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XVII. Wimpel, Hüte und Grünberger Wein

Dreimal in ihrem Lauf fließt die Oder lange durch Wälder hin. Bis zu den Sandstreifen der weidenbestandenen Buhnen hinunter zieht sich die tiefe Wirrnis uralter Bäume. Eichen, Linden, Buchen, Ahorn und Kastanien schließen ihre Äste zu machtvollen Bögen über wildem Beerengesträuch und tiefen, stillen Seen von unheimlichem glattem Schwarz zusammen. Oderwaldblumen – leuchtender, größer, fremder als die Blumen des Landes – sind mit Schilfen und Binsen gemengt. Blätterranken umwinden die Stämme, ziehen sich schwebend von Krone zu Krone und schwanken lange, wenn der tiefe Flug eines Flußreihers sie streifte oder ein Storchenpaar aus der Weite niederstieß zu einem übersonnten Sumpf, den tausend und aber tausend kleine Blüten von Wasserschlinggewächsen dunkelgrün wie mit Moos und Silber bedecken.

Einmal im Jahr ist die Oder mit den Windungen ihres Waldes einem Regenbogen gleich: Wenn die letzten schweren Gewitter des Hochsommers neues, schwellendes blaues Wasser brachten und alle die dunkelstämmigen hohen Bäume den Glanz der Sonne widerstrahlen, die eine Reifezeit und eine Erntezeit der Felder hindurch über ihnen ruhte! Der Himmel wird durchsichtiger, ferner und kühler, die Blätter fallen, blaßgelb und dunkelrot, in unentwegtem Taumel auf die Ufer nieder, wehen in die Strömung, treiben mit den Wolken hin, die sich im Flusse spiegeln.

Dann ziehen die Kähne auf der Fahrt stromab ihr schweres Segel auf, der Mast wird gerichtet, der Kreuzsteg oben und unten an ihm festgehämmert, der Herbstwind wirft sich in das graue Tuch, und stolzer und festlicher schwimmen die Schiffe dahin. Die Zurufe der Männer von Kahn zu Kahn sind froher und lauter als sonst.

Wilhelmine Butenhof wußte sich vor Stolz gar nicht zu fassen. Was sie wohl auf den bekannten Kähnen sagen mochten, die einem begegneten oder die man überholte – das namentlich –, wenn die ›Helene‹ an ihnen vorüberflog, neu und blau, als Expreßfrachter vom Raddampfer ›C. W. V‹ in Schlepptau genommen! Für sie war es überflüssig, die Segelbahn aufzurollen – aber die Männer auf ihrem Schiff mußten ein übriges tun und das Segel hervorholen, obwohl die Frau Kapitän drüben vom Heck des Dampfers aus fragende Gebärden machte. Wilhelmine nickte nur immer freundlich: »Doch, doch.«

Ohne Segel wäre es für sie kein richtiger Herbst auf ihrem Kahn und ihrer Oder gewesen. Nun sah sie, die Hände auf dem Rücken und den Kopf emporgestreckt, wie der Wind Körbe voll gelber Blätter in ihr Segel warf und über ihr blaues Schiff ausschüttete. Und da es nicht mehr weit war bis Grünberg und bis Tschicherzig, konnte niemand das kleine Mädchen auslachen, daß es auch die Wimpel und die Fahne ihrer ›Helene‹ flattern sehen wollte.

Leuchtend blau, bunt behängt, mit geschwelltem neuen weißen Segel, von der Wolke des Dampferrauches freundlich umhüllt und mit den Gaben der herbstlichen Bäume bestreut, glitt der Kahn aus dem Walde und winkte mit seinen Wimpeln und Fahnen den sandigen Hügeln des Weinlandes. Auch andere Kähne strebten, nur langsamer, zum gleichen Ziel. Wer es nur irgend einrichten konnte, wollte am Winzerfest in Tschicherzig noch teilnehmen.

Von Grünberg bis zum Dorfe Tschicherzig wölben sich die kleinen gelben Berge, mit niedrigen, buschigen Weinstöcken bepflanzt, in breiten Wellen. An ihrem Fuß liegt Dorf bei Dorf. Die Häusergruppen sind nicht durch Felder, sondern üppige Obstgärten miteinander verbunden. Wie droben im Oderwald die Eichen und Buchen, so wachsen hier über Kürbissen, Astern, Malven und Gladiolen die Birnen-, Äpfel-, Nuß- und Pflaumenbäume am Ufer, und Zweige mit runden, wächsernen Kartäusern und rauhen, fiedrigen Quitten hängen auf den Rand des Stromes herab. Jeder der Gärten hat in seinem Lattenzaun eine Tür zum Ufer, zum Steg und zum Pfahl, an den der schmale schwarze Kleinkahn gebunden ist.

Die Früchte in der Niederung sind saftig und schwer; der Wein auf den Hügeln reift nur in kleinen, dürren Reben am Stock. Denn es ist das nördlichste Weinland der Erde. Die Menschen dort wissen es und zeigen ihren Stolz darauf. Wenn die Weinlese beginnen soll, begehen sie am Sonntag zuvor ein hohes Fest. Schon am Sonnabend kann jeder es merken, daß große Dinge sich anbahnen wollen.

Ginge es biblisch zu, so stünde in diesen Septembertagen über dem einzigen hochgelegenen Oberdorf ein heller Stern, genau über der Mitte der Weinberge, über der Kirche von Tschicherzig. Aus den Gartendörfern der Ebene, vom sandigen Hügelland her, aus den ruhigen, dunklen Waldhügeln weiter südwärts pilgern schon am Sonnabend die Frauen nach dem Festort. Und es ist, als gälte ihre Wallfahrt einer Göttin dieses Weinlandes. Die heißt Fräulein Speer, und ihr gehört das einzige Putzgeschäft der ganzen Gegend.

Einmal im Jahr, vor dem Weinlesesonntag, sprechen die Frauen am rechten Oderufer in weiter Runde von Fräulein Speer. Sie selbst vergißt es dann, daß sie außer der Ausübung ihrer modischen Macht noch ein wenig mit Spielzeug handelt, kleinen vergrauten und verbogenen Wattekätzchen; nicht einmal dazu kommt sie wie sonst – sommers und winters –, auf dem lila Kachelofen in ihrem Laden ihr Mittag- und Abendessen zu kochen. Zu diesem Zweck muß sie immer auf einen Stuhl steigen. Das ist eben das Zeitraubende. Am »Weinlese«-Sonnabend hat Fräulein Speer ihr Schaufenster umzugruppieren. Hüte für Sommer und Winter liegen immer gleichzeitig darin; auch die kleinen Wattekätzchen sind immer wieder hübsch. Aber zu dem großen Sonnabend schmückt sie ihr Fenster mit ein paar Weinranken; und das ist immer das Zeichen, daß eine neue Saison begonnen habe.

Von den späten Nachmittagsstunden an kommen die Frauen den sandigen Berg herauf. Den Rebenstöcken, durch die sie wanderten, schenken sie keinen Blick. Vom Stand der Ernte würden sie sich ja morgen überzeugen. Auch die riesigen Türme der bereitgestellten, ineinander geschachtelten Traubenkörbe beachten sie nicht und halten sich nicht an der Kirche auf, obwohl kleine Kastenwagen mit Girlanden an dem offenen Portal und der Sakristeitür stehen.

Morgen werden diese Girlanden in der Kirche aufgespannt sein, und Kreuze, Anker und Herzen aus roten und gelben und weißen Papierrosen werden leise raschelnd an ihnen hin und her schaukeln. Die Frauen gucken nicht einmal auf des Fräuleins Fenster, mag auch das Fräulein darin zeigen, was die Frauen lieben, zu Wasser und zu Lande.

Sie lassen die Türglocke anhaltend läuten, bis sie sich durch die halb offene, schmale Tür gezwängt und die beiden Stufen in den dämmrigen Raum hinabgetastet haben. Das Fräulein verkauft nur bei Lampenlicht.

Im Laden sind vier Schnüre von Ecke zu Ecke gezogen. Daran hängen die Hüte. Sie hocken, soweit sie Federn haben, droben wie Flußreiher und Odermöwen, wie Zwerghühner und Strupphühner, Malaienhühner und sogenannte Italiener. Andere Hüte hängen wie Zweige mit Pflaumen und Kirschen herab, wie Ährenbündel und Sträuße von Korn und Mohn. In roher und rührender Weise tragen diese Hüte zum Schmuck, was die einen dieser Frauen jahraus, jahrein pflanzen und ernten und was die anderen manchmal ersehnen, wenn ihr Kahn an Feldern und Gärten vorüberfährt und nur nachts fern von ihnen vor Anker geht.

Das ist der Reichtum dieses Ladens: alle Unterschiede der Jahreszeiten haben aufgehört. Jahr um Jahr reifen auf den Hüten in des Fräuleins Putzgeschäft Kirschen und Pflaumen zu einer Zeit. Was soll angesichts solchen Wunders noch ein Wechsel der Modelle.

Verschämt und glücklich im Bewußtsein, gutes Geld im Portemonnaie zu haben, für das man etwas verlangen kann, stehen die Frauen vor der lodernden Fülle ihnen vertrauter Ernteschönheit auf kleinen, steifen schwarzen und braunen Tellerchen aus hartem Bast und Filz. Wie sollte eine dieser Frauen einer dieser Hüte nicht kleiden? Sie setzen ihn vor dem schmalen blinden Spiegel einmal so und einmal so, und finden es immer richtig.

Wilhelmine Butenhof steht mitten unter ihnen und ist fest gewillt, anläßlich des morgigen Festes ihre Trauer endgültig abzulegen. Sie drängt sich so vor und benimmt sich so laut, daß Fräulein Speer ihr ganz ängstlich den Hut hinüberreicht, den Wilhelmine sich mit beiden Händen aus einem ganzen Berg herausgreift: kunterbunt und beglückend reich voller Blumen, Möwenflügel und Band, daß alle Wahl verstummt vor diesem Werk des Fräuleins, auch wenn es für eine ganz erwachsene Frauensperson bestimmt ist.

Die Putzmacherin drückt an Wilhelmines Locken herum.

»Der Hut ist dem Fräulein zu klein«, will sie ihre Kundin streng reell bedienen.

»Dann werde ich ihn eben höher tragen«, antwortet ihr die junge Schiffseignerin voller unerwarteter Güte und in ihrer gewohnten Entschlossenheit.

Das Fräulein hat den Frauen – ja, schnell muß das Fräulein an diesem Sonnabend sein – ihre Hüte in gediegene Beutel verpackt, und die Frauen verlassen fröhlich mit großen, guten Huttüten den Laden und wünschen Fräulein Speer einen guten Festtag. Mit einem breiten, stillen Glanz auf ihren Gesichtern gehen die einen ihren Gehöften, die anderen ihren Kähnen zu. In ihren Händen tragen sie beseligendes Eigentum und haben ihr Genüge allein an ihm und haben teil an aller Erfüllung.

Für die Männer ist die Wahl des Feiertagshutes natürlich einfacher. Die von den Schleppkähnen mit ihren bunten, großen Strohhüten suchen sich am Sonntagmorgen die blaue Tuchmütze mit dem gestickten Anker über dem Schilde hervor. Die Gäste auf dem Weinfest, die aus der Gegend südlich der Oder stammen, sind Holzbauern aus den Hügelwäldern und setzen sich festtags ihren Zylinder auf. Wohnen Bauern auf dem nördlichen Ufer, so verlassen sie ihr Gartentor an diesem Tage nicht ohne die Kapitänsmütze auf dem Stoppelhaar. Die Heidebauern aber, die weiter her von Carolath und Hohenborau, aus der Heide kommen, mit dem Fahrrad – meist ein Kind auf der Lenkstange –, führen zum letztenmal ihren derbgeflochtenen Strohhut aus. Dann laufen sie baren Hauptes, bis die Frau ihnen, um den Totensonntag herum, die Pelzmütze aus dem Mottenkasten aufs Fensterbrett zum Lüften legt.

Die vom südlichen Ufer setzen mit Pferd und Wagen auf der Fähre über und sehen die Oder nicht und reden vom Holzgeschäft und denken an den Gasthof, in dem die Flaschen mit dem alten Jahrgang Grünberger Wein aufgestapelt stehen. Die Gartenbauern von der Nordseite sind guten Mutes, sich endlich einmal wieder ordentlich mit Schiffersleuten über die Oder unterhalten zu können: wann das Hochwasser kommen wird; ob es diesmal etwa ganz ausbleiben könnte; ob sie etwa einmal ohne Furcht vor der Oder sich auf die nächste Obsternte freuen dürften, und auf dem Wege, dem alten Jahrgang Grünberger den Garaus zu machen und die Ernte der Nachbarn Winzer mit zu eröffnen, stecken sie sich noch William-Christbirnen und Butterbirnen rechts und links in die Jackentaschen.

Eine Gruppe aber, und sie ist von Wichtigkeit, trifft in Hanomag und kleinem Opel ein, mit Baskenmütze, Sportmütze und grauem, regulärem Herrenfilz. Das sind Weinhändler. Sie allein sind mißvergnügt. Grämlich schlendern sie durch die Weinberge, zupfen an den spärlichen grünen, kleinen Trauben und zucken die Achseln.

»Der wird wie der vorige Jahrgang, garantiert«, beruhigt sie der Winzer und schenkt ihnen in der Tür seiner Hütte in die bauchigen Gläser mit dem dicken Fuß bis zum Rande ein.

»Eben deshalb«, verziehen die Herren das Gesicht und schieben ihren grauen Konfektionshut in den Nacken.

Mit Seidenband, Blumen und Möwenflügeln auf dem Haupte rauscht Wilhelmine Butenhof an ihnen vorüber.

»Ein Schluck gefällig?« ruft ihr der Winzer nach.

»Ich danke«, neigt das Kind den schweren Hut, »ich muß schleunigst in die ›Traube‹. Meine Leute beginnen jetzt gleich mit der Vorstellung.«

»Ach, das ist die«, löst der Winzer den Händlern das Rätsel.


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