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XXXI. Fastnacht der Schiffer

Die anderen hatten sich nicht so in der Hand wie Wilhelmine Butenhof. Sie ließen sich alle ein wenig gehen in der Trauer über Pony Hannchens Tod. Lattersch brachte nicht einmal einen Nachruf zustande. Wilhelmine spürte den dringenden Wunsch, Schluß mit alledem zu machen. Sie griff dafür tief in ihren Beutel. Vielleicht sprach die bittere Erkenntnis mit, daß sie für eine Renovation ihres Kahnes kein Geld mehr zurückzulegen brauchte.

Eine kurze Weile nur wollte sie ihre Freunde von sich fern wissen, um sich allein damit abzufinden, daß sie ihnen den Kahn ›Helene‹ für die Zukunft verschließen mußte.

Nach Breslau sollten sie. Zur endgültigen Zerstreuung und Ablenkung. Zur Schifferfastnacht. Zum Reederfest. Zum großen Ball, den die drei schlesischen Reedereien alljährlich für ihre Angestellten und für die Schleppzugleute veranstalteten. Da fuhren alle Schiffer, die nicht gar zu weit von Breslau über Winter lagen, nur zu gern; ein Oderwinter vergeht langsam, und aufs Ende zu kann man eine Abwechslung brauchen; denn aufs Ende zu wartet sich's immer am schwersten. Sie kamen per Eisenbahn, per Fahrrad; mit gemeinsam gemieteten Pferdeschlitten, Leiterwagen, Lastautos, je nach Wetter und Entfernung. Zum Ball mit Tanz, sagten die Schiffer.

Das Fest fand immer außerhalb von Breslau statt, im riesigen Saalanbau am Gasthof eines Vorstadtoderdorfes. Die Damen aus den Reederkreisen fühlten sich für eine Nacht verpflichtet, mit Schiffern und mit Kapitänen zu tanzen und mit ihnen am Büfett Pfannkuchen zu essen, Punsch, einen Hennigcreme und Breslauer Korn zu trinken. Mitunter nahmen sie es nicht einmal so genau, ob ein blonder, brauner oder schwarzer Schiffertänzer nun auch bestimmt gerade zu ihrer eigenen Reederei zählte.

Die Herren der drei Reedereien kamen ihren Pflichten gegen die Kapitänsfrauen und Schiffseignerinnen weniger gern nach. Korn und Hennigcreme und natürlich auch Kipke-, Haase- und Kißlingbier bildeten die mittlere Linie, auf der sich aber schließlich auch die Herren aus den Reedereien mit den Frauen von der Oder zum Vergnügen einigten. Die Schifferfrauen tanzten nämlich oft nicht gut – es fehlt an Übung –, die Steuermänner und Schiffsjungen aber vorzüglich; bei den älteren Kapitänen reichte es meist nur zu einem Walzer. Das erklärt manches.

Nun kann man nicht gut von sieben Uhr abends bis vier Uhr morgens durchtanzen.

Darbietungen sind erwünscht, nette Darbietungen, heiter und vielseitig. Wer hat etwas anzumelden? Unter den verehrten Anwesenden? Aus dem Leben der Oderschiffer? Couplets, kleine Szenen, Duette und Soli?

Es läßt sich denken, wie aufgeregt Fräulein Zerline in der Hoffnung auf diesen Augenblick war, in dem man so in den Saal rufen würde. Man hatte ihr erzählt, wie es zuging. Nun würde sie dabei sein, wenn die Truppe sich anbot, die Truppe, bei der sie jetzt für immer lebte!

»Die Oderkrebse« hatte man für den großen Zweck das Ensemble eigens getauft und damit Latterschs Dichtungen eine neues Ansehen verliehen. Fordan sollte noch ordentlich üben, verlangte das Fräulein. Und Zerline selbst nähte an den Kostümen bis in die späte Nacht. Um Hannchen trauerte sie in der Aussicht auf den gemeinsamen Breslauer Erfolg nicht mehr so sehr. Hannchen hätte sowieso nicht mitreisen können. Hannchen hätte nicht in den Saal gedurft. Das Fräulein kannte Hannchen eben nicht so, wie Lattersch und die Butenhof um das Pony Bescheid wußten.

Niemand soll aber denken, daß, selbst abgesehen von Ball und Vorstellung, von den Oderleuten eine Fahrt nach Breslau gering veranschlagt worden wäre. Denn Breslau lieben die Schiffer sehr. Viel mehr als Stettin. In Stettin reden ihnen alle Menschen zu viel vom Haff und der Ostsee und achten nicht sehr auf die Oderkähne und auf die Flußschleppdampfer auch nicht. Denn Fischkutter von der See liegen im Stettiner Hafen und dringen manchmal sogar bis Schwedt vor; Seedampfer machen sich am Kai vor der Hakenterrasse breit; Passagierdampfer; Handelsdampfer, auch aus dem Ausland! Stettin bleibt der Oder nicht treu.

Aber der Dom, die Sand- und die Kreuzkirche, die schattigen Promenaden, die Bischofsgärten und alten Handelshäuser von Breslau wollen nichts anderes sein als ein Schmuck fürs Oderufer; und all die Krane, Docks und Speicher hat man von der Stadt weit weggelegt, an besonderen Hafen, mehr aufs Kohlengebiet zu, wo die Oder nicht gar so schön und mächtig ist wie in Breslau. Das erkennen die Schiffer mit Dank, obwohl das mit dem Coseler Umschlaghafen ein bißchen unbequem ist.

Wilhelmines Leute bildeten keine Ausnahme. Überhaupt schwirrte es in diesen Tagen um die Butenhof von Dankesworten. Namentlich auf dem Bahnhof, vor der Abreise nach Breslau ging es stürmisch damit zu. Denn Wilhelmine hatte ihre Schar begleitet. Fräulein Zerline sprach nur von der Truppe und den Kostümkoffern und der Mäzenin. Das sagte Wilhelmine wenig. Lattersch versuchte fortwährend, einen kleinen Abschiedsvers zu dichten; aber bis der Zug einfuhr, schaffte er es nicht mehr. Der Onkel, heut wieder mehr Athlet als Schiffer, tat das, was ihm von Berufs wegen zukam, und hob die Kleine hoch, als wäre zwischen ihnen alles wieder im reinen; von Wilhelmines Seite war es auch so. Ohnesorge wollte sich in Breslau auf eine noch freie Stelle seines rechten Armes ›Wilhelmine‹ und ›Helene‹ tätowieren lassen. Sein alter Hochmut verriet sich darin, daß er behauptete, nur in Breslau die Prozedur vornehmen zu können. Das hatte aber nichts mit Guras Überschwenglichkeiten zu tun. Der Schlangenmensch erschien fast zu spät, dafür aber frierend in hellen Zwirnhandschuhen; er fand, daß es das Traurigste von der Welt wäre, wenn Wilhelmine sich nicht noch im letzten Moment entschlösse, sie alle nach Breslau zu begleiten. Diesmal äußerten sich die anderen, Nüchterneren, beinahe ebenso. Winderlich allerdings schwieg. Er wiegte distinguiert den Bahnsteig entlang, stäubte die Asche von seiner Zigarette, vertauschte den roten, kleinen Ziegelbahnhof und die Blechbude an der Sperre mit gewaltigen Glas- und Eisenkonstruktionen, den Personenzug Rothenburg an der Oder-Breslau Hauptbahnhof mit einem Expreß und war sehr unwirsch, daß Wilhelmine ihn gerade, als er ein paar verbindliche Worte an sie richten wollte, öffentlich anschnauzte: »Wenigstens mit den Zigaretten sparen.«

Aber sonst ging es nur so: »Nee, und daß gerade du –«

»Wenn du nachlöst, eine Fahrkarte –«

»... das Auftreten nicht mit zu erleben, das Auftreten in der Provinzhauptstadt –«

Fordan rief, schon aus dem rollenden Wagen, seltsamerweise etwas vom Kahn. Ob sie auch wirklich und wahrhaftig die Briefe schreibe. Denn wegen der Briefe, hatte Wilhelmine Butenhof behauptet, müsse sie bleiben. Sie blieb, um ganz allein für sich einen größeren, wichtigeren Abschied von ihren Leuten durchzumachen, als die Trennung für den Ball in Breslau ihn bedeutete.

Und Briefschreiben hatte Wilhelmine eigentlich weniger vor als eine Aussprache mit Michel. Der Junge wußte, daß sie ihn gleich nach der Rückkehr vom Bahnhof erwartete. Aber weil es immer wieder dem Vater zu helfen galt, verspätete er sich, und Wilhelmine stand am Ufer eine ganze Weile vor ihrem Kahn. Nein, Briefe nach Stettin zu schicken, welche Dampfer zuerst bis Cosel herauffahren würden, das hatte keinen Sinn. Es ging einzig und allein noch darum, gemeinsam mit Michel einen Weg zu finden, wie ihren Leuten zu helfen sei, wenn sie aus Breslau zurückkommen würden. Eigentlich fand sie es grausam, daß sie die Männer, den Jungen, das Fräulein ins Vergnügen, in den Schifferfastnachtstrubel mit Papiermützen, falschen Pappnasen, Lampions, Harmonikas und Blechmusik schickte, um sie dann vor die schreckliche Tatsache zu stellen, daß für sie auf der ›Helene‹, daß für die ›Helene‹ selbst das Ende da war. Aber dem Mädchen wuchsen die Verhältnisse einfach über den Kopf. Das hatte es also mit all der Selbständigkeit erreicht. Das also kam davon, wenn man sich gar so zeitig als erwachsen aufspielte und alles vorausnehmen wollte, als wäre man eine wirkliche Schiffseignerin. Und nicht genug damit; auch Michel zog sie noch hinein. Wer gab denn schließlich neuerdings den Zuschuß, von dem das Fräulein auf ihrem Kahn beköstigt wurde?

Michel tröstete sie dann. Schließlich sei doch Fräulein Zerline seine alte Freundin und nicht ihre.

Ja, ja, schon gut, zerknickte Wilhelmine am Kajütenherd ein abgebranntes Streichholz nach dem anderen, sehr schön alles, aber ob nicht gerade, ganz genau der Betrag, den er für seine Kapitänsausbildung zurücklegen konnte, für Fräulein Zerline draufginge.

Das war schon so. Michel konnte sich nicht herauslügen.

»Und ich weiß jetzt«, schnitt die Butenhof ihm alle Beteuerungen und Begütigungen ab, »was ich vorher nicht kapieren konnte: warum du so auf einen Dampfer aus bist. Dampfer sind haltbarer als Kähne. Und du mußt zu deinem Dampfer kommen und Kapitän werden.«

Nein, nein, ihre Energie war noch nicht gebrochen. Michel durfte nicht in ihr Unheil hineingerissen werden. Das stand fest. Aber die Ratlosigkeit war groß.

»Wir haben ja schon viel Geduld gelernt, wie früher die Leute in unserem Alter nicht«, wurde Michel immer lebhafter, »wir haben überhaupt schon viel gelernt. Daß eine Waise einen Vormund bekommt und nichts vom Vormund hat, für seine ganze Verwandtschaft und Bekanntschaft sorgen muß. Daß man einen Vater hat, und er will bloß, daß man für ihn verdient, und kümmert sich nicht etwa um einen. Daß die alten Leute, die es gut mit einem meinen, sich deswegen miteinander verkrachen.«

Und Michel dachte dabei nur an die kleinen Streitigkeiten zwischen Müßiggang und der Leitgöbel. Was ahnte er von jenem großen, fürchterlichen Ereignis vor Wintersanbruch in Stettin, von der Sache damals mit Kapitäns.

Aber das war wohl sehr gut, daß Wilhelmine gerade an Herrn und Frau Woitschach denken mußte, an den Zwist und an ihr Versprechen, der Frau Kapitän ein anderes, ein besseres Kind zu besorgen. Sie musterte den Freund direkt ein bißchen fremd, und der merkte das auch. Nein, als Kind konnte man ihn nicht mehr gut ausgeben, als Kind nicht mehr, verwirrte sich alles bei ihr, denn der heftige Wunsch riß sie plötzlich mit, in Michel nichts mehr sehen zu müssen als ihren einzigen, starken Beschützer. Und der Junge ahnte wohl so etwas, denn er brummte: »Bloß noch bissel Geduld brauche ich, und daß du mit wartest auf die Kapitänszeit und den Dampfer.«

Da war er aber draußen, und Wilhelmine war es recht so, daß er davonlief, obwohl ein Sechzehnjähriger eigentlich schon etwas gesetzter hätte sein dürfen.

Nun war es ja nicht so schlimm, was ihr bevorstand: die Trennung von allen. Die Anmeldung im Schifferkinderwaisenhaus, weil sie doch gar nichts mehr hatte und weil es für sie aus war mit Kapitäns.

Für sie, aber nicht für den Marketenderfreund.

Und nun schrieb sie wirklich einen Brief, wirklich einen, der etwas mit Dampfern zu tun hatte und nach Stettin ging, sogar noch weiter. Bis Storkow.

Ein bissel groß wäre das neue Kind ja. Aber vielleicht ließe es die Frau Kapitän noch manchmal ein bissel schön mit sich tun, wenn es sonst niemand sähe.

Dagegen sei es ausgeschlossen, daß der Kapitän das neue Kind etwa mal verdreschen könne. Dazu sei es zu alt. Aber es würde ihnen gefallen. Und es wäre bestimmt ein guter Tausch. Ob sie sich nicht entsinne. Damals auf der Durchfahrt nach Tschicherzig zum Weinlesefest.

Wenn sie ganz allein war, konnte die Butenhof überschwenglich sein. Sie drückte einen Kuß unter den Brief. Er galt weder der Frau Kapitän, noch dem Herrn Kapitän, noch dem Dampfer ›C. W. V‹. Es war der letzte Kuß eines Kindes.

Aber weil sie es nun einmal nicht erwarten konnte, das Künftige vorauszunehmen und ihr Leben fertig und in ihrer Hand zu sehen, rannte sie vom Kahn zum Ufer, in Michels Hof, wo er in seinem Marketenderschuppen arbeitete.

»Michel«, rief sie atemlos und nicht sehr laut, »ist das jetzt wie verlobt?«

»Da du es bist, ja«, sagte der Junge und folgte ihr nicht nach, als sie wie der Wind zum Kahn zurückflog.


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