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VIII. Hannchen

Das Mädchen, der Junge und die Männer hockten noch lange vor Wilhelmines Kajüte am Heck. Die Erregung hatte sich gelegt, der Schleppzug ging für die Nacht vor Anker, die lange, in den Biegungen des Flusses sich windende Lichterreihe der Kähne zitterte im Wasser, und man entsann sich wieder, daß es eigentlich ein sehr schöner Abend gewesen war.

»Bloß so ganz ohne Tiernummer ist es nichts Richtiges«, blieb der Vormund bedrückt.

»Wenn das die Emma mit ihrer Hannchen noch hätte mitmachen können«, wurde auch Lattersch gerührt und dachte an seine Frau, ihre Nummer und das Pony Hannchen.

»Wo hast du denn die Hannchen untergestellt?« erkundigte sich Müßiggang bei Lattersch und erhielt den Bescheid, daß sein Pony im Stall der Schwägerin im Dorfe Alte Fähre –

»Wir wollen gar nicht darüber reden«, seufzte der Witwer, der im allgemeinen nicht so viel von seiner seligen Frau redete wie Winderlich. Er hatte ja auch nicht mit ihr zusammen gearbeitet.

»Wo das Tierdel so hübsche Stückel konnte«, jammerte der Vormund, »solche hübsche Stückel: rechnen, die Schönste suchen und mit der Schnauze auf den Glocken ›Ach, des Sommers letzte Rose‹ spielen.«

Alle Artisten waren sich darüber einig, daß die kleine Hannchen ein einzigartiges Zirkuspferd war und daß es kein schlimmeres Los für sie geben konnte, als in einem Bauernstall im Dorfe Alte Fähre ihr applausloses Ende zu erwarten.

Wilhelmine wischte sich mit dem nackten Unterarm noch immer den Kohlenstaub aus dem Gesicht und beteiligte sich an dem Gespräch: »Wenn ihr meint, daß man noch einen Stall für Hannchen auf dem Kahn zurechtzimmern kann, ich würde ja ganz gern –« Und nun nahmen sie die Männer einer um den anderen auf den Schoß, und Fordan klopfte sie auf beide Schultern und versuchte zu wiehern.

Das veranlaßte die Spitzhunde auf den anderen Kähnen, in die Nacht hinein zu kläffen, und Wilhelmine dachte mit Stolz an die Zukunft, in der sie allen Kähnen voraus ein Pferd auf Deck haben würde, ein Pony, das mit seiner weichen, warmen Schnauze ›Ach, des Sommers letzte Rose‹ auf silbernen Glocken spielen konnte.

»Wird denn die Hannchen bei uns genug Auslauf haben?« grämte sich die Schiffseignerin noch. Denn der Auslauf war immer die große Schwierigkeit für die Hühner, die man sich auf fast allen Kähnen hielt.

»Die Hannchen?« warf Lattersch sich in die Brust und strich über die Seidenaufschläge seines Zaubererfrackes, »die Hannchen ist ein sehr künstliches Pferd. Die läuft dir die schmalen Stege lang, daß es nur so raucht!«

»Und außerdem«, fiel der Onkel ein, »braucht sie nicht mehr so viel. Sie ist schon ein bissel alt.«

*

Hannchen lief die Stege rechts und links an den Bordseiten lang, behutsam und geziert Huf vor Huf setzend, von Wilhelmine mit rührender Sorgfalt an kurzer Leine geführt. Das Kind ging rückwärts voran und zog das Pferd mit beiden Händen hinter sich her. Herrn Winderlich jagte sie grob vom Brett zurück. Seit Hannchens Ankunft fühlte er sich nicht mehr wohl. Bis dahin hatte er in der Illusion gelebt, als berühmter Artist auf Amerikatournee unterwegs zu sein; die schmalen Bretter um den Laderaum waren ihm Promenadendecks; daher kam das vornehme Getue mit der Zigarette und der auffallende Gang.

»Es folgt ihr«, atmete der Onkel auf, der mit Lattersch vom Heck aus die Manöver mit dem Pony beobachtete, »ich hatte schon Angst.«

Der alte Kamerad flüsterte ebenfalls: »Ich weiß schon. Die Hannchen ist immer ein bissel böse gewesen.«

Wie konnte ein so schwarzes, altes Pferd auch nicht böse sein. Es sprach sich unter den Männer, die von den beiden Alten eingeweiht worden waren, bald herum. Aber Wilhelmine war beseligt, ein böses, gerade ein böses Pferd bei sich zu haben. Hannchen gehörte zu den kleinen, struppigen Russenpferdchen mit langem Fell, dicken Schenkeln und breitem, störrischem Schädel. Die großen, dummen Augen waren schon ein wenig trübe und die langen Zähne bereits etwas gelb. Außerdem hatte Hannchen die häßliche Angewohnheit, von den Händen ihrer bevorzugten Freunde mit den Lippen behutsam ein Stück Zucker zu nehmen und dann heimtückisch nach den freundlich hingehaltenen Fingern zu schnappen.

Die Butenhof aber schätzte Hannchens Charakter außerordentlich. Sie sprach den Namen Hannchen mit solcher Zärtlichkeit aus, wie sie nie von und zu einem Wesen geredet hatte. Nur wenn sie etwas von ihrem Kahn sagte, war manchmal diese Wärme in ihrer Stimme.

Fürs erste war jedenfalls der Kahn vortrefflich eingeteilt: Am Bug hausten in Koje und Laube die Männer mit dem Jungen, am Heck lag Wilhelmines Kajüte und ihrer schrägen Klapptür gegenüber der Bretterstall des kleinen Pferdes.

Fast jeden Tag bat die Kleine die Männer, für sie mitzukochen, was sie sonst immer selbst erledigt hatte. Doch nun hatte sie keine Zeit mehr für ihre Küche. Alle Stunden, in denen Hannchen nicht im Verschlag neben Wilhelmines Kajüteneingang in der dünnen Strohschicht scharrte, verbrachte das Kind mit dem Pony und suchte ihm alle seine früheren Kunststücke wieder zu entlocken. Lattersch und Müßiggang verfolgten auch das aufmerksam von dem erhöhten Steuerplatz aus und waren guter Dinge. Wer weiß, was nicht noch alles werden mochte.

Das Kind machte den Vorschlag zuerst: ob man nicht noch einmal eine so wunderbare Vorstellung veranstalten wollte, diesmal mit Hannchen als Hauptnummer.

Die beiden Alten blinzelten sich listig zu und kauften bei jedem Hafenaufenthalt ein paar neue Glocken. Man mußte sie geradezu für närrisch halten. Alle auf dem Kahn ›Helene‹ hatten nur noch an die neue Vorstellung zu denken, konnten allein von ihr reden. Das Pony witterte etwas von Auftrittsstimmung, warf seine Mähne zurück und hielt den dicken struppigen Kopf ganz still, als wartete es darauf, daß ihm Federbüsche und mit Goldknöpfen verzierte rote Lederzäume umgebunden würden.

Wilhelmine Butenhof sollte darüber vergessen, daß sie die Kraftakte und Schlangenmenschen eigentlich zu einer anderen Nummer hatte verwenden wollen. Nein, nichts mehr von Rache und Raub, obwohl Wilhelmines Leute doch nun inzwischen hatten einsehen müssen, daß dergleichen gar nicht unangebracht wäre.

»Der Onkel ist schuld daran«, stellte Wilhelmine bei sich fest, »die alten Leute verderben einem immer alles mit ihrer Vergnügungssucht.«

Nur der flinke, kleine Fordan blieb etwas ernster zu nehmen. Er klaute manchmal ein wenig auf eigene Faust und mit sicherer Hand. Der schwarze Gura war ihm bei körperlich schwierig durchführbaren Unternehmungen behilflich, allerdings nur nach tausend Einwänden, die weniger seiner Moral als seiner Bequemlichkeit entsprangen.

Die Schiffseignerin jedoch erfuhr nichts davon. Fordans Absichten hatten wenig mit ihren Vergeltungsplänen zu tun. Er lieferte bloß so ganz private, harmlose Stehlereien, niemand zu Leide und nur seiner eigenen Geschmeidigkeit und Habgier zur Freude.


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