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Wunderlich drückte seinen Handballen an die Eisplatte, die ein Fenster sein sollte, um ein Stück aufzutauen. Die Erinnerung an das Putscherlebnis hatte ihn stark erregt. Er stand auf, schritt in dem engen Holzkäfig des stöhnenden Abteils ein paarmal auf und ab, und ich hatte das Gefühl, daß er sich zwar meiner Gegenwart bewußt war, daß ich ihm aber nicht mehr bedeutete als der Zeitungsleser dem Verfasser eines Artikels. Ich war sein Publikum, das Parterre vor seiner Szene. Und ich blieb in dieser stummen Zuschauerrolle.
Der Eintritt des Kontrollbeamten, der das Billett Karls kurz beäugte und zurückgab, störte den unsichtbaren Kontakt zwischen Darstellung und Aufnahme für einige Minuten. Mein Freund lehnte sich zurück, und im Ausdruck seines Gesichts fand ich die Überlegung, ob es sich lohne, die Erzählung in der begonnenen Weise fortzusetzen.
Von der Lokomotive unseres Zuges, die nur wenige Wagenlängen von uns entfernt war – ich hatte, der Wärme nachkriechend, einen möglichst vorderen Wagen bevorzugt –, hörte man das explosive Keuchen der äußersten Anstrengung. Ein aufheulendes Signal flog wie ein vom Wind entführtes Lebewesen über uns hin. Dann war nur noch der wiegende Zwiegesang der Räder und Schienen. Und Wunderlich begann wieder.
Ich habe vorhin vergessen, etwas zu erwähnen.
Wie wir später, bei der Vernehmung gefangener Offiziere, erfuhren, haben die Putschisten einen Versuch gemacht, den alten Herzog für ihren Klamauk zu interessieren.
Es war besonders der Reichswehrmajor Grube, einer von den typischen politisch bornierten Offizieren, der darauf bestand, daß der »Landesherr« der Sache seinen geheiligten Stempel aufdrücke. Am frühen Morgen nach dem Putschsonntag fuhren etliche Offiziere aufs Schloß, unter ihnen der Syndikus der Textilindustriellen, Miller heißt er, in der Uniform eines Kapitänleutnants, der Rittergutsbesitzer von Lamnitz und der zeitfreiwillige Hauptmann Meschke, der den tipp-toppen Sechssitzer, in dem die Herren saßen, aus dem Benzinstall seines Papas geholt und in den Dienst des Vaterlandes gestellt hatte.
Der alte Herzog soll ihnen die kalte Schulter gezeigt haben. Was sollte er sich auch die Pfötchen verbrennen! Die Revolution hatte ihm nur ein paar kleine Schlösser, die er sowieso nicht mehr brauchte, abgenommen und ihn dafür von dem lästigen Zwang entbunden, so zu tun, als ob er keine Zeit hätte, müde zu sein. Er genoß seinen Reichtum und ging lieber auf die Auerhahnjagd als zu vaterländischen Denkmalsfeiern. Weshalb sollte er sich auch anstrengen? Sein einziger Sohn war nicht ganz richtig im Kopfe und hatte von der Bildfläche verschwinden müssen, seit er einmal, und zwar noch zur Regierungszeit seines Vaters, aus Vergnügen über das devote Aufstehen des Publikums bei dem Erscheinen der herzoglichen Familie in der gekrönten Loge des Hoftheaters, seinen zukünftigen Untertanen die Zunge herausgesteckt hatte.
Also, es lohnte sich für dieses sowieso aussterbende Haus nicht, einen Putsch zu garnieren, von dem es zwar hieß, daß er das ganze Reich erfaßt habe und daß die alte Ordnung überall ohne viel Scherereien Platz genommen hätte, aber man konnte ja nie wissen ... Der Alte war schlau genug, auf das Ersuchen, einen Ministerpräsidenten vorzuschlagen, seinem Jagdkumpan, dem Rittmeister von Lamnitz, anheimzustellen, den Posten auf eigenes Risiko zu übernehmen; später wollte er seine nachträgliche und huldvolle Genehmigung nicht verweigern.
Der Kapitänleutnant der Textilindustriellen soll auf der Heimfahrt – der Waschlappen Meschke erzählte bei seiner Vernehmung mehr als wir wissen wollten – mächtig gespuckt haben. Er hatte nämlich den famosen Plan ausgeheckt, zwei Rote aus dem gestürzten und flüchtigen Ministerium mit in das Kabinett der Putschregierung zu übernehmen. Der Gauner hatte sich zwei Prachtexemplare ausgesucht: den Meinerling, eine Lakaiennatur, und den vollbärtigen Langert, der Gedichte machte und deshalb das Kultusministerium bekommen sollte. Der andere sollte Ernährungsminister werden, in einer Zeit, in der es nichts zu futtern gab. In zwei Wochen wäre er unbeliebt gewesen, und dem mehr poetischen als politischen Kopf die Unfähigkeit nachzuweisen, wäre den reaktionären Demagogen gewiß nicht schwer gefallen. Erst einmal aber sollten die beiden als Aushängeschild dienen und Verwirrung in die organisierte Arbeiterschaft tragen. Zu diesen Strohpuppen ein vom »Landesvater« ernannter Ministerpräsident – das mußte doch ziehen!
Außerdem hatte der pensionierte Monarch die Erfüllung des »vom vaterländisch gesinnten Teil der Bevölkerung« geäußerten Wunsches abgelehnt, die Fahne auf dem Turm des Schlosses hissen zu lassen und so dem Putsch die Billigung der von Gott eingesetzten Obrigkeit auszudrücken. Wahrscheinlich wußte der Alte von dem Gruß, mit dem die Arbeiter der Stadt das Aufziehen der Schloßflagge, das Zeichen der durchlauchtigsten Anwesenheit, quittierten: Der Lappen hängt haußen, der Lump ist da ...
Jedenfalls muß die frühe und verfrühte Audienz wie eine kalte Brause auf die Strategen des Putsches gewirkt haben. Sie jagten in ihr Hauptquartier zurück und hatten gerade noch Zeit, sich auf ihre beiden Festungen, das Rathaus und das Regierungsgebäude, zu verteilen.
Denn jetzt wurde es ernst.
— — —
Am Morgen waren die Proletarier zur Arbeit gegangen, und es war ein Montagsanfang wie immer. Aus den Fabrikschornsteinen zog der Rauch, die breiten Einfahrten verschluckten den grauen Massentakt, schweigsam wie immer bückten sich die Arbeiter unter der Last ihres Daseins.
Eine übernächtig fröstelnde Wache am Tor des größten Textilbetriebs der Stadt wurde kaum beachtet, und die stumme Gleichgültigkeit der Menge ermutigte die Soldaten, den vorübergehenden jungen Arbeiterinnen einige harmlose und dumme Scherzworte zuzurufen.
Gegen dreiviertel neun Uhr fingen plötzlich die Fabriksirenen ein höllisches Konzert an. Das schrille Signal wurde im lauten Donner der Websäle, im Lärm der Metallfabriken, in den Werkstätten und in den Büros gehört und verstanden. Kaum eine Viertelstunde später waren die Arbeiter auf den Straßen. Die Wache blieb verdutzt und überflüssig auf dem leergewordenen Fabrikhof zurück.
Die Arbeiter formierten keine Züge. Ich sehe dieses Bild wieder deutlich vor mir, obwohl ich erst später von all den Geschehnissen hörte. Sie drängten sich auf den Trottoiren vorwärts; einige von den Jungen liefen, um schneller an die Spitze zu kommen, am Rand der Straße. Ein unsichtbarer Führer dirigierte den grauen, langsam fließenden Strom nach dem Markt und dem Platz vor dem Ministerium, die nur durch einen schmalen Häuserblock getrennt sind. Bei dem Posten mit der drohenden Warnungstafel: »Wer weitergeht, wird erschossen!« blieben die ersten stehen. Wenige Augenblicke später schob sich aus drei Straßen eine zögernde, aber unaufhörlich gedrängte Masse auf die beiden Plätze.
Das Geräusch vieler Menschen wurde von dem Häuserviereck des Marktes wie von einem Resonanzboden verstärkt. Die Posten mußten zurückweichen, um nicht »eingewickelt« zu werden. Alles ging sehr ruhig und ohne Hast vor sich, und die am weitesten Vorgeschobenen zeigten den von ihnen bedrängten Soldaten ein beinahe verlegenes Lächeln: Wie du siehst, es geht nicht anders, auch ich werde geschoben.
In dem schmalen Streifen zwischen Rathaus und Drahtverhau rannte ein Leutnant hin und her. Er zog alle Posten hinter den Verhau zurück, ließ die Soldaten an die spanischen Reiter treten, das Gewehr bei Fuß, und die Maschinengewehre in knienden Anschlag bringen. Die Soldaten blickten mit starren Augen in einen Abgrund, der sich plötzlich vor ihnen aufgetan hatte.
Aus dem Portal des Rathauses stürzten Miller und sein Schatten, Meschke junior, und der Kapitänleutnant schnauzte den Reichswehroffizier an:
»Wollen Sie gefälligst den Platz räumen lassen! Wer hat Sie zum Leutnant gemacht, Menschenskind!«
Ohne eine Wirkung seiner Worte abzuwarten, schrie er in das Antlitz der Menge:
»Zurück! Platz frei!«
Die Stirnwand der Masse geriet ins Wanken. Aber sie blieb vor dem Verhau.
»Platz frei! Oder ich schieße!« Der Reichswehrleutnant rief es, und vor Aufregung überschlug sich seine Stimme.
Einige in der Masse lachten. Andere ahmten den hochgeschnappten Ton mit Übertreibung nach und wiederholten das Vergnügen, vom belustigten Beifall ihrer Umgebung angespornt. Die scharfe Kommandostimme ließ die Gewehre in Anschlag gehen. In dieser Sekunde knatterte ein Maschinengewehr drüben vom Ministerium los, hämmerte einen kurzen Takt, stoppte und begann das abgerissene Hämmern von neuem.
Diese Schüsse waren es, die ich während des Unterrichts in der »Eremitage« gehört hatte ...
Das menschengefüllte Bassin des Marktes erzitterte wie unter einem Windstoß. Ein wütendes Drängen und Schieben bewegte die Menschenflut, und der alte Simsonbrunnen lag wie eine Insel im kochenden Element, eine steinerne Insel mit einer blankgescheuerten Simsonfigur, die einem schwanzwedelnden Löwen mit gelangweilter Bewegung den Rachen aufreist. Plötzlich sahen die einem Maschinengewehr am weitesten Zugeschobenen, wie ein Mann in der Lederjacke eines Chauffeurs eine Armeepistole aus der Seitentasche zog, den Finger am Abzug – sie wichen zurück – da krachte der Schuß, und der Gewehrführer neben dem Maschinengewehr schrie kurz auf und riß seine blutende rechte Hand empor.
Niemand wußte genau, was dann geschah. Der blutige Schrei ließ die Gewehre losgehen. In stotternden Folgen peitschten die Schüsse in das auf brüllende Gewühl. Rasend vor Angst sprangen Frauen hoch, als wollten sie über die Köpfe ihrer Umgebung hinwegsetzen. Die kriegserfahrenen Männer warfen sich auf das Pflaster neben die Getroffenen, und alle stöhnten.
Dieses Stöhnen war schrecklich.
Und neues Maschinengewehrfeuer hämmerte drüben auf den Häuserblock am Ministerium los.
Die Mitte des Marktplatzes war leer. Viele hatten sich hinter die steinerne Umfassung des Brunnens geflüchtet und hockten dort, und das Herz klopfte ihnen, als wollte es zerspringen. Fluchend polterten andere an die verschlossenen Türen der Häuser, und in die Seitenstraßen ergoß sich eine wild schreiende Menge. Wieder ratterten die Maschinengewehre. Diesmal über die Köpfe hinweg. »Zur Nachhilfe.« Von den Geschoßeinschlägen spritzte es an der gegenüberliegenden Häuserfront auf, als ob dort verborgene Schützen feuerten. Die Soldaten sahen den trügerischen Mörtelstaub auffliegen, rissen die Gewehre an die Backe und beschossen die Fenster, bis der Kapitänleutnant ihnen zuschrie, sie sollten mit ihrer Munition sparen.
Vor dem Drahtverhau lagen zwölf Verletzte und vier Tote. Blutige Lachen blieben zurück, wenn sich ein Verwundeter wimmernd weiterwälzte. Einer richtete sich halb auf und verschwendete seine letzte Kraft in einem Schrei. Es muß furchtbar gewesen sein.
Die Soldaten räumten einige spanische Reiter weg und trugen die Verwundeten und die Toten in das Rathaus. Diese Pause nützte der hinter dem Brunnen hockende Haufen und rannte wie wahnsinnig nach der rettenden Seitenstraße.
In den Zugangsstraßen zum Markt stand die Menge, lautlos – auf was wartete sie? Waffenlos, führerlos, angeschossen – was wollte sie noch? An den Ecken zum Marktplatz lagen junge Burschen flach auf dem Bauch und spähten mit brennenden Augen nach den Soldaten. So standen sie auch in den Straßen um das Ministerium, hilflos und in dumpfer Wut. Tote und Verwundete hatten sie zurückgelassen, und noch immer spien die Fenster des Ministeriums Feuer, als wollte das Hauptquartier der Truppe beweisen, was es sich leisten könne ...
Als die Verstärkung von der Kaserne kam, verschwand die Menge schreiend in den Nebengassen. Die Truppe bog in die leere Marktstraße ein, das erste Auto, voll Soldaten, mitten auf der Straße ... Sie konnten ja nicht ahnen, daß wir ein Maschinengewehr hatten. Und dann ließ ich den ersten Gurt laufen.