen auf das Telephon auf, damit uns niemand anmeldet ... Los!«
Das Lastauto stampfte den Berg hinan. Ich fluchte. Bei dem Lärm mußten wir bemerkt werden. Der Vogel war sicher ausgeflogen.
Wir stiegen vom Wagen, damit er die steile Straße bezwingen konnte. Das Rittergut lag wie ein altes Schloß mit festen Mauern und einem Turm auf der Höhe. Schließlich hatte es der laut krachende Motor geschafft. Wir schwenkten in die breite Einfahrt und hielten mitten auf dem Gutshof. Sechs Mann blieben bei den Maschinengewehren, die anderen flitzten vom Wagen.
Ich rannte aufs Geratewohl in das Herrenhaus, eine Treppe hinauf. Vom Hof her hörte ich Gebrüll: Fenster zu, oder wir schießen!
Auf der Treppe stand eine Frau und hielt sich erschrocken am Geländer fest. Trotz der Eile, mit der ich an ihr vorbeirannte, mußte ich an ein Bild von Botticelli denken, das mich einmal in einer Galerie bezaubert hatte. Das blasse Antlitz mit den erstaunten und erschrockenen Augen und einem etwas breiten aber schön gezeichneten Mund war mädchenhaft. Da war ich aber schon an ihr vorbei und an der ersten Tür des Korridors. Ein Fußtritt, ich stand in einem Schlafzimmer.
In Wirklichkeit ging natürlich alles viel schneller, als ich es hier erzählen kann.
Im Bett lag der Rittmeister, den ich bis dahin noch nicht gesehen hatte, der aber sofort als der »Harre« zu erkennen war. Er lag im Bett, hielt ein Mittagsschläfchen, und über dem Kopfende an der Wand hing schräg am Lederriemen ein Infanteriegewehr.
Mit der Linken riß ich das Gewehr herunter, mit der Rechten drückte ich meine Pistole dem Schläfer ins Gesicht, und ein wenig habe ich wohl dazu gebrüllt.
Jedenfalls war es genug Lärm, um zehn festschlafende Rittergutsbesitzer aufzuwecken.
Der Mann im Bett riß die Augen auf – Guten Morgen, Herr Rittmeister! – und ich dachte, er stirbt mir unter den Händen weg, so blaß wurde er, als er in meine Augen und in die Mündung meiner Pistole blickte. Es war etwas plötzlich, dieses Aufwachen, das mag wohl sein.
Ich trat zurück, ließ ihn aufstehen und sich ankleiden. Sein Gewehr hielt ich schußbereit. Es war geladen und entsichert. Also hatte unser Freund doch mit einem Überfall gerechnet. Daß wir so voreilig waren, konnte er ja nicht ahnen.
Inzwischen war einer von den Stoßtruppleuten ins Zimmer gekommen, und wie ich mich kurz nach ihm umdrehte, sah ich den Botticelli-Engel im Türrahmen stehen und große Augen machen. Die Frau konnte vierundzwanzig, sie konnte aber auch bereits dreißig Jahre sein ... Wahrscheinlich ein Mädchen ...
Der Neid muß es dem Rittmeister lassen, er faßte sich schnell. Wie er seine Jacke zuknöpfte, knurrte er mich an:
»Wissen Sie, daß das Hausfriedensbruch ist? Ich erhebe feierlich gegen Ihre Maßnahmen Einspruch.«
Toll, was? Ich lachte und hob zwei Finger an den Mützenrand:
»Ich nehme feierlich davon Kenntnis ... Aber jetzt ein bissel hoppla! Schränke und Kommoden auf! Packen Sie gefälligst Ihre Donnerbüchsen aus!«
Der Rittergutsbesitzer stand da, als ob er nicht deutsch verstünde. Erst als ich ihm freundlich sagte, es käme mir gar nicht darauf an, seine schönen Schränke zu demolieren, holte er langsam die Schlüssel hervor und schloß auf. Da lagen die gesuchten Lieblinge! Etliche Pistolen, zwei Jagdgewehre und vier Infanteriegewehre, an jedem wieder ein Zettel mit Namen, sicher von Knechten. Und zufällig kamen mir auch Papiere in die Hände, aus denen ich erst ersah, daß ich in die Höhle des Löwen geraten war: Rittmeister von Lamnitz, Putschhäuptling und beinahe Ministerpräsident!
»Alter Freund, mach dich reisefertig! Du bist verhaftet!«
Weiß der Teufel, hatte der Mann jetzt erst ausgeschlafen oder wollte er seiner blonden Zuschauerin etwas vormachen – er packte plötzlich das Gewehr, das ich in der Hand hatte, und entriß es mir. Ehe ich wußte, was ich tat, war ich ihm an den Hals gesprungen und hatte ihm den Schaft meiner Pistole in die Augen gestoßen. Das half. Und außerdem stand ja auch der Stoßtruppmann, der die entdeckten Waffen fortgebracht hatte, wieder im Zimmer und hielt den Finger am Gewehrabzug.
Ich war aber doch in Wut geraten:
»Hände hoch – und lebhaft, runter mit dir! Und hier, bitte, ein Sitzplatz auf unserem Luxus-Mercedes!«
Wir waren wieder vollzählig. Weil er nicht umlenken konnte, fuhr der Chauffeur eine Ehrenrunde um den Hof. Ein paar Knechte und Mägde standen wie vom Donner gerührt, die Botticellifee staunte, und dann stänkerten wir zum Tore hinaus.
Die Unterlamnitzer sahen eine Viertelstunde später den Himmel ihrer ewig weitervererbten Vorstellungen einstürzen, unsere Leute stiegen zu uns auf den Wagen, Hans der Schimmelreiter trabte vor uns her. Mit lichtlosen Augen blickte der Gefangene in die langsam vorbeigleitende Landschaft.