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Auch das Schifferkind empfand es als Wohltat, wieviel Wärme die Häuser der Fischerei ausstrahlten, als könnte man sich in den alten Mauern verkriechen wie in einem Bett. Sie waren durchfroren, als sie nach ihrer Marketenderfahrt den Kahn an seinem Steg im Hafen anketteten, der Wall von Wärme umgab sie wie ein Schutz. Die Flußschiffer haben auch eine heimliche Liebe für die Häuser; jeder von ihnen gehört ja für Wochen in eine Stadt, in ein Dorf. Aber die Häuser müssen nahe ans Wasser gebaut sein. Am Abend soll der Lampenschein bis zum Fluß hindringen, höchstens darf noch ein hoher, breiter Baum sein Licht auffangen.
Gegen den kalten Wind von der Oderseite sicherte man sich in den Stuben durch Moospolster zwischen den Doppelfenstern. Manchmal steckten Papierblumen im Moos. Die hellen Fenster schachtelten sich übereinander, vom Hafen, der Fischerei und der Neustadt drunten bis hinauf zum Markt.
Der Abendrauch der vielen flachen Schornsteine und die Dämmerung verwoben sich; Schneewolken streiften darüber hin; über das holprige Marktpflaster hörte man bis zu dem Kahn am Ufer drunten einen Landwagen rattern. Aus den Türen roch es nach warmen Pellkartoffeln. Nur Burdas Haus war verschlossen und dunkel.
»Das macht der Vater öfters so, wenn er mit Viehtreibern weg war und dann mit ihnen noch in der ›Hoffnung‹ sitzt«, erklärte Michel der Kleinen, ohne sich zu beschweren, »er weiß dann schon, daß ich 'raufgehe zum Fräulein.«
Und das Fräulein würde sich ganz bestimmt freuen, wenn Wilhelmine schnell einmal mitkäme, ihr guten Abend zu sagen. Der Onkel wußte ja, daß sie erst später daheim sein wollten.
Sie schleppten nur noch die Kisten und Körbe in den Hof; Michel behielt seine Geldtasche am langen Riemen um den Hals gehängt, und sie machten sich auf den Weg treppauf.
Jedesmal schalt Fräulein Zerline auf dieselbe Weise.
»Hat der Vater wieder nichts Warmes für ihn. Hat der Vater wieder nicht geheizt. Kann der Junge wieder nicht 'rein und rechtzeitig für die Fortbildungsschule arbeiten. Muß er sich dann wegen 'm Vater wieder grob kommen lassen. Dabei ist der Junge wie 'n richtiger Kaufmann, besser als unsereins, bloß zu Wasser. Nutzt der Vater mich aus, daß ich dem Jungen Abendbrot geben muß.«
Der einzige Unterschied zu den üblichen Schmähreden des Fräuleins war heut, daß es, gleichsam als Begrüßung, alles das zu Wilhelmine sagte, heiser und aufgebracht, mit einem leichten, wütenden, starren Zittern des Kopfes. Das Fräulein war riesengroß, und seine Augen traten ein bißchen hervor, wenn es so nach unten räsonierte. Man hätte sich vor dem Fräulein fürchten können, hielte es nicht eine Kinderband so lange und so warm in seinen knochigen Fingern.
»Wilhelmine Butenhof, Butenhof vom Kahn ›Helene‹«, unterbrach das Mädchen mehrmals den Redestrom, den rauhen, ohne Verlegenheit. Schwadronieren schüchterte die Butenhof weiter nicht ein.
Das Fräulein mußte die Vorstellung längst begriffen haben; es wollte sich wohl nur nicht stören lassen; denn als Michel damit anfing, groß zu erklären, zitterte es heftiger mit dem Kopf, daß es nach völliger Ablehnung aussah.
»Weiß schon ganz von allein. Hat ja dem Jungen so ein Licht aufgesteckt, daß er noch ganz unabhängig werden wird vom Vater, dem Ekel. 's Essen wird aber nur für zwei reichen.«
Steif und direkt ein bißchen stolz ging Fräulein Zerline Leitgöbel zum Tisch, wischte die Wachstuchdecke ab und legte die beiden schwarzen Holzbestecke hin.
»Nein, nein, ich danke auch schön«, blieb Wilhelmine stehen, wo Fräulein Zerline sie verlassen hatte; »ich muß ja beizeiten beim Onkel sein.«
»Taugt der denn was?« klirrte das Fräulein mit den derben weißen Tellern.
»Auf dem Wasser, ja. Auf dem Lande muß ich erst sehen, aber ich glaube, da nicht.«
»Die ist drollig«, lachte Fräulein Zerline kurz, blickte auf den müden Knaben herab und kniff dabei eine ihrer Falten unter dem Kinn zusammen, als hätte sie trotz ihrer Magerkeit einen Kehlbraten, »zünd die Lampe am Ladentisch an; die Butenhof soll sich eine Puppe aussuchen, eine von den kleinen im linken Karton.«
»Danke«, ging Wilhelmine sogar einen Schritt zurück, »ich habe einen Kahn und ein Pferd.«
Fräulein Zerline faßte es als Verabschiedung auf.
»Die kann wieder kommen«, lachte sie ein bißchen heiser und ein bißchen dröhnend, »zu Lichten mal.«
In Zeuthen durfte man es noch so nennen. Wer abends eine Visite machte und nicht versprechen konnte, ob er noch vor halb elf, elf Uhr heimkam, der mußte seine Laterne mitnehmen; es durfte ja eine elektrische Taschenlampe sein. Denn Punkt zehn Uhr wurden sämtliche Gaslaternen an den Straßenecken auf dem Markt unweigerlich ausgelöscht.
»– 'nen Moment noch«, hielt das Fräulein die junge Besucherin nun aber doch zurück, »man erzählt sich ja verschiedenes von deinem Kahn.«
Michel, der den Kopf müde in die Hände gestützt hatte, stimmte vom Ofen her zu.
»Nicht denken würde man das von dir, wenn man dich kennt, daß ihr so 'nen Allotria treibt.«
»Das hat was Künstlerisches«, verwies ihn Zerline. Das Abendbrot war fertig, und sie hob den Deckel von der Terrine.
»Und was Künstlerisches ist immer gut. Davor muß ein jedes seinen Respekt haben. Ich bin sehr für das Künstlerische.«
Schließlich hatte sie es mit ihrem Puppentheater, dem Flittermantel und der Verehrung für des Pastors Schwägerin vom Nürnberger Stadttheater längst bewiesen.
»Ich bin mehr für die Oder. Daß meine Leute ordentliche Schiffer sind.«
»Aber wohl weniger für die Schule?« Das Fräulein wirkte mehr schroff als spitz.
Wilhelmine geriet in leichte Verzweiflung. Also auch hier hatte es sich herumgesprochen. Aber zum Glück war ihre alte Heftigkeit im rechten Moment immer noch am Platze und zur Hand.
»Was man von der Oder wissen muß, das habe ich gelernt, und das ist genug, und das kann ich auswendig. Den Lieselberg, auf dem sie entspringt. Und die Nebenflüsse. Und die Mündungen. Peene, Swine, Dievenow. Und den Artikel 341 vom Versailler Vertrage.«
Das Fräulein mochte es nicht glauben. Es schob Wilhelmine einen Stuhl hin, suchte nach einem dritten Teller, und der Junge wurde wieder munter.
»Es reicht«, erklärte das Fräulein. Gemeint war das Abendbrot. Wilhelmine bezog die Äußerung auf den Artikel 341 und seufzte ergrimmt: »Ich mein's auch.«
Und dann bewies sie, was sie konnte. Aber wieder darf niemand an die Mahlzeit denken, sondern es ist noch immer vom Artikel 341 die Rede.
Das ging wie am Schnürchen: »Die Oder ist der Verwaltung einer internationalen Kommission unterstellt, in die Preußen drei, Polen, die Tschechoslowakei, England, Frankreich, Dänemark und Schweden je einen Vertreter entsenden.«
»Da muß man ja begreifen, daß sie sich nicht so fürs Künstlerische interessiert, wenn sie so fürs Politische ist«, wurde das Fräulein Michel gegenüber lebhaft.
»Für die Oder«, schlang der Junge sein Essen hinunter.
Der Leitgöbel lag daran, von ihrer ans Schauspielerische grenzenden Wandlungsfähigkeit und Vielseitigkeit zu überzeugen.
Ob nicht die Kanalfahrten besonders interessant seien? Ob Wilhelmine Butenhof alle Kanäle kenne?
Freilich. Den Friedrich-Wilhelm-Kanal. Den Fürstenberger Oder-Spree-Kanal. Aber nicht das mindeste mache sie sich aus den Kanälen. Das mit den Schleusen sei so unnatürlich.
»Das Unnatürliche mag ich auch nicht, nur das Theatralische«, bekannte das Fräulein.
Eine durchaus hübsche Tischunterhaltung entwickelte sich, und Wilhelmine bekam einen ordentlichen Schreck, als der Regulator acht Uhr schlug. Michel brachte sie heim. Unterwegs wurde sie schweigsam und unwillig. Sollte sie sich vielleicht davor fürchten, ob der Onkel wegen ihres späten Nachhausekommens tobte oder nicht? Hatte sie das nötig? Da war doch wirklich alles auf den Kopf gestellt.
Sie war Herr auf ihrem Kahn. Sie.
Aber leider nicht im Hause. Sie wußte schon, der Onkel würde über dies und das mäkeln. Aber er sollte nicht herausbekommen, wo sie gewesen war.
Wilhelmine wurde darum gebracht, so recht von Herzen aufsässig zu werden. Der Vormund war selbst noch nicht daheim. Beim Ackerbürger Niedergesäß steckte er in der Küche und machte ihm und seiner ganzen Familie klar, was er seinem Mündel zu bieten imstande sei.
Stube, Kammer, Küche, Flur. Wer das sonst noch für so ein armes, verlassenes Würmel bereit hätte.
Niedergesäß nickte: »Eben, eben.«