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Die Leidenschaft des Wanderns war wieder über mich gekommen. Sie hatte mich früher, vor dem Kriege, auf den alten Stromerstraßen vorwärtsgetrieben, über die rauschenden Wipfelberge des Schwarzwaldes, durch die Schweiz, nach Italien hinunter bis zu den drei Feuerbergen des Mittelmeeres, hinüber nach Griechenland und in den Vorhof des Orients. Ich lernte damals die selbstverständliche Solidarität der Proletarier dieser Länder kennen, ihre Gastfreundschaft, ihre Fürsorge. Es war manchmal, als ob eine große Familie über den ganzen Kontinent verteilt ist. Der Krieg hat vieles zerstört, auch etwas von dieser Brüderlichkeit. Und so schlug ich mir den Plan, die altbekannten Wege zu wandern, aus dem Sinn. Ich war nicht mehr so jung wie damals, ich fürchtete mich, das von der Erinnerung in Gold gefaßte Bild dieser romantischen Wanderschaft zu zerstören. Ziellos wollte ich sein, diesmal wollte ich mich treiben lassen, mit vollen Segeln, aber ohne Steuer, und im grünen Gewoge der mitteldeutschen Wälder tauchte ich unter.
Wenn ich allein wandere, bin ich erst voll Unrast und sehe nichts als die ewige Lockung der Ferne. Plötzlich verliebe ich mich in die Nähe, jede Baumgruppe entzückt mich, die gemurmelte Litanei eines Quellwassers löscht alle anderen Geräusche aus, und ich kann halbe Tage lang unter dem leisen Schwanken windbewegter Kiefernwipfel liegen. Nur die Nächte suchen die menschliche Nachbarschaft.
Es tat mir wohl, einmal nur mir anzugehören. Ich wich den Städten aus, und die Dörfer waren nur Quartiere der kurzen Nächte. Försterwege und Waldschneisen führten mich abseits von den großen Straßen in die grüne Einsamkeit, und ich verlor das Maß der Zeit und die Bürde der Erinnerung. – So kam ich in die Nähe der böhmischen Grenze.
Ich war dem tiefen Bett eines von Wehr zu Wehr rauschenden Flusses entstiegen, und vor mir lag die uferlose Freiheit einer weiten Hügellandschaft. Unter einer großen Linde saß ich, die wie ein Markierungszeichen an der höchsten Stelle der Landstraße thronte, und eine große Sehnsucht kam über mich, eine Sehnsucht, die mich stets überfällt, wenn ein Gebirge seine blaue Linie an den Horizont zeichnet.
»Das ist wohl das Erzgebirge?«
Ein Mann hatte neben mir auf der Bank Platz genommen, und ihn fragte ich.
Er ließ die erhobene Hand einen Halbkreis beschreiben:
»Ja, ganz draußen, das ist das Erzgebirge. Ein paar Berge davon. Da drüben ist dann schon Böhmen, die Tschechoslowakei, wie sie jetzt sagen. Hier, mehr nach rechts, ist die sächsisch-bayrische Grenze, und diese Straße kommt aus dem Thüringischen.«
Die Landschaft hatte plötzlich ein anderes Gesicht. Wogende Hügelketten wurden wie von einem scharfen Messer zerschnitten. Wäldergruppen standen sich wie feindliche Nachbarn gegenüber. Ich sah mir meinen neuen Bekannten von der Seite an. Er fühlte die Frage, und da die Leute in dieser Gegend mitteilsam sind, erfuhr ich das Woher und Wohin und noch mehr.
Er kam aus Leipzig, hatte dort Geigen verkauft und wollte nun wieder nach Hause. Der Händler in seinem Ort zahlt wenig, und deshalb wollte er einmal versuchen, seine Geigen ohne Zwischenhändler zu verkaufen, in Leipzig, wo die Leute so sündhaft viel Geld für die Instrumente ausgeben sollen. Aber er hatte kein Glück. Niemand wollte seine Geigen haben, bis er schließlich spät in der Nacht seine Ware los wurde, für so wenig Geld, daß er die Nacht auf dem Bahnhof zugebracht hatte, ein Stück mit der Bahn gefahren war und letzt zu Fuß weiterging, bloß um ein paar armselige Groschen heimzubringen. Und da mußte er auch noch aufpassen, daß der Zwischenhändler nichts von der Sache erfuhr, sonst nahm der ihm keine Arbeit mehr ab.
Wir gingen zusammen weiter. Er wollte vor der Dunkelheit zu Hause sein.
»Was ich an einer Geige verdiene? Sieben bis acht Mark zahlt der Händler. Das ist aber für alles, für das Material, für Licht und Heizung, dafür wohne ich, dafür brauche ich Werkzeug. Alles abgerechnet, bleiben mir zwei Mark fünfzig. Im Laden in der Stadt kostet das Instrument ohne Kasten und ohne Bogen vierzig Mark. Und dabei bin ich auch noch ein tüchtiger Arbeiter, und meine Geigen werden gern gekauft.«
»Gibt es noch viele Geigenbauer in dieser Gegend?«
»In unserem Orte ganze vier. Mit uns geht es zu Ende ... Ob wir eine Organisation haben oder eine Produktivgenossenschaft? Die können uns auch nicht helfen. Die Händler sind in ihrer Organisation und wissen warum. Uns bleibt nur der Strick oder – auf nach Amerika!«
Das ausgemergelte Gesicht des kleinen Mannes zuckte:
»Hinhauen sollte man den ganzen Bettel! Aber weshalb habe ich dann gelernt und gehungert? Ich verarbeite gutes rumänisches Holz, meine Geigen sind bekannt, aber vorige Woche habe ich den letzten Gehilfen fortgeschickt, der wöchentlich seine zwölf Mark fünfzig und die Kost haben will und sie ja auch verdient, aber wo soll ich das Geld hernehmen? Bald kommt der Sommer, das Geschäft geht noch schlechter, und die Händler drücken dann die Preise noch mehr.«
Ich ging schweigend neben soviel Elend her. Eine Geschichte fiel mir ein, die ich einmal als Kind gelesen hatte. Eine Geschichte von einem Geigenbauer, der in seiner stillen Werkstatt sitzt und Wundergeigen baut, indem er die Geister der Nacht einfängt und sie in seinen Instrumenten gefangen setzt, wo sie zu klagen und zu schluchzen beginnen, sobald der Bogen die Saiten berührt. Ach, in dieser Geschichte stand nichts von den Löhnen und den Zwischenhändlern. Und die Geister der Nacht verwandelten sich in blasse Wirklichkeit:
»An manchen Tagen arbeite ich vierzehn Stunden. Aber was hat man davon? Ich habe noch nicht einmal ein richtiges Konzert gehört ...«
»Gibt es denn keine andere Arbeit?«
»Ja, Bogenmacher vielleicht? Mein Schwager ist Bogenmacher. Er hat eine Drehbank mit Kraftbetrieb, seine Frau arbeitet mit, er selbst ist ein tüchtiger und geschickter Mensch. Wenn sie beide täglich zwölf Stunden schuften, bringen sie in einer Woche zwei Dutzend Violinenbogen fertig und haben damit fünfundzwanzig Mark verdient. Rechnen Sie fünf Mark Betriebskosten ab, dann sind das zwanzig Mark, vorausgesetzt, daß sie der Händler bezahlt.«
Mein Begleiter musterte mich, als fürchte er sich, mehr zu sagen. Wir kamen durch einen Ort, niedrige Häuser säumten die enge Straße ein, Fabriken saßen breit und häßlich in der Talsenke. Gab es hier keine Arbeiterschaft, keine Organisationen?
»Na, die Hungerleider erst! Vor ein paar Jahren waren sie alle noch Muschler, Perlmutterarbeiter, und viele saßen in einer eigenen Werkstatt. Wenn auch schon früher keiner von ihnen reich geworden ist, heute ist es mit der Heimarbeit erst recht vorbei! Da ist mancher, der mit Frau und Kindern bis in die späte Nacht hinein gearbeitet hat, weil es ihm etwas einbrachte, der heute aber froh ist, wenn er arbeitsunfähig geschrieben wird und pro Tag ein paar Groschen Krankengeld bekommt, mehr als mancher verdient. Ja, früher, da kamen sie sogar aus dem Bayrischen herüber! Aber eines Tages wurden die Löhne herabgedrückt. Die Arbeiter ließen es sich gefallen, und innerhalb von drei Jahren war ein Satz von fünfundsiebzig Pfennig auf fünfzehn Pfennig herunter ... Die Muschler, es sind nicht mehr viele, haben sich jetzt organisiert, aber an der Schwindsucht sterben sie trotzdem noch.«
Ein vorsichtiger Blick suchte nach meiner Meinung. Ich wollte mehr hören und pflichtete schon deshalb bei:
»Je kleiner die Ziffern auf den Lohnbeuteln, um so größer die Ziffern auf den Tabellen der Krankenhäuser.«
Wir überquerten einen fast städtischen Platz, gingen an einer protzigen Kirche und an einem Gefängnis vorbei, und ich dachte an das, was ich gehört hatte, an die Dinge, die sich nicht aus der Welt schaffen lassen, wenn die Kirchen noch protziger dahocken und wenn die Fenster der Gefängnisse noch fester vergittert sind – die sich nicht aus der Welt wegträumen lassen, so sehr man sich auch in die Einsamkeit der Wälder verkriechen mag und den Menschen und ihren gesellschaftlichen Zuständen aus dem Wege gehen möchte. Ich war also wieder auf der Erde gelandet:
»Und wie lange wollt ihr euch das noch gefallen lassen?«
Eine ganze Weile blieb ich ohne Antwort. Erst als wir wieder die Landstraße unter uns hatten, sprach der Mann neben mir vor sich hin:
»Sie haben gut reden, Sie kennen die Gegend hier nicht. Wo anders haben die Arbeiter ihre Verbände. Bei uns ist alles schief gegangen. Uns hilft niemand mehr.«
Die Traurigkeit des beginnenden Abends machte mich stumm. Müdigkeit steckte mich an.
»Gibt es in Ihrem Ort eine Übernachtung?«
Mein Begleiter blieb stehen:
»Wohin wollen Sie eigentlich?«
Was ich zu antworten wußte, gefiel ihm nicht. Die Furcht ganzer unterdrückter Generationen stand in seinen Augen.
»Das Wirtshaus ist Ihnen zu teuer? Vielleicht kriege ich Sie bei der Lina unter. Der ihr Mann ist gefallen. Sie hat ein Bett frei.«
Es war Nacht, als wir ankamen. Die Frau war noch bei der Arbeit. Eine Haarzieherin hat keinen Achtstundentag. Sie saß gebückt an dem einzigen Tisch der Wohnung und bündelte genau hundertfünfunddreißig Roßhaare zu einem Bogenstrang. Für ein Dutzend solcher Stränge wurden zwölf Pfennig gezahlt, zwölf Pfennig für eine Stunde Arbeit. In zehn Stunden hatte die Frau eine Mark verdient, in einer Woche aus siebzig Arbeitsstunden sieben Mark. Das kleine Übernachtungsgeld ließ sich mitnehmen. Mein Bett stand in der Arbeitsstube.
Ich war ausgezogen, einen Strahl von den blauen Sternen der Romantik zu fangen, und was hielt ich jetzt zwischen meinen Fingern? Ein gebleichtes Roßhaar, hundertfünfunddreißig Stück zu bündeln – ein Pfennig ... Das Haar der Frau, die keine Zeit hatte, sich nach dem späten Gast umzudrehen, war so bleich und leblos wie das Haarbündel auf dem Tisch.
In was für ein Jammertal war ich gekommen? Hieß es nicht, die Sklaverei wäre abgeschafft? Hatten die deutschen Arbeiter eine Revolution gemacht? Saßen in diesen trostlosen Heimarbeiterdörfern nur Heloten?
Drei Bilder an der Stirnwand des Zimmers gaben mir Antwort: Das kolorierte Soldatenbild des gefallenen Mannes, ein aus Perlen auf Leinwand gestickter frommer Spruch und das Brustbild Kaiser Wilhelms des Zweiten ...
Am anderen Morgen beschloß ich, einen Tag zu bleiben. Ich besuchte meinen Bekannten von gestern. In seiner Werkstatt saß ich, unter Girlanden von Geigen, unter diesen Instrumenten, deren graziöse Form durch eine Jahrhunderte alte Tradition geheiligt ist. Der Mann hantierte mit den leicht gerundeten Böden und Decken, und die Frau half ihm, die Zierader rings um den Rand zu legen. In einem Wäschekorb auf dem Arbeitstisch spielte das Kind mit seinen Zehen. Wir setzten das gestrige Gespräch fort, und nicht der Himmel, sondern die niedrige Decke hing voller Geigen, und es war nicht eine darunter, die von seligen Harmonien erklang.
Der Bogenmacher von nebenan kam herüber, ein alter, aber noch lebendiger Bursche mit einem hellen Gesicht. Man spürte sofort den Menschen, der einmal aus diesem Winkel herausgekommen war und etwas von dem großen Atemzug der Welt mit zurückgebracht hatte. Er legte die neuste Nummer der Volkszeitung auf den Tisch, deren sechs oder sieben Abonnenten im Orte von ihm beliefert und bei der Stange gehalten wurden. Von ihm also hatte mein gestriger Begleiter die manchmal munter werdende Rebellion, aus dieser Zeitung also erhob sich die plötzlich hervorbrechende Anklage wider die göttliche Weltordnung!
Ich kam mit dem Alten sofort in guten Kontakt. Und ich erzählte von den Arbeitern, die mit ihren bloßen Fäusten ein Bataillon Soldaten niedergeschlagen hatten. Mir war es, als müßte ich Sturmglocken läuten in die müde Resignation dieses Tales, und ich ereiferte mich wie ein Apostel, aber meine Botschaft war das Evangelium der Tat und nicht des Wortes, des Zorns und nicht der Schlappheit, des roten Pfeffers und nicht des milden Honigs.
Die Frau hatte die Arbeit aus den Händen gelegt und vergaß ihren Mann und ihr Kind. Der Geigenmacher legte seine plötzlich schwer gewordenen Hände vor sich auf den Tisch. Und der Alte sah wie ein begeistertes Kind zu mir herüber, riß sich dann von seinem Schemel los und schlug auf die Zeitung, als wollte er sie zum Zeugen anrufen.
»Auch bei uns muß es anders werden einmal!«
Er wiederholte es wie ein Gelübde.
Da klopfte es von draußen an die Scheiben. Der Postbote war es, und er hatte nichts Dienstliches auf dem Herzen, das sah man.
»Laß den Doppelverdiener draußen«, knurrte der Geigenbauer die Frau an, als die ein Fenster öffnen wollte. »Der Kerl läßt seine Frau Pfuscharbeit machen und die Löhne drücken. Er weiß, wo die Tür ist.«
Aber da war der Postbote schon in der Werkstatt und brannte wie Strohfeuer:
»Drüben im Siehdichfür ist der Teufel los. Die Bälgemacher, die Tabakarbeiter und die ganze Blase ist verrückt geworden. Sie haben ein Auto voll Reichswehr angehalten, die Gewehre an sich genommen, plündern und randalieren, haben den Landrat verdroschen und machen die ganze Gegend unsicher. Wenn das bloß gut abgeht!«
Das Feuerwerk der Sensation beleuchtete sein Gesicht knallrot. Der alte Bogenmacher trat an den Postboten heran:
»Was soll denn nicht gut abgehen, he? Schlechter kann es doch nicht werden als es jetzt schon ist. Wir können nicht darauf warten, bis uns die Herren Beamten helfen, verstehste!«
Eine Viertelstunde später hatte die Erregung das Dorf erfaßt. Die Leute standen in Gruppen auf der Straße. Der Krämer ließ die Rollladen herunter und schloß die Tür. Einige Männer schauten nach der Gegend hinüber, aus der die Revolte gemeldet worden war, als warteten sie auf ein Zeichen.
Ich packte meinen Rucksack. Wenn ich mich dazuhielt, kam ich heute noch hinüber – zu den Bälgemachern, die plötzlich nicht mehr das eigene Fell für die Bälge zu den Instrumenten hergeben wollten, mit denen andere musizierten, zu den Tabakarbeitern, die plötzlich Sehnsucht hatten, einmal anderen Rauch zu machen.
Der Aprilschauer, der wie ein nasser Vorhang über die Berge schleifte, konnte die Glut nicht löschen, die mir einheizte. Ich hatte wieder Volldampf.
Verdammt nochmal! Es war also doch noch nicht alles zu Asche niedergebrannt! Mir zuckte es in den Gliedern. Ich wußte:
In vierundzwanzig Stunden hast du wieder eine Knarre in den Händen!