Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XIII · Das Puppchen

Alle Wohnhäuser und Scheunen des Dorfes waren überfüllt von Soldaten. Die Offiziere hatten sich im Wirtshaus einquartiert. Als der Stoßtrupp die Gaststube bezog und seine Futtermittel auspackte, als wäre er hier zu Hause, verdrückten sich die Herren in die oberen Räume.

Siebzehn Mann bewachten ein Bataillon. Ein Bataillon, das ein Drittel seiner Waffen behalten hatte, also reichlich genug, um den Stoßtrupp in Klumpen zu schießen. Aufgepaßt, Junge, sonst sind die siebzehn Mann Gefangene des Bataillons!

Ich trat auf die Straße und sah mir die Bescherung an. Die Truppe faßte warmes Essen aus der Gulaschkanone. In einem Hofe hielt ein Unteroffizier die Reserveläufe der vier Maschinengewehre, neben denen noch die Putzlappen der soeben beendeten Reinigung lagen, gegen das Licht. Die Bande hatte also noch vier M.-G.s ... Ich ging in unser Quartier zurück, ließ acht Mann und den Chauffeur dort – Grimm bekam das Kommando über diese Abteilung und unseren Wagen mit den beiden Maschinengewehren – und die übrigen sieben zogen mit mir in den Bauernhof, wo die vier frischgeputzten Maschinengewehre standen und auf uns warteten. Man konnte ja nie wissen!

Dunkelheit verwischte die Landschaft. Kommandos ertönten, Pferde wurden in Stallungen geführt, Stroh herbeischleppende Soldaten rannten hin und her.

Frechheit, steh mir bei! Ich setzte mich zu der Gruppe Grimm in die Gaststube, und der Tierbändiger trat an die Treppe zum oberen Stock und brüllte:

»Die Herren Offiziere bitte!«

Theater muß sein. Die Herren kamen, ohne den Major, blieben erstaunt an der Tür stehen, einige mit wütenden, einige mit ironischen Gesichtern. Wahrscheinlich sah ich nicht gerade wie ein Engel aus, ich war seit etlichen Tagen unrasiert und ungewaschen. Na schön, ich tat, als sähe ich ihr Grinsen nicht, blieb mit gleichgültiger Ruhe sitzen und markierte den Gewaltigen:

»Meine Herren, Sie sind mir dafür verantwortlich, daß folgender Befehl ausgeführt wird: In einer halben Stunde ist vollkommene Bettruhe. Niemand betritt die Straße. Niemand verläßt sein Quartier. Es wird ohne Anruf geschossen. Die Ortseinwohner werden ebenfalls benachrichtigt.«

Den Offizieren war das Grinsen vergangen. Nur einer – der Kerl erinnerte mich sofort an einen Offizierstellvertreter meiner Rekrutenzeit, der das Maul nie auftat, ohne eine Sauerei auszuspucken – zeigte ein freches Pferdegebiß:

»Und wenn nun mal einer sch ... muß?«

Ich fühlte, wie Ekel und Haß mein Gesicht verzerrten:

»Dann – sch ... er eben in die Stube. – Sie können gehen.«

— — —

Mit dem Tierbändiger verabredete ich, daß er, sobald etwa der Teufel losginge, die über ihm kampierenden Offiziere unschädlich machen sollte.

»Handgranaten?«

»Wie du denkst. Und dann raus mit unserem Wagen und losgeknattert!«

»Und du?«

»Ich habe ja vier Maschinengewehre. Wenn es ganz schlimm wird, schlage ich die Dinger kaputt ... Zwei Posten. Alle halben Stunden wird abgelöst ...«

Beinahe hätte ich ihm Gute Nacht gewünscht.

An Schlaf war nicht zu denken. Die von Wache Kommenden legten sich für kurze Zeit nieder, wachten aber von selbst immer wieder auf. In der Bauernstube kam die Müdigkeit über mich. Draußen aber war die kühle Nacht und machte munter. Der Mond flog wie der zerbrochene Heiligenschein eines entthronten Apostels durch die zerrissenen Schleier der Wolken. Eine Wetterfahne knarrte, Pferde schnaubten in den Ställen, und die Schritte unserer Posten traten auf den Schlaf des Dorfes.

Gegen den Morgen zu nickte auch ich etwas ein. Schließlich waren die Soldaten froh, endlich einmal langliegen zu können ...

Der Tag war noch blaß und verschlafen, als die Quartiere lebendig wurden. Brunnenschwengel kreischten, Soldaten in Hemdsärmeln plätscherten im Wascheimer, der Koch schwenkte seine Gulaschkanone voll Wasser für den Morgenkaffee ... Auch wir machten Toilette. Was sollte nun noch geschehen?

Ein älterer Unteroffizier trat zu mir:

»Ich habe ja allerhand im Felde erlebt. Aber wie ihr draufgegangen seid ...«

Wir lächelten beide über das Kompliment.

»Und geschossen habt ihr wie Preisschützen. Ein Auto von uns habt ihr richtig drin gehabt, und der Leutnant, der vorn saß, ist schön zugerichtet.«

»Wo warst du im Feld?«

Der Unteroffizier zuckte die Achseln:

»An der Westfront von Verdun bis Ypern. Mal hier, mal dort. Wo es dicke Luft gab ... Warum?«

»Weil ich denke, dann müßtest du es satt haben und nicht mehr beim Kommiß herumlaufen.«

»Das schon. Aber was willst du machen, wenn du keine Arbeit hast ... Wer hätte denn gedacht, daß wir in so einen Schlamassel hineingeraten? Im ganzen Bataillon sind keine dreißig Mann, denen das Spaß macht. Und dann die vielen jungen Kerle! Wenn die jetzt gefragt würden, ob sie heimwollten – ein Brot unterm Arm und die Fahrkarte – dann hätte das Reich ein Bataillon Soldaten weniger ... und ein Bataillon Erwerbslose mehr.«

Ich fragte nicht, weshalb sie dann ihren Offizieren den Krempel nicht hinschmissen, denn das wußte ich, wie der Drill drinsteckt. Man mußte sich beim Militär ja selber in acht nehmen, daß man nicht zum Trottel wurde. Wenn einer nicht von Natur aus ein Meuterer war, konnte es ihm passieren, daß er nach der Entlassung aus dem Heere vor seinem ersten Arbeitgeber noch die Hacken zusammenriß. So wollten sie uns ja haben. Schuldisziplin, Lehrzeit, Fortbildungsschule, Vaterländischer Turnverein, Militärzeit, Fabrikarbeit, Reservediensteinlage – ein ewiges Antreten und Stillgestanden! Der Putsch war nichts anderes als ein Versuch, diese Sorte göttliche Weltordnung wieder in Schwung zu bringen.

– – – Es wurde acht Uhr, ehe Bruno kam. Wo hatte er seine Begleiter, die uns ablösen sollten?

»Wir konnten niemand auftreiben. Der Stoßtrupp bringt die Truppe am besten fort von hier. Das ist das einfachste.«

Das ist das einfachste ... Ein goldiger Kerl! Ich hätte ihn am liebsten stehenlassen. Aber wir hatten Zuschauer, und denen durften wir keine Schwachheit zeigen.

»Du fährst mit deinem Stoßtrupp voraus. Ihr nehmt eine Fahne mit, damit die umherstreifenden Arbeiter anderer Orte sehen, daß ihr Gefangene transportiert. Und die Reichswehr wird keine Zicken bauen.«

Er sagte mir noch, welchen Weg wir einschlagen sollten, wo die Truppe abends sein müßte, um verladen zu werden, und wünschte uns viel Glück.

»Danke. Aber dann ist Feierabend für diesmal.«

Bis dahin hatte es aber noch gute Weile.

Eine Fahne sollten wir mitführen? Eine weiße – ausgeschlossen. Und eine rote? Bruno meinte, wir brauchten ja die Reichswehr nicht gerade zu reizen ... Der Tierbändiger fand wieder einmal den Ausweg. Er brachte ein weißes Bettlaken mit einem großen Blutfleck. Der schwerverwundete Leutnant aus dem kaputtgeschossenen Auto hatte auf diesem Tuch gelegen, bis er von unserem Krankenauto abgeholt worden war. Grimm fand eine Stange, band das solide Laken mit dem roten Blutzeichen fest und pflanzte die Fahne auf das Stoßtruppauto.

Bruno spendierte jedem von uns Zigaretten und Schokolade – als Sonntagszulage – und verblühte. Wir setzten uns an die Spitze der Karawane und fuhren im Schritt los. Ostwärts.

Bis kurz nach Mittag ging alles tadellos. Wir hatten unsere beiden M.-G.s schußfertig, hockten auf unserer Rumpelkiste und stopften uns den Rest der fetten Herrlichkeiten von gestern abend in den Hals. Ab und zu wurde haltgemacht, die Truppe lagerte eine Weile am Straßenrand, und dann ging es weiter. Wir hatten mächtig viel Zuschauer. Wenn wir durch einen Ort kamen, hieß es hinten: Singen! Die Soldatenlieder sollten darüber hinwegtäuschen, daß hier Gefangene marschierten. Ein Drittel hatte ja noch die Waffen, die Mannschaften mußten den Stahlhelm tragen, die Feldküche rauchte, und die Offiziere saßen gleich hinter dem Stoßtruppauto in einem kleinen Viersitzer, den wir das »Puppchen« nannten – es war ein seltsames Bild. Und es kann wohl sein, daß mancher unter den Zaungästen dieses Schauspiels nicht klug daraus wurde. Es fehlte bloß noch, daß Hans seinen Gaul herangeholt hätte, um der Karawane wie ein Häuptling voranzureiten.

In diese Gegend war ich noch nicht gekommen. Wir zogen ein Flußtal entlang, wo sich reiche Bauerndörfer mit armen, grauen Fabriknestern ablösten. Sonntagsspaziergänger begleiteten uns ein Stück.

Die völlige Ruhe hatte mich einnicken lassen, denn plötzlich jagte mich der Stoß des ebenfalls noch halbdösigen Karafiol auf: »Du, Karl, dort!«

Das »Puppchen« mit den Offizieren schwänzelte bereits etliche Meter vor dem Stoßtruppauto.

Ich kam schnell zu mir, brüllte:

»Maschinengewehr! Visier siebenhundert! Doppelstrich –«

Weißt du, das Kommando bei anreitender Kavallerie. Auf Doppelstrich folgt noch: Dauerfeuer! und dann geht die Knallerei mit weitstreuender Geschoßgarbe los ... Die Offiziere verstanden deutsch, und das »Puppchen« schwenkte kleinlaut auf seinen Platz zurück. Ich hütete mich, die Wirkung durch einen Anschnauzer zu schmälern, und außerdem hatte ich jetzt erst gesehen, daß beide Maschinengewehre ja nach hinten standen und daß wir also im Ernstfall gar nicht dazu gekommen wären, das »Puppchen« festzunageln. Der Tierbändiger, der ebenfalls von einem Nickerchen aufgefahren war, las mir die Situation an den Augen ab und schob feixend die Zunge an die Oberlippe.

»Du«, sagte er, und mir kam es vor, als erzählte er, um sich und uns munter zu halten, »mit diesem Doppelstrich Dauerfeuer habe ich einmal einen Spaß erlebt ... Wir lagen in den Argonnen und hatten schweren Schliff. Drei Tage waren wir vorn, drei hinten – in Ruhe. Aber die Ruhe gönnte man uns nicht. Wir wären vielleicht auf Gedanken gekommen. Gleich am ersten Tag hinten ging das Exerzieren los. Ein Unteroffizier Sachse ließ uns über eine Waldwiese säbeln, als wären wir Rekruten und als ob die Front nicht laut genug herüberbumste. Wenn ihm nichts mehr einfiel, brüllte er mitten zwischen Linksschwenkt und Halbrechts sein blödes: Von links anreitende Kavallerie!, und die Richtschützen hatten dann die Knarre herumzureißen und zu rufen: Visier siebenhundert, Doppelstrich Dauerfeuer! Das war gut eingelernt, wurde aber nie gebraucht. Und wenn es gebraucht worden wäre, dann hätte es nicht geklappt ... Eines schönen Tages hatten wir so viel Verluste, daß unser Freund Sachse mit vormußte. Er war lange nicht im Dreck gewesen, und richtig, ausgerechnet er kam mit uns in einen Feuerüberfall. Uns war das nichts Neues. Aber er verlor seine Nerven und schrie: Maschinengewehrkompanie – oder bloß Emgeka! –, rette sich wer kann, wir sind verloren! ... Lange war Sachse nicht vorn. Er hatte Beziehungen nach hinten. Eine Woche später stenzte er uns wieder über die Waldwiese. Unser Alter ritt gelangweilt am Waldrand hin und her. Da schreit der Kerl: Von links anreitende Kavallerie! Und ehe einer von uns die Litanei weiterbeten konnte, hatte ich es heraus: Emgeka, rette sich wer kann, wir sind verloren! – Das gab ein Gelächter, denn die ganze Kompanie wußte doch von der Heldentat. Der Alte kam auf seinem Gaul herübergeschaukelt und fragte den Nächsten, weshalb er lache. Der prustete heraus: Der Grimm hat einen Witz gemacht. Jetzt war ich an der Reihe und erzählte. Da drehte sich der Alte auf seinem Ziegenbock herum und verbiß ein Lachen. Nach einer Woche waren wir den Sachse los.«

War das nicht ein großartiger Bursche, unser Tierbändiger?

Viel Zeit hatten wir aber nicht, den Faden weiterzuspinnen. Die Straße lag in zahllosen Kurven zwischen Wald und Hügel, und wir hatten nicht die geringste Übersicht über den Zug. Das mochte auch einigen Stänkern unter den Soldaten gefallen. Als wir hielten, weil wir glaubten, daß die Unruhe entstanden sei aus Mangel an einer Ruhepause, wurden uns verbissene Gesichter gezeigt, und einige riskierten sogar unverschämte Zurufe.

Hallo! Hier hieß es aufpassen!

Ich schickte Grimm mit sechs Mann vom Auto, damit sie sich auf die im Zuge fahrenden Wagen verteilten. Jeder hatte außer seiner Waffe etliche Handgranaten mit, die er, falls er das geringste merkte, unter die Soldaten pflastern sollte. Die erste Handgranate mußte für alle das Signal sein, die Dinger abzuziehen und zu werfen. Dann sollten sie querfeldein davonsausen, denn wir wollten nun mit den M.-G.s dazwischenfunken. Die Sippschaft sollte schon merken, daß wir von guten Eltern waren!

Unsere nicht mißzuverstehende Drohung genügte. Wenigstens vorläufig. Bald mußten wir ja auch am Ziele sein.

Es wurde aber doch Abend. Und jetzt ging ein neuer Tanz los. Wir hatten ein großes Dorf erreicht, den letzten Ort vor der Eisenbahnstation, wo die Truppe verladen werden sollte. Mit der Finsternis nahm die Frechheit der Offiziere zu. Sie erklärten, die Mannschaften seien nicht mehr fähig, weiterzumarschieren, und ließen die Abteilungen wegtreten, »ins Quartier«. Der Stoßtrupp war machtlos. Das Licht des Tages färbte nur noch den Himmel, im Dorf saß die Dunkelheit. Sollten wir uns treiben lassen oder losknallen?

In diesem kritischen Augenblick wurde es plötzlich still auf der Straße. Die Soldaten, die soeben noch wie bei einem Alarm umhergetanzt waren, blieben stehen und lauschten. Auch der Stoßtrupp spitzte die Ohren.

Marschschritte klopften. Gleichmäßig, ruhig, fest. Was ist das? So marschiert nur eine straff disziplinierte Truppe ...

»Abteilung – halt!«

Ein Ruck, der Marschrhythmus stockte.

»Gewehr – ab!«

Uns wurde allmählich schwül. Waren wir in eine Sackgasse gerannt? Neue Truppen?

Eine zweite Abteilung marschierte aus der Dunkelheit heran. Genau so schneidig. Rufe wurden laut:

»Wo ist der Stoßtrupp?«

Ich ging hin. Zwei Handgranaten in der Faust. Fast wäre ich dem, der gerade zum zweitenmal rief: »Wo ist der Stoßtrupp?«, um den Hals gefallen. Es waren Arbeiterbataillone, die Wind bekommen hatten.

Sie entwaffneten die vor soviel Schneid und Disziplin kapitulierende Reichswehr völlig und lachten nur, wenn die Offiziere auf ihren Zweidrittelvertrag pochten.

Das hatte Bruno gut gemacht!

»Vertrag?« rief der Genosse, der unsere Freunde herangeführt hatte, den Offizieren zu, »Vertrag? Der ist uns soviel wert wie euch euer Eid auf die Verfassung!«

Der Stoßtrupp lenkte sein Auto heimwärts.

Eine lange Woche war zu Ende.


 << zurück weiter >>