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II. Der Vormund

Als dieser Morgen da war, luden die Männer vom Schleppzug die Fracht vom Kahn ›Helene‹ – so hieß die verstorbene junge Frau Butenhof samt ihrem alten Kahn –, warfen die Stahltrosse und das Verbindungstau aufs Deck, und der Steuermann stieß das Schiff mit dem großen Ruder, der Potsche, noch näher ans Land. Das Haltetau am Land wurde fester um den Uferpfahl gewickelt. Der Schornstein des Dampfers rauchte, die Schrauben warfen mit den ersten Drehungen hohe Wellen auf, die Schiffer standen jeder an seinem Steuer, die Bootsjungen zogen die Stangen ein, mit denen man in die Fahrtrinne zurückgelenkt hatte, und der Schleppzug glitt stromauf, an der hügeligen Fischerstadt vorbei, durch Wiesen und Pappeln und Weiden hindurch, die Sandbuhnen entlang. Der Kahn ›Helene‹ und Wilhelmine Butenhof blieben zurück, um einen Vormund zu erhalten.

Es wurde schon gesagt, daß der Pastor, der Wilhelmine den Vormund zu geben hatte, noch ein wenig fremd im Ort war und seine Gemeindeglieder noch nicht so recht kannte. Da war das mit der Vormundswahl natürlich schwierig. Aber wenn der Pastor Herrn Müßiggang darum bat, das verantwortungsvolle Amt zu übernehmen, tat er wohl weder einen Fehlgriff noch eine Fehlbitte. Denn, um es rundheraus mitzuteilen, August Müßiggang hatte sich in der kurzen Zeit der Pfarramtsführung durch den neuen Geistlichen als der frömmste Mann der ganzen Gemeinde präsentiert. Er fehlte in keinem sonntäglichen Hauptgottesdienst und in keiner Bibelstunde Mittwoch abends; er war in den Beratungen der Gemeindevertretung von vornherein immer auf Seiten des Pastors, und niemand in der zweitausend Seelen starken Gemeinde konnte ihm auch nur das geringste nachsagen.

Das lag aber nur einfach daran, daß die ältesten Leute so allmählich weggestorben waren. Ihnen hätte es vielleicht einfallen können, Herrn Müßiggang so recht als Vorbild eines bekehrten, alten, argen Sünders hinzustellen. Aber nun waren einmal die ältesten Zeuthener nicht mehr da, und für die anderen mußte August Müßiggang als der frömmste Mann längs und oberhalb des Hafens dastehen. Er verfügte über eine kleine Rente und eine große Anspruchslosigkeit und harrte eines kirchlichen Ehrenamtes; denn in der Gemeindevertretung gab es schließlich noch sechsunddreißig andere Glieder neben ihm.

Die Übertragung der Wilhelmine Butenhofschen Vormundschaft direkt durch den neuen Pastor war natürlich eine Art kirchlichen Ehrenamtes. Er trat es an, und der neue Pastor hatte nichts mehr zu tun als Wilhelmine dem Pflegevater zuzuführen. Die Angelegenheit wurde Gott befohlen, und Wilhelmine Butenhof nahm darauf alles in eigene Hand.

Wer Vormund ist und sich Pflegevater nennen darf, hat vor dem Gesetz eine schöne Anzahl wichtiger Rechte. Aber, nicht wahr, wer das Geld hat, dem gehört natürlich die größere Macht. Und das war nun gar keine Frage: Herrn Müßiggangs Rentenerträge konnten sich nicht messen mit der seinem Mündel väterlicherseits hinterlassenen Brieftasche, den beiden Portemonnaies, dem Sparbuch von der Zeuthener Stadtsparkasse und der Schlesischen Schifferbank. Das erklärte sich daraus, daß Herr Butenhof auf einen neuen Kahn gespart hatte und vielleicht auch auf eine neue Frau; aber das war schließlich nicht so wesentlich.

Um von vornherein für klare Verhältnisse zu sorgen, packte Wilhelmine die beiden Sparkassenbücher und die beiden Portemonnaies, die Brieftasche und die mit Geld vermengten Scherben ihrer tönernen Sparkasse in eine Einkaufstasche aus schwarzem Leder, hängte sie an ihren Arm und stellte sich mit ihrer gesamten Habe, abgesehen vom Kahn, bei ihrem Vormund ein. Sie hatte sich verhältnismäßig hübsch frisiert, eine saubere Schürze umgebunden – was sie ungern und nur bei festlichen Gelegenheiten tat – und kratzte sich mit der von keiner Tasche in Anspruch genommenen Hand unentwegt hinter dem Ohr. Das ging immer abwechselnd; jetzt trug sie die Tasche rechts und kratzte sich links, jetzt hing die Tasche in der linken Hand, und sie hatte es mit dem rechten Ohr. Aus alledem läßt sich ersehen, daß Wilhelmine ernst zumute war.

»Je, ja«, grunzte der alte Mann, und Wilhelmine Butenhof kniff die Augen zusammen, mißtrauisch und erwartungsvoll, und schlug dann ihre Lider auf und nieder, daß die langen, dunklen Wimpern bald an die stolzen Bogen der Augenbrauen streiften, bald die runden, zart durchbluteten Wangen trafen. Dann stieß sie mit dem Fuß auf. Nicht gerade unhöflich kommandierte sie: »Nun aber mal los.«

Damit war schließlich das erlösende Wort gesprochen, und man konnte verhandeln. Zu diesem Zweck setzte man sich auf das Ledersofa, und nachdem Wilhelmine eine Weile an den aufgeplatzten Stellen des Sitzpolsters herumgezupft hatte, stemmte sie die Hände auf beide Knie und blickte Herrn Müßiggang mit vorgeneigtem Kopfe herausfordernd an. Die Tasche hatte sie zwischen sich und den alten Mann, allerdings mehr auf sich zu, gestellt. Sie bewies wieder einmal ihre große Vorliebe dafür, in der Redeweise der Erwachsenen zu sprechen, was ihr auch vorzüglich gelang.

»Wenn ich jetzt bei Ihnen bleibe und so hier in der Stadt lebe, na, da werden wir wohl mit meiner Erbschaft bald fertig sein.«

Wilhelmine interessierte sich höchlichst für Herrn Müßiggangs zugelaufene Katze, die seine Bettdecke zerzauste. Durch das Fenster über dem Bett sah Wilhelmine die Oder.

»Das wäre aber schlimm«, staunte der Vormund, und Wilhelmine nickte bekräftigend.

»Was ist denn das auch schließlich, so eine Tasche mit Geld«, zerrte sie an den Lederbügeln der Tasche und lehnte den Kopf seitlich zurück, »das ist nur dazu da, um immer weniger zu werden, sagte der Vatel, wenn er dem Steuermann die Löhnung auszahlte.«

»Tje, tje, tje, tje«, zwitscherte Herr Müßiggang durch seine letzten Zähne, und das silberne Lockengewudel nickte heftiger; außerdem schlugen Wilhelmines Absätze in regelmäßigem Takt aneinander; was sollte sie auch mit den Beinen anfangen, wenn sie noch nicht ganz vom Sofa bis zum Fußboden reichten.

»Da werden wir wohl den Kahn verkaufen müssen«, gab der Vormund zu bedenken und krimmerte sich mit dem ausgestreckten Zeigefinger unter der Nase.

Das Mündel ließ die Ledertasche los und brachte Herrn Müßiggangs gehäkeltes Chemisett in Ordnung; es war zur Weste herausgerutscht.

»Was das alte Ding schon bringen wird«, schob es die Unterlippe über die obere, so daß der rühmenswerte Amorbogen verschwand wie ein untergehendes Schiff.

»Meinst du?« erschrak der Mann.

Die Unterlippe blieb über der oberen, und die Wimpern hafteten auf den Wangen. Doch nun riß Wilhelmine die Augen munter auf, und das kleine Mundwerk stand nicht mehr still.

»Aber wenn wir den Kahn behalten und mit dem Kahn weiterfahren, solange er noch hält, dann können wir natürlich eine Menge herausholen.«

Es war Herrn Müßiggang angenehm zu hören, daß Wilhelmine, was die Besitzrechte auf den Kahn betraf, immer per »wir« redete. Von der Seite hatte er die Vormundschaft noch gar nicht angesehen. Aber als alter Mann mußte er selbstverständlich erst einmal widersprechen. Das wäre ja. Da könnte man ja. So eine Zumutung. Wo er vom ganzen Schifferhandwerk nichts verstehe.

Worauf Wilhelmine, das Mündel, bezaubernd lächelte: »Von welchem Handwerk verstehen Sie denn was?«

Jetzt lächelte der Vormund, abwehrend, verschwiegen und vielsagend, um sofort wieder ernst zu werden.

»Du bist ein gescheites Kind. Wir werden die ›Helene‹ verpachten.«

Wilhelmine nahm sich zusammen, den alten Mann nicht anzuschnauzen, wie sie es sonst gewiß getan hätte. Sie war entsetzt: »Nein, nein, das mit dem Verpachten geht nicht, ganz und gar nicht und ausgeschlossen. Die ›Helene‹ hat ihre Mucken, die nur der Vatel und ich und das Schindluder von Steuermann kennen. Und der Schweinekerl ist doch beim Kochale. Wenn die ›Helene‹ noch Geld bringen soll, dann muß ich schon selber auf dem Kahn sein.«

Sie packte die Tasche mit beiden Händen fest und ließ sie zwischen ihren Knien hin und her baumeln: »Mit Ihnen natürlich. Denn auf meinem Kahn sind Sie jetzt oberster Kapitän.«

Der Alte hielt den Zeigefinger unter der Nase still. Das war etwas.

»Und das ist etwas«, bestätigte Wilhelmine Butenhof nachdrücklich seine Gedanken.

»Werden Sie etwa ungern so auf dem Wasser 'rumfahren und nicht mehr fest wohnen?« wurde sie argwöhnisch. »Aber im Winter werden Sie ja immer hier sein«, beruhigte sie sich selbst und den Vormund.

»Oh, was das fahrende Leben betrifft«, strich jetzt der alte Mann zufrieden über sein Chemisett und tat sehr geheimnisvoll, »was das fahrende Leben betrifft –«

Wenn Wilhelmine Butenhof sich nicht sehr täuschte, so hatte der Vormund ein stolzes Lächeln zu verbergen. Sie klapperte mit den Wimpern, und Verschiedenes war ihr nicht ganz geheuer (trotzdem aber nicht ohne Verheißung).

»Und die Schule?« erkundigte sich Herr Müßiggang, und es schien ihm gar nicht recht zu sein, daß es dieses gefährliche Hindernis noch gab.

»Ja, nicht wahr, die Schule, verflucht und geschissen«, schimpfte der blonde Seraph, »aber Gott sei Dank nur im Winter, in der Schifferschule in Fürstenberg. Mit der Schule ist das für uns Schifferkinder schon alles so eingerichtet, daß wir wenigstens im Sommer –«

Sie zuckte ergebungsvoll die Achseln und flüsterte sanft: »Aber es dauert ja nicht mehr lange.«

»Im Winter müßten wir uns dann trennen?« wollte der Vormund wissen, und Wilhelmine erkannte daraus, daß der Handel geschlossen war.

»Aber die ›Helene‹ bleibt bei dir in Zeuthen«, billigte sie, zum Du übergehend, dem Alten zu, »hier im Hafen, daß du sie jeden Tag vom Fenster aus sehen kannst.«

»Ein schönes Schiff«, belog sich der Vormund aufseufzend, und Wilhelmine seufzte mit. Dabei drückte sie ihm ihre Tasche in die Hände, worauf er »Tochterle« zu ihr sagte und »nu, mein Herzerle«.

»Aber alles aufschreiben, was du mir gibst«, vergewisserte sich das Kind.


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