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Auf der ›Helene‹ war ein solches Rumoren, daß das Pony Hannchen in seinem Verschlag am Heck öfters wild wurde. Andauernd stieß jemand mit Balken an die Stallwand oder der Boden zitterte unter Hannchen von ununterbrochenen Hammerschlägen. Hannchen, das sonst böse Pferd, wurde dann mit der Zeit, als es gar kein Ende nahm, ganz scheu und verängstigt. Da kam Wilhelmine auf den guten Gedanken, Hannchen auf die Weide zu bringen.
Aber daß alles Geld kostete und noch einmal Geld! Der Magistrat Köben selbst meldete sich auf die Angaben einiger Spaziergänger hin und wollte es nicht glauben, daß ein altes Russenpferd auf dem Lantsch, jener Wiese zwischen Stadt und Hafen, von einem alten Mann herumgeführt würde und außerdem auch noch Possen triebe. Lattersch war mit der Aufsicht über Hannchen beauftragt worden, weil es die Handwerker auf der ›Helene‹ störte, daß er immerzu so laut brüllte, als lüde er zum Besuch einer Schaubude ein: »Arbeiten, meine Herren!« Und da Wilhelmine auch mithalf, konnte Lattersch sogar bei seinen alten Redensarten bleiben: »Ans Werk, ans einzige, noch nie dagewesene Werk, meine Damen und Herren! Auch Sie, junger Mann, müssen mit dieser Weltattraktion bekannt werden.«
Letzteres galt Gura persönlich, weil seine Arbeitswilligkeit ebensowenig vorhielt wie Wilhelmines Bravheit. Der feine Winderlich erhob als erster Einspruch gegen das Treiben des alten Rekommandeurs und Zauberkünstlers. Gerade als Lattersch mit ausladenden Bewegungen von dem erhöhten Steuerplatz her rief: »Eins – zwei – drei – noch ein Hammerschlag, meine Herrschaften, und die neue Planke sitzt fest im Holz –«, warf Winderlich sein Beil hin und erklärte aufgebracht, der Kollege mache ihn völlig nervös, er müsse seine Arbeit niederlegen, wenn das noch so weitergehe.
Soweit war die Stimmung schon wieder artistisch. geworden, daß er von Kollege sprach.
Da erfand Wilhelmine Butenhof den neuen Dienst für Herrn Lattersch. Der fühlte sich nur geschmeichelt. Mit Hannchen wußte außer der jungen Schiffseignerin eben nur er umzugehen; die Hannchen hatte nun einmal ihre Mucken, und allein ihm gegenüber ließ sie davon ab, weil er zu der seligen Emma Lebzeiten nach jeder Vorstellung das Pony hinter dem Vorhang in Empfang genommen hatte, während sich die Gattin draußen noch mit vielen Verneigungen nach rechts und links und der Mitte für den Applaus bedankte. Hannchen erschien nach ihrem Auftritt nie mehr an der Rampe, weil Lattersch ihr immer gleich den Kopfputz abband und zwei Zuckerstückchen für sie bereit hielt. Ihn kannte sie von damals noch gut, und für ihre Beziehungen zueinander machte es gar nichts aus, daß Hannchen immer schlechter sah.
Hannchen war auch nur noch in ihrem Verschlag auf dem Kahn außer Rand und Band gewesen. Im Freien machte sie keine großen Sprünge mehr, und da sie an Weite nie gewöhnt gewesen war, begnügte sie sich auch mit einem begrenzten Rasenfleck als Weide. Nach einer geraumen Ruhezeit war es Hannchen immer nicht unangenehm, wenn der alte Mann ihr ein paar Kunststückchen von früher aufgab; auch ohne die roten Zäume und die Federbüsche machte sie das sehr gern; ohne Publikum, ganz für sich selbst. Die frische Luft regte sie so an. Denn bei den einstigen schwierigen Vorführungen hatte sie manchmal richtig Atemnot bekommen.
Die Köbener Bürger wollten aber alles das nicht ohne weiteres dulden, und so begab sich der Stadtpolizist zu Herrn Lattersch und dem Pferde auf die Wiese. Die Köbener waren stolz auf ihren Polizisten, weil er Schupouniform trug, wie sie in den Großstädten üblich ist. Sie hatten es noch immer nicht begriffen, daß es aufhört mit dem Besonderen in den kleinen Städten.
Antenne ist Antenne, Auto Auto, elektrisch Licht elektrisch Licht, Schupo Schupo und Ordnung Ordnung. Und deshalb bekam die Schiffseignerin Butenhof ein Strafmandat, dem nach Zahlung einer für Wilhelmine im Augenblick kaum erschwinglichen Summe die Erlaubnis folgte, das Pferd dürfe täglich zwei Stunden auf dem Lantsch grasen.
Jedesmal, wenn Lattersch sein altes Pferdchen wieder über den Steg in seinen Verschlag führte, staunte er, welche Fortschritte die Ausbesserungsarbeiten an der ›Helene‹ von Tag zu Tag gemacht hatten. Überall in der aufgerauhten dunklen Bordwand saßen helle neue Balken, der Geruch von frischem Holz kam zum Ufer, Hobelspäne und Holzstücke schwammen um die ›Helene‹ und legten sich als gelber Ring um den Kahn. Das Wasser im Hafen wurde dadurch noch trüber, als es im staubigen Sommer sowieso schon war.
Wilhelmine legte den Hammer aus der Hand und unterbrach ihre Arbeit; sie war fleißig mit tätig, sobald sie nicht in der Küche stecken mußte.
Sie nahm Lattersch das Pferd ab, und Hannchen tat entgegen ihrer Gewohnheit ein bißchen zärtlich.
»Hol uns Wasser aus der nächsten Pumpe«, bat Wilhelmine den Mann, damit er nicht erst wieder anfinge, auf dem Kahn herumzuschwadronieren, »das Hafenwasser ist so schlecht, daß ich es gar nicht abkochen mag.
Lattersch suchte auch gleich gehorsam Kanne und Eimer, was bei der augenblicklichen Unordnung auf dem Kahn nicht so einfach war.
»Das lernt Ihr nun auch kennen«, meinte das Kind ziemlich ernst, »auf der Oder leben und kein Wasser haben.«
Unter diesem Mangel litt man sehr. Er erschwerte die Arbeit. Die Leute waren leicht gereizt. Es war nur gut, daß die spöttischen Zurufe von den anderen Schiffern aufgehört hatten, weil man sich allmählich an die unglaublichen Vorgänge auf dem Butenhofschen Kahne gewöhnte.
In den ersten Tagen war es nur immer so gegangen:
»Ihr baut wohl einen neuen Zirkus?« und: »Nun ja, den Pferdestall fanden wir schon immer bissel eng.«
Für die Köbener Einwohner war die Schiffsrenovation eine große Sache, jedenfalls soweit sie arbeitslos waren. Von früh um acht bis mittags um zwölf und von eins bis um sieben pünktlich beobachteten die Köbener Arbeitslosen das Werk der Artisten und Maler, und zwar von zwei steinernen Bänken unter den gewaltigen Akazien am Hafen aus. Die linke Bank gehörte, als wäre es Brauch und Überlieferung, den jungen Arbeitslosen, die rechte den alten. Um acht Uhr jeden Morgen, wie gesagt, verabredete man sich, mit dem ersten Schlag der Mittagsglocken ging man auseinander und fand sich nach genau einer Stunde wieder ein, um sich erst mit dem Abendglockenläuten wieder zu trennen.
In den Stunden, die man am Hafen verbrachte, wurden Karten gespielt; auf beiden Bänken, bei den Jungen, bei den Alten. An den Enden der Bank drängten sich die Männer dicht zusammen, in der Mitte blieb ein Platz frei, und wer nun gar keinen Fleck zum Sitzen mehr fand, der hockte breitbeinig auf der Lehne und schmiß von oben seine Schellenkönige und Herzasse. Dazu wurde Pfeife geraucht. Nicht nur während des stundenlangen Skates; auch auf dem Weg von und nach Hause.
Gab es dann und wann auch einmal eine Abwechslung, waren es die Versuche, etwas Vernünftiges zu angeln. Meist gingen sie fehl. Jetzt hatten die Arbeitslosen aber eine Unterbrechung: die Gespräche über den Kahn.
Fordan, der sehr rasch einmal in die Stadt hinüberlaufen mußte, um Nägel zu holen oder Blech zum Beschlagen zu bestellen, hatte man schon ein paarmal herangewinkt und mit einer letzten Zigarette aus zerknüllter Schachtel bestochen, ein wenig zu erzählen. Wem der Kahn gehöre. Wer das alles bezahle. Ob man fertig würde. Wieviel Leute vielleicht noch gebraucht werden könnten.
Fordan renommierte nach Herzenslust.
Am Sonnabend kam Wilhelmine mit ihrer alten Ledertasche selbst an den Bänken vorüber. Sie hatte für den Sonntag eingeholt. Die alten Männer trauten sich nicht recht, obwohl lebhafte Verhandlungen mit der anderen Bank stattgefunden hatten. Die jungen Leute riefen die kleine Butenhof bescheiden heran. Und dann rückten sie mit ihrer Bitte heraus. Ob der Kahn wirklich ihr gehöre. Wer das alles bezahle. Ob man fertig würde. Wieviel Leute noch gebraucht werden könnten.
Wilhelmine fühlte sich sehr geehrt. Sie wollte sich gleich zu den netten Burschen setzen. Aber da auf dem Mittelplatz Karten lagen, stellte sie nur ihre Tasche ab und kletterte hinten herum auf die Lehne, und die beiden Männer dort machten ihr höflich Platz. Es gefiel ihr gut, so zu sitzen. Trotzdem war ihr ernst zumute.
»Ist ja alles Unfug, was mein Bootsjunge geredet hat. Gar kein Geld habe ich. Und die paar Leute, die ich durchhalten muß, sind alles Erwerbslose wie Sie.«
»Gelernte Arbeiter?«
»Nee, ausgesteuerte Artisten.«
Und ein arbeitsloses Zirkuspony hätte sie auch unten. Da kam ihr ein glänzender Einfall. Sie klopfte den beiden jungen Leuten, die rechts und links unter ihr saßen, vergnügt auf die blauen Mützen.
»Weil ich gar nichts für Sie tun kann, werden wir Ihnen Sonntag eine Vorstellung geben.«
Die Burschen wurden mißtrauisch.
»Kostenlos. Eintritt frei«, beruhigte die Butenhof und machte eine einladende Bewegung auch zu der anderen Bank hinüber. Die älteren Männer traten schwerfällig näher.
Sie faßte den Entschluß ohne große Bedenken, weil sie ihr Rückgrat durch Herrn und Frau Kapitän außerordentlich gestärkt fühlte.
»Außerdem«, gab sie sehr weit einen Einblick in ihre Gedanken, »außerdem hält es mir meine Radaubrüder bei Laune. Die wollen mal wieder einen ordentlichen Fez machen.«
Sie hopste vorn über die Bank, griff ihre Einkaufstasche auf und rannte zum Schiffssteg hinunter. Nach ein paar Schritten wandte sie sich mit gerötetem Gesicht noch einmal um: »Und meinem Jungen lasse ich vom Steuermann ein paar ordentliche Dinger löschen.«
»Wir danken schön«, riefen die Arbeitslosen von beiden Bänken, »und bitte, vergiß es nicht.«
Aber sie meinten die kostenlose Vorstellung.