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II · Das Schlachtenpotpourri

Wie gegenwärtig mir das alles wieder ist! Es ist mir, als höre ich die Glocke wieder, die zum Mittagessen rief. Das Portal der Vorhalle flog auf, und Heinrich, der Spaßvogel der Schule, stand mit halberhobenen Fäusten, die den Revolveranschlag markieren sollten, auf der Schwelle und brüllte: »Hände hoch!«

Ein verdammter Spaß!

Von den Hungrigen und Eiligen, die bereits vor dem Ausgabefenster der Küche standen – es war Sonntag, und das Internat der Schule erlaubte den Ausgang –, fuhren etliche herum. Gestern war Reichswehr n die Stadt eingerückt, hatte die seit Monaten leerstehende Kaserne, das Rathaus, das Ministerium, die Bahnhöfe, die Post, das Volkshaus, die Volksblattdruckerei und die Betriebe des Konsumvereins besetzt, und es war nicht ausgeschlossen, daß die Bajonette auch vor der »Eremitage« aufmarschierten, um der in dem früheren herzoglichen Parkschloß untergebrachten sozialistischen Volkshochschule für Mitteldeutschland eine Lektion über das Thema »Macht und Recht« zu geben. Zweiundvierzig Genossen waren wir. Die meisten waren seit dem Kriegsende nie wieder richtig in die Arbeit hineingekommen, und sie mußten sich das Schulgeld zusammenfechten. Viel kostete es ja nicht. Aber wir versprachen uns sehr viel von dieser Schule. Der Krieg hatte uns doch aus allem herausgebracht Mein Vater war Parteisekretär in dem Bezirk, der eigentlich diese Schule trug, und so kam ich im letzten Augenblick – ich hatte mich sehr spät gemeldet – noch in den ersten Kursus, der vier Monate dauern sollte. Er war kaum mehr als eine Pleite. Aber ich will der Reihe nach erzählen.

Ich habe sehr oft an diese Zeit gedacht. Daher erinnere ich mich genau an viele Einzelheiten. Es kann sein, daß die Erinnerung manches anders geformt hat. Aber ich halte mich an die Dinge, die ich selbst erlebt habe ...

Der über seine Narrenspossen fröhlich Grinsende, der nur zur Mahlzeit von seinem heimlichen Stadtbummel zurückgekehrt war, schob sich unter den Andrang am Ausgabefenster und klopfte mir auf die Schulter:

»Du, Wunderlich, deinen Vater haben sie verhaftet.«

Als ob das zu melden ein tolles Vergnügen wäre. Ich habe wohl ein erschrockenes Gesicht gemacht, denn dem anderen flog plötzlich das letzte Lächeln fort:

»Ja. Ich hörte es. Jetzt eben.«

Eine Weile stand ich unschlüssig. Der Atem stieß mir an die zusammengepreßten Lippen. Und dann ging ich aus dem Schweigen der Gruppe durch die Halle, hinauf in die Wohnetage.

Trotz der offenen Fenster stand der Geruch von Betten im Schlafsaal. Draußen war März, die Wälder auf den Hügeln hatten noch die schweigsamen Farben des Winters, und der Fluß lag schmal in der struppigen Einfassung der Uferbäume. Auf der Landstraße ging ein einsamer Mann langsam der Ferne zu, die nicht viel mehr war als eine blasse Ahnung von schöngeschwungenen Bergen.

Es saß sich so gut an diesen Fenstern, ein Buch auf dem Sockel. Und es saß sich gut in den Lehrsälen, in den früheren Gesellschaftsräumen des kleinen und längst vergessenen Schlosses, das erst im Kriege wieder als Lazarett Dienst tat, bis es schließlich von der Revolutionsregierung als Hochschule eingerichtet wurde, in deren Schulbänke und Internat wir eingerückt waren, ein wenig lächelnd und verlegen. Noch keine zwei Monate bestand die Schule, und es waren allerhand Kinderkrankheiten durchzumachen. Die Theorie eines neuen Schulsystems verlor fast täglich eine von ihren schillernden Schwanzfedern. Schülerrat und Lehrerrat lieferten sich lebhafte Kanonaden, und alles in dem Bewußtsein, daß mit jeder eine neue Epoche der Weltgeschichte beginnt. Und manchmal schien es, als ob weder die richtigen Lehrer noch die richtigen Schüler beieinander wären.

Trotzdem stürzte das Ende der Schule – denn das bedeutete der Putsch – überraschend herein. Ich ertappte mich dabei, wie ich vor meinem Wandschrank stand und in das Durcheinander der Kleider und Geräte und meiner Gedanken starrte. Ich zog mich schnell an, schloß ab und stieg die breite Treppe hinab. Die Tür zum Lehrsaal stand offen, die große Karte für die erste Unterrichtsstunde am Montag – Geopolitik – hing bereits hinter dem Katheder, alles war menschenleer, und unten in der Halle bewegte sich das Geräusch des gemeinsamen Mittagessens.

Von einem der dicht besetzten Tische erhob sich Morgenstern, mein Nachbar auf der Schulbank:

»Du willst in die Stadt? Willst wohl mit verhaftet werden?«

»Was denn!« antwortete ich. »Mich kennt keiner. Ich habe doch noch keine Rolle gespielt.«

Ich ging dann über den knirschenden Kies des Gartenweges, durch die zum Schloß gehörige Meierei, und erst auf der Chaussee schlug ich ein lebhaftes Tempo an. Die breite, sonst so laute Straße war auffällig still. An der Endstation der Straßenbahn erfuhr ich, daß noch kein einziger Wagen gefahren wurde.

Die Stadt war noch ruhiger als sonst. Fahrzeuge schien es überhaupt nicht zu geben. Es war, als wäre die Zeit um einige Jahrzehnte zurückgedreht worden und als ob die Industrie noch nicht in diese kleinbürgerliche Residenzstadt, in diese gute Stube des früheren Herzogtums, eingebrochen wäre. Und wahrhaftig! Ein besonders tüchtiger Bäckermeister war gerade dabei, sein altes, doch sichtlich gut erhaltenes Firmenschild »Hoflieferant« wieder aufzuhängen – heute am Sonntag. Besondere Situationen rechtfertigen eben besondere Maßnahmen.

Überall war Feiertagsstimmung und ungetrübte Beschaulichkeit. Es hat nie einen Krieg und eine Revolution gegeben. Der alte Herzog saß auf seinem Schlosse über der Stadt wie ein Feuerwächter. So war es, und so sollte es ewig bleiben. Gestern ein Putsch, eine gestürzte Regierung? Wer hätte gedacht, daß die Wiederherstellung gesitteter Zustände eine so spielend einfache Sache ist!

Wie von einem Spuk genarrt ging ich durch die Stadt. Alles kam mir wie Kulisse vor. Und jetzt spielte auch die Musik! Ich bog um die Marktecke und hätte fast laut gelacht. Platzmusik! Auf dem Marktplatz, am alten Simsonbrunnen, stand der Kreis der musizierenden Soldaten. Die Reichswehr hatte wohl selbst nicht damit gerechnet, daß sie innerhalb der ersten vierundzwanzig Stunden ihrer ersten weltgeschichtlichen Leistung Sonntagsmarktmusik zu stellen hätte; die Musikanten mußten erst aus der Kaserne geholt werden, weshalb das Freikonzert mit einer Stunde Verspätung begann. Um so dichter war die Zuschauermenge geworden. Alle Bürgersteige waren besetzt, die Sechzehnjährigen trugen ihre Pubertät spazieren, die hellgrünen Mützen des Gymnasiums pendelten durch das Spalier der sonntäglichen Trachtenschau, ganz nahe um die Musikanten standen die Liebhaber des lauten Schalles, und der schneidige Dirigent tat ihnen den Gefallen: aus dem fröhlich glänzenden Metall holte er mit Eleganz Schlachtgebraus und Donnerhall.

Ein Drahtverhau aus durcheinandergeworfenen spanischen Reitern grenzte einen schmalen Streifen vor dem Rathaus ab. Zwei Maschinengewehre standen dahinter, den Patronengurt im Gebiß. Aber die Bedienungsmannschaften plauderten über den Drahtzaun herüber mit unternehmungslustigen Mädchen und ließen sich von einigen Fabrikantensöhnen, die an diesem Tage ihre Leutnantsuniformen wieder ausgepackt hatten, Zigaretten schenken und spendeten den wiederauferstandenen Offizieren und Rittern des Eisernen Kreuzes mindestens erster Klasse dafür das lang entbehrte Vergnügen, mit zusammengeschlagenen Stiefelabsätzen gegrüßt zu werden.

»Mensch, was machst denn du hier?«

Ein Genosse aus der Partei, ein Hilfsarbeiter aus der Volksblattdruckerei, schaute um sich, als ob ein Dutzend Spitzel in der Nähe wäre.

»Du willst dich wohl auch wegschnappen lassen?«

Ich wehrte ab und fragte, ob denn nichts unternommen würde. Er zuckte die Achseln und winkte mit dem Kopfe nach der Gruppe der neu aufgebügelten Offiziere hinüber:

»Der Lange dort, Meschke junior, feine Marke, war draußen mein Kompanieführer, schiß in die Hosen bei jeder Granate, auch wenn es eine von uns war. Und jetzt ... sowas von Heldentum! – Was meinste? Morgen? Generalstreik oder so. Wird nicht viel werden. Mit unseren Proleten hier kannste doch sowieso keinen Blumentopp gewinnen.«

Rauschend erhob sich die Musik. Das Schlachtenpotpourri erreichte seine größte Klangfülle. Walküren und der alte Blücher, Lützows wilde verwegene Jagd und alle Schlachtengötter der deutschen Geschichte vereinigten sich zu einer schmetternden Attacke, und dann riß der Kapellmeister die Kurve herum zum »Niederländischen Dankgebet«. Ich sehe ihn noch, wie er, im Finale schwelgend, hinaufblickte nach der Rathausuhr, die mit gleichgültiger Ruhe die erste Stunde des Nachmittags anzeigte und ihm mit ihren dumpfen Schlägen die letzte musikalische Szene umschmiß ...

Auch in den Arbeitervierteln schlief die sonntägliche Langeweile. Der langsam hin und her gehende Posten am Haupteingang des ausgestorbenen Volkshauses trug sein Gewehr lässig über die Schulter gehängt. Er machte den Eindruck eines Mannes, der soeben gut gegessen hat und nun froh ist, sich etwas Bewegung verschaffen zu können. Im Zustand der Verdauung denkt niemand an Feindseligkeiten.

Verzweifelt und verwirrt stieg ich die Treppen zur Wohnung meiner Eltern hinan. Die blankgescheuerten Steinstufen waren von vielen Stiefeln beschmutzt, und das Schild an der Tür war zerbrochen. Die kleinen Porzellanbrocken lagen auf der Schwelle.

Meine Mutter öffnete mir. Ihr Gesicht war etwas blasser und straffer als sonst, und ich fragte rasch:

»Der Vater? Verhaftet?«

Ein seltsames Licht trat in die Augen meiner Mutter:

»Noch nicht.«

Fünf Minuten vor dem Eintreffen der Sölden war der Vater gegangen. Die Kerle hatten die Wohnung durchsucht, hatten ein altes Bild – eine symbolisch aufgeputzte Freiheitsgöttin neben einem Amboß und vor einer volksumjubelten großartig aufgehenden Sonne – mit einem Kolbenhieb zerstört, das war alles.

Ich mußte lachen. Das Bild hatte mich schon immer gestört.

Erst sollte ich es nicht erfahren, wo mein Vater Zuflucht gesucht hatte. Aber nach einer halben Stunde klopfte ich an die Tür eines Genossen, der in der inneren Stadt wohnt. Erschrockene Gesichter mißbilligten meinen Auftritt.

Mein Vater blickte groß auf. Sein Antlitz war beherrscht, nur die Augen brannten. Ich erfuhr, daß es sehr einfach war, sich zu verstecken. Kein Mensch hielt ihn auf. Die Soldaten waren sämtlich ortsfremd.

»Wie sieht es in der Stadt aus?«

»Platzmusik und Spaziergänger«, schimpfte ich los. »Nicht einmal die Ruhe vor dem Sturm, eher die Ruhe nach dem Essen.«

»Es ist eben Sonntag«, gab er mir zur Antwort und ließ eine Bemerkung fallen, daß morgen wohl mehr los wäre. Ich erfuhr aber nichts weiter. Als ich mich aufregte: »Wenn wir nur wollten! Diese Suppengarde! Ob von denen einer im Felde war? Du müßtest bloß sehen, wie die ihre Maschinengewehre aufgestellt haben«, zog mich mein Vater zu sich hin, und ich mußte ihm versprechen, »keine Geschichten« zu machen und wieder in die Schule zu gehen.

Dann war ich wieder draußen. Die Straße hatte sich belebt. Spaziergänger gingen die Soldaten angucken. Aber der vor einer Stunde noch so friedliche Marktplatz sah jetzt anders aus. Die Neugierigen drängten sich an den Ecken der Zugangsstraßen. Der Platz war leer gefegt. Maschinengewehre kauerten sprungbereit. Posten standen in ihren Mänteln steif und klumpig unter dem schlechtsitzenden Stahlhelm. Mitten in der Marktstraße war ein Pfahl ins Pflaster gerammt, der herausgenommene Stein lag noch daneben, und der Pfahl trug eine schief beschriebene Pappe:

»Wer weitergeht, wird erschossen!«

»Du, was ist denn da auf einmal los?« Mir ist es, als höre ich die aufgeregte und doch halb amüsierte Stimme im Zuschauerspalier jetzt noch. »Das sieht ja aus, als ob es noch etwas gibt.«

»Klar.« Die antwortende Stimme konstatierte das mit ruhiger Bestimmtheit. »Dicke Luft!«


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