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XVIII · Die rote Lotte

Auf einer Anhöhe hielten wir. Der Chauffeur hantierte an seinem Wagen herum und fluchte.

Weit in der Runde war das Gebirge aufgebaut. Wälder und immer wieder Wälder, nah und fern. Über ihren dunklen Farben hatte der Vorfrühling hellblaue Streifen an den Himmel gewischt.

In allen Tälern gurgelten die Bäche. Nur die Hütten der Menschen lagen armselig und geduckt in der herben Freiheit dieser Landschaft. Keine starkknochigen und zähen Waldbauern schauten neugierig und mißtrauisch zu uns herüber. Schüchterne und blasse Gestalten des Elends und der Demut traten aus ihren »Karnickelställen«, wie der Tierbändiger ihre Behausungen nannte; und die vielen Kinder, blaß und scheu wie die Alten, erinnerten tatsächlich an dieses von Küchenabfällen lebende und von einem wilden Vermehrungstrieb besessene Haustier.

Jahrzehnte der Not hatten die Leute in diesen vergessenen Winkeln zu Stubenhockern gemacht. Ihre Sympathie war mit uns, weil sie spürten, daß die »Großen« Angst vor uns hatten. In ihren Hütten lebten noch die alten Geschichten von rebellischen Volkshelden, die sich dem Schutz der Wälder anvertraut und jahrelang Krieg geführt hatten, den Krieg eines einzelnen Mannes gegen ein ganzes System. Dieser eine hatte die Reichen gedemütigt und die Mächtigen erzittern lassen, Kompanien von Soldaten und Gendarmen hatte er in Atem gehalten, aber schließlich war er gefangen und verurteilt worden, und eine rachsüchtige Justiz hatte ihn gepeinigt und in Stücke gerissen. Von ihm war nichts übriggeblieben als eine Legende und ein sentimental ausklingendes Lied, das die Burschen und Mädchen an verliebten Sommerabenden singen. Den Empörerstolz seiner Klasse hatte er nicht wecken können. Er hatte umsonst gelebt, war umsonst auf das Blutgerüst gestiegen. Ein gefühlvoller Seufzer, das war alles, was er hinterlassen hatte ...

Diese Menschen waren an ihren Platz gefesselt. Alles, was sie hatten, gehörte dem Herrn der Gießerei, der Schneidemühlen, der Wälder und der Wiesen mit den fröhlich springenden Wasserläufen, aber dieser »Besitz«, die Werkswohnung mit dem kleinen Stallanbau, das Stück Kartoffelacker, spannte sie ins Joch und erstickte jede Spur von Trotz. Sie waren zu Haustieren geworden, die der Futternapf gebändigt hatte.

War es möglich, sie aufzuwecken, oder warteten sie wieder nur auf den einen, auf den sagenhaften einzelnen? Gewiß, in jedem Ort saßen ein paar Beherzte, auf die wir uns verlassen konnten. Aber lohnte sich das? Vertrödelten wir hier nur die Zeit? Nur in den Fabrikstädten, sie mögen noch so klein sein, konnte das Bewußtsein der Klasse wachsen? War es so, daß die Entscheidung in den großen Bezirken der Industrie fiel, gleichgültig ob wir hier warteten oder den Motor ankurbelten?

Mir selbst eine Antwort zu finden, dazu war jetzt keine Zeit. Ich hielt ein Maschinengewehr beim Griff, wir hatten Gewehre und Munition, und du weißt es ja, wie eine Knarre in den Armen die Herztätigkeit fördert. Das ist nun einmal so.

Wenn wir mit unserem Wagen angepoltert kamen, gab es überall ein großes Aufsehen. Die Menagerie des Tierbändigers war ja auch eine Besichtigung wert. Er selbst saß wie ein schwarzer Teufel auf der Kiste. Die Fratze neben ihm gehörte dem blutigen Pippig, der diesen Namen bekommen hatte, weil er so tat, als ob er die halbe Welt im Blut ersäufen wollte. Er hatte bis zu seinem neunzehnten Jahr als Bälgemacher gearbeitet, als Heimarbeiter am Familientisch, wo alle, auch die Frauen und die Kinder, mit zugreifen mußten, und wenn der Krieg nicht gekommen wäre, dann wäre er Bälgemacher geblieben. Als er vier Jahre lang Luft geschnappt hatte, die zwar nicht immer ganz frei von Zutaten, aber sonst tausendmal besser war als die Mischung von Leimgestank, Windelgeruch und Armeleuteküche, da wollte er nicht wieder in das sogenannte bürgerliche Dasein zurück. »Ehe ich täglich vierzehn Stunden arbeite, bloß um trockenes Brot und Schweinekartoffeln zu fressen«, sagte er, »da lege ich mich doch lieber auf den Bauch und fange mit dem Hintern Fliegen.« Und da hatte er so unrecht nicht. In Versammlungen laufen, Organisationsgelder bezahlen, für andere die Kastanien aus dem Feuer holen, das konnte ihm gerade passen! Bei der Reichswehr kam er nicht an, weil er »weder den Pastor noch den Gendarm« als Leumundszeugen angeben konnte, und so bummelte und strolchte er durch die Zeit, und wenn der Winter gar zu laut knirschte, dann wärmte er sich am breiten Kreuz der roten Lotte die Hände.

Die rote Lotte nannte er »seine Räuberbraut«, und er konnte verdammt eklig werden, wenn ein anderer hinter der strammen Kriegerwitwe her war. Ob er nur so tat, als wüßte er nicht, oder ob er wirklich nicht roch, daß die Lotte eine Nebeneinnahme hatte? Von dem »Dank des Vaterlandes« konnte sie nicht gut leben, vom Zigarrenmachen und von den Zärtlichkeiten des blutigen Pippig erst recht nicht, und so war sie auf einen ihrer Natur besonders naheliegenden Erwerbszweig geraten. Dieses Gewerbe als horizontal zu bezeichnen, wäre eine Beleidigung für die rote Lotte gewesen. Es war ihr Stolz und bei ihrer Kundschaft, die nicht selten zu den Besserbemittelten zählte, außerordentlich geschätzt, daß sie in den Dingen zwischen Horizontale und Vertikale sehr erfinderisch war.

Alle anderen auf dem Wagen waren Leute mit dem einfachen Lebenslauf eines Arbeiters – bis auf einen, den der blutige Pippig liebevoll bemutterte. Wir nannten ihn den »Raben«, weil er die Eigenschaft hatte, die man dem krächzenden Schwarzkittel unter den Vögeln nachredet. Vor seinen Langfingern waren nicht einmal wir sicher. Er hatte ein sommersprossiges, widerwärtiges Gesicht unter einem tief in die Stirn gerückten Scheitel, der stets festgeklebt war und dessen Lauseallee peinlich genau in der Mitte lag. Der Rabe war aus dem Böhmischen herübergekommen, wo er gekellnert haben wollte. Ich glaubte es ihm, daß er nirgends behalten wurde. Wer sollte sich wohl gern von einem solchen Ekel bedienen lassen! Der Lulatsch konnte kaum ein Gewehr richtig halten, war zu nichts zu gebrauchen, aber der blutige Pippig hatte darauf bestanden, den Burschen mitzunehmen.

»Karl, du kannst mal zehn Schuß aus deiner Knarre spendieren. Sie sollen nicht sagen, wir wären schlecht erzogen und hätten uns nicht angemeldet.«

Wir feixten über die Kaltschnäuzigkeit des Tierbändigers, knatterten in die Luft und schauten nach der Stadt hinunter, die mit etlichen Türmen und Schornsteinen aus dem Talkessel heraus wollte. Von der Heimwehr, oder wie sich der Kriegerverein nannte, der uns herausgefordert hatte, war nichts zu sehen.

»Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste«, sagte Grimm, »aber ich denke, wir prasseln rin in das Nest und überrumpeln die dämliche Bande.«

Das gab ein Gegaff! Ein Zigeunerwagen mit Affen und Papageien kann nicht mehr bestaunt werden. Wir hielten uns die Neugierigen auf dem Markt zehn Schritt vom Leibe. Ich saß an einem Maschinengewehr, und der Tierbändiger verschwand mit dem blutigen Pippig und zwei Mann im Rathaus. Der Rabe war natürlich auch mit dabei. Es dauerte nicht lange, und sie polterten wieder die Treppe herunter, hatten den Bürgermeister beim Wickel und luden das Häufchen Unglück auf unseren Wagen ab. Die Polizei ließ sich während der ganzen Zeit nicht sehen.

Pippig grinste den fassungslosen Stadtbonzen an:

»So, jetzt können eure Helden auf uns schießen. Das gibt eine hübsche Zielscheibe.«

Und er beschrieb mit dem Zeigefinger einen Kreis um den prallen Bauch seines Opfers, dem man den früheren Couleurstudenten sofort ansah.

Viel Zweck hatte es nicht, daß wir den Dicken in Schweiß brachten. Wir erfuhren, daß die Heimwehr tatsächlich angetreten war, aber nur ein knappes Drittel. Die anderen mußten hübsch zu Hause bleiben, ihre Weiber hatten ihnen die Stiefel versteckt, und in Strümpfen konnten sie doch nicht gut in den Krieg ziehen. Ein Bravo auf solche Weiber! Sie hatten die Situation erfaßt. Wer weiß, was sonst mit ihren Schotentoffeln passiert wäre!

Es blieb uns weiter nichts übrig, als etliche Schießprügel zu beschlagnahmen und den Bürgermeister wieder auszubooten. Vor unserem Abzug kauften wir noch Lebensmittel ein – System: zahle bargeldlos –, und wie wir so an einer Ecke hielten, interessierten sich einige von uns für die Zeitung, die dort von einer kleinen Quetsche ausgehängt worden war. Donnerwetter, gab das einen Radau! Das Käseblatt machte sich über uns mausig und bezeichnete uns als Bolschewisten und Gesindel. Der Redakteur wußte ja nicht, daß wir so schnell ihn besuchen kamen. Er hätte eine schwere Abreibung bezogen, wenn er von uns erwischt worden wäre.

»Haut ihm die Druckerei klar!« hieß es, aber es blieb schließlich bei drei, vier ausgeleerten Setzkästen. Zwei Setzergehilfen und ein Lehrling standen dabei und wußten nicht, ob sie lachen oder heulen sollten. Es ist sicher kein Vergnügen, einen Haufen Schriftlettern in die Kästen zurückzusortieren. Und es war sehr gut, daß wir die Bude nicht in Brocken schlugen. Hinterher hätte der Besitzer Reparationsansprüche gemacht, und die Paragraphenschieber des Tumultschädengesetzes hätten ihm eine neue, tipptoppe Druckerei hingesetzt, wie sie das ja anderswo glänzend fertiggebracht haben.

Das Resultat unserer kriegerischen Offensive war kläglich genug. Wir hatten ein paar Prahlhänsen die Faust gezeigt und Gelächter über sie ausgeschüttet, aber das war nicht genug Beschäftigung für eine Rotte wie die unsere. Es konnte nicht ausbleiben, daß allerlei Dummheiten gemacht wurden. Wenn dem Proletariat nicht dauernd das Knie auf die Brust gesetzt wird, weiß es nicht, was es mit seinen Fäusten anfangen soll, und schlägt sich selber knock out.

Tun mußten wir etwas, und so zogen wir am Abend aus unserem Quartier in die Metznersche Villa. Weshalb sollten wir nicht standesgemäß wohnen? Das Dienstpersonal verschwand naserümpfend in seinen Dachkammern und im Portierkeller und überließ uns die herrschaftlichen Räume. Wir überklebten die eingeworfenen Fensterscheiben mit Zeitungspapier und richteten uns häuslich ein. Das Grammophon, ein hübscher Schrankapparat, wurde fleißig in Bewegung gesetzt, das Dienstmädchen ließ sich herab, mit den zwar wenig salonfähigen, aber desto kräftiger gebauten Eindringlingen ein Tänzchen zu wagen, und die rote Lotte bezog das Himmelbett der Gnädigen, deren Allerheiligstes inzwischen mit Pornographien tapeziert worden war, die der blutige Pippig in einem Geheimfach des Schreibtisches aufgestöbert hatte. Die bildlichen Schweinereien, die es in den Etappenstädten der Westfront zu kaufen gab und die den Insassen der Lazarette oft von den Krankenpflegern angeboten wurden, waren jungfräuliche Albumblätter gegenüber diesen tollen Ausgeburten einer perversen Phantasie. Wahrscheinlich konnte selbst die rote Lotte von diesem neuartigen Wandschmuck noch etwas lernen, denn ihr Kavalier war nicht zu bewegen, die Wärme ihres Bettes mit der Nachtkühle einer Patrouillenstunde zu vertauschen. Es war ein heilloser Betrieb.

So ging das nicht weiter. Weshalb wir überhaupt noch auf Posten zogen und Patrouille gingen! Uns kam doch niemand vor die Flinte. Manchmal mußte ich an Landsknechte denken, die sich von dem großen Heerhaufen abgetrennt haben und auf eigene Faust Krieg führten. Krieg? Unsinn, gegen wen? Für wen? In ein paar Tagen würden selbst die eigenen Klassengenossen von uns abrücken und sich dort kratzen, wo wir saßen.

Ich drängte den Tierbändiger, noch am Nachmittag eine Sitzung mit der Parteiortsgruppe abzuhalten. Ich hoffte immer noch, wir kämen aus dem Dreck heraus auf eine richtige Marschstraße.

Albert brachte zwei Genossen mit. Einer gehörte mit zu unserer Kolonne. Als ich zu sprechen anfing – ich bin kein guter Redner – merkte ich, daß es nicht leicht war, die Dinge, die ich Arbeiterbewegung, Klasse, Organisation und planmäßiger Kampf nannte, mit unseren Streifzügen und unserer – na, sagen wir – bewaffneten Bereitschaft auf einen guten Reim zu bringen. Die Debatte zerstörte das wacklige Gerüst, das ich aufgebaut hatte, und die Bausteine für die Verbindungsbrücke wurden zu Wurfgeschossen zwischen hüben und drüben. Albert war sehr vernünftig, ruhig und sachlich. Er war einer von den älteren Funktionären mit viel Erfahrungen, die oft vorsichtig machen, mit denen sie aber auch oft den richtigen Weg finden, wenn dazu noch der Instinkt kommt, mit dem die meisten klassenbewußten Proletarier ausgestattet sind, sie mögen noch so bescheiden im Hintergrund stehen. Diese Erfahrungen wußten nichts von bewaffneten Aktionen, aber sie wußten, daß unser Vorstoß in sich selbst zusammenbrechen mußte, wenn er vereinzelt blieb und nicht von der Klasse aufgenommen und verstärkt wurde.

Mit einer scharfen Kopfbewegung fügte Albert hinzu: »Und das würde selbst dann eintreten, wenn ihr alle saubergewaschene Idealisten wäret.«

»Was willst du damit sagen?«!

Der blutige Pippig erhob sich und schob sein Gesicht zu Albert hinüber, als wollte er ihm die Nase abbeißen. Der guckte ihn an, ohne eine Miene zu verziehen:

»Was ich damit sagen will? Sage mir du lieber, was du willst, und ich will dir sagen, wer du bist.«

»Keinen Streit hier!« Der Tierbändiger schlug mit der Faust auf den Tisch.

»Von dir lasse ich mir das Maul nicht verbieten, von dir nicht!« Pippig hatte Schaum vor dem Munde. Ein langgenährter Haß explodierte:

»Das könnte dir so passen! Hier den Räuberhauptmann markieren! Wenn du Courage hättest, dann brauchten wir keinen Kohldampf schieben. Ich an deiner Stelle hätte längst die Fabrikanten in der Gegend abgeklopft und ihnen die Lohngelder aus dem Rachen geholt, die sie den Hungerleidern hier jahraus, jahrein gestohlen haben ...«

Ehe der von so viel verborgen gewesener Feindschaft überraschte Grimm antworten konnte, hatte sich Albert von seinem Stuhl aufgerichtet:

»Und was meinst du, was du mit solchen Mätzchen erreichst? Willst du damit die sozialen Verhältnisse ändern? Oder willst du dir und deinen Kumpanen die Taschen vollsacken?«

Jetzt war der Klamauk fertig. Pippig riß einen Stuhl hoch und ging damit auf Albert los. Der Tierbändiger brüllte, einer warf den Tisch um, und von seinen Genossen gedeckt, verließ der Ortsgruppenvorsitzende die Villa. Sein bewaffneter Begleiter stellte sein Gewehr in die Türecke und ging mit einem Gesicht, als wollte er sagen: So, jetzt macht ihr euern Dreck alleene.

In der Pause, die jetzt eintrat, hörten wir über uns das Grammophon dudeln und den Lärm eines besoffenen Tanzes. Pippig stutzte, sein Gesicht bekam plötzlich den Ausdruck großer Qual, und dann stürzte er aus dem Zimmer, die Treppe hinauf. Wir hinterher.

Die rote Lotte hatte feudalen Fünfuhrtee. Sie tanzte mit einem kleinen Kerl, dessen knabenhafter Schopf wie betrunken zwischen den festen Brustbastionen seiner Partnerin lag. Die Lotte war ein gutgewachsenes, strammes Weibsstück. Das rotblonde Haar stand wildgelockt um ein zu derbes Gesicht. Ihre frechen Augen glühten, und sie sang zu der lauten Musik einer abgespielten Grammophonplatte einen Gassenhauer, der nicht ganz zu der Melodie, aber desto besser zu ihrer Hopserei paßte:

Komm mit mir,
Ich zeige dir,
Wie der Spargel steht ...

Bis jetzt war der blutige Pippig an der Tür geblieben. Nun ging er langsam durch das Gewühl der Tanzenden, die angesichts dieser Visage aus dem Takt kamen, und ließ die rote Lotte und ihren Kavalier an sich herankreiseln. Im nächsten Augenblick lag der Kleine in der Ecke.

Alles wartete auf die nächste Szene. Aber es passierte etwas ganz Unerwartetes.

Der Tierbändiger hielt das auf toter Fläche kratzende Grammophon an, spannte die Feder und ließ die Lieblingsplatte der Lotte wieder laufen. Dann faßte er die Verdutzte, die aber sofort begriff, um den Leib und walzte los, als gäbe es überhaupt keinen eifersüchtigen Pippig. Ich war platt. Von dieser Seite kannte ich Grimm gar nicht. Wahrscheinlich wollte er dem Schreihals von vorhin zeigen, wer hier kommandiert Der ehemalige Bälgemacher nahm die Herausforderung sofort an. Er pflanzte sich mitten in der Stube auf, die Augen dunkel vor Wut. Grimm ließ seine Partnerin los. An den Wänden standen die Zuschauer.

Die Vorstellung konnte beginnen.

Über den Tierbändiger kam die tolle Ausgelassenheit eines großen Jungen. Er tat, als sähe er Pippig nicht, als sähe er nur die improvisierte Manege. Er wurde zum balzenden Hahn, der seiner Henne und dem Nebenbuhler etwas vormachen will. Der Zirkus erwachte in ihm. Mit spielenden Gelenken tänzelte er über das Parkett, ließ sich plötzlich fallen, richtete sich ohne den Stützstand der Hände wieder auf, bog Kopf und Oberkörper fast bis auf den Fußboden, ging so rückwärts auf einen schweren Stuhl mit Polstersitz zu, packte die Lehne mit dem Gebiß und warf den Stuhl mit einer raschen Körperwendung blitzschnell nach oben.

Sein Publikum raste vor Wonne. Die rote Lotte verstand die seltsame Liebeserklärung sofort und ging mit wiegenden Hüften auf den Tierbändiger zu. Ebenso schnell hatte der blutige Pippig kapiert: Er hatte ausgespielt, sie hatte ihn versetzt. Einer schrie auf: »Das Messer!« Aber Grimm war auf der Hut. Auch er zog blank.

Wie ein Manegeartist, der die aufpeitschende Musik braucht, stand er da, den Hirschfänger in der Hand, und seine schwarzen Augen feuerten:

»Dreht den Klapperkasten an!«

Aufheulend sang die zu früh aufgelegte Nadel über die Platte. So viel Theater brachte den rasenden Othello aus der Fassung. Er drehte sich wie vom Blitz getroffen auf beiden Absätzen und stürzte aus dem Zimmer.

Auch ich hatte genug.

Ich ging langsam aus dem Haus. Oben pflückte der Tierbändiger seine frischen Lorbeeren. Wie zum Hohne schritt vor dem Gartentor ein Posten auf und ab.

An diesem Abend schrieb ich in der Wohnung Alberts einen Brief an meinen Vater. Ich wußte nicht mehr ein noch aus. Hatten die Vorsichtigen, die Parteigenossen mit dem stets sauberen Kragen recht, wenn sie in Bausch und Bogen vom Mob, vom Janhagel sprachen? Wo fing der Mob an? Wo hörte er auf? War jeder Impulsive, der über die Ausrichteschnur der Parteisoldaten sprang und zu ungeduldig war, auf das nächste Kommando zu warten, damit auch aus der Front der Klasse entgleist? Hier konnte ich nicht mehr lange mitmachen. Wie ganz anders war das vor wenigen Tagen noch, wenn der Stoßtrupp losfuhr! Es war wie in einer anderen Welt. Diese Welt hieß organisierte Arbeiterschaft.

Und was war das hier?

Solche Unklarheiten bewegten mich, als ich im Tabakdunst der Stube saß. Mein Brief – ich wußte das später – konnte nicht alles in die Form klarer Fragen bringen, aber mein Vater würde mich schon verstehen. Seine Antwort hatte ich postlagernd nach einem drei Fußstunden entfernten Waldarbeiterort bestellt. Ich wollte mit dieser Antwort allein sein, und vielleicht war diese Ortsangabe schon der Abstand, der zur Flucht werden wollte.

Als ich wieder auf die Straße trat, war kein Stern in der Nacht.


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