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Die veralteten, nachgesandten Ausgaben des ›Beobachters‹ hatten recht gehabt. Der Wasserstand verschlechterte sich zusehends. Man kam gerade noch mit Not und Mühe in den Köbener Hafen hinein. An den letzten Buhnen vor dem Hafen war schon schwierig vorbeizusteuern; die Kähne drohten auf den Buhnenköpfen oder auf Sandbänken aufzulaufen. Zum Glück drückte keine schwere Ladung die Kähne hinab, und Tiefgang wurde einem nicht verhängnisvoll; die ›Helene‹ jedenfalls hatte für ihre Ladung nur Ordre bis Steinau gehabt. So empfand man zunächst einmal eine Erleichterung, daß die Einfahrt in den Hafen ohne Unfall vonstatten gegangen war. Die gedrückte Stimmung über den unfreiwilligen Aufenthalt von unabsehbarer Dauer trat dahinter zurück.
Gerade hatte Wilhelmine Butenhof auf ihrer ›Helene‹ für gute Schiffersitten und ordentliche Leistungen sorgen wollen, da wurden ihre guten Absichten vereitelt. Und es war so selten, daß sie die rechten Vorsätze faßte. Wilhelmine wollte es gar nicht glauben, daß der Sommer sie an der Durchführung ihres Besserungsplanes hindern sollte. Noch barfuß und im Nachthemd, im nur flüchtig übergeworfenen Rock stieß sie am frühen Morgen die Luke an ihrer Kajütentür auf und war von keinem anderen Gedanken, keiner anderen Empfindung beherrscht als dem Wunsch nach Regen, nach jähem Witterungsumschlag.
Aber Helle des Augustmorgens blendete sie; schon in den zeitigen Morgenstunden breitete sich der Dunst der Hitze über dem Wasser und den Ufern aus; und die langen Schatten der Bäume an der Stadtmauer schienen keine Kühlung zu gewähren.
Bekümmert sah das Kind zur Oder hinüber. Die Steinmolen der gefährlichen Buhnenköpfe ragten hoch aus dem Wasser, und in den Buhnen selbst konnte man an den zerspülten Stufungen von Sand und getrocknetem Lehm deutlich erkennen, wie rasch das Wasser von Morgen zu Morgen gefallen war. Vom vorigen Tage her zeichnete sich nur noch eine schmale, feuchte, dunkle Linie in der gedörrten Erde ab. Die Pfähle, mit denen man ein Freibad abgesteckt hatte, standen weit aus dem Sand und Schlamm heraus, und die Kinder wateten im Gänsemarsch durch den Fluß, um schon vor den Mittagsstunden Erfrischung zu finden; denn es waren große Ferien. Die Oder war zum Lachen! Keine tiefe Stelle bedrohte die Kinder, nur die Strömung riß an ihnen, so daß sie in der Mitte des Flusses mit den Armen balancieren mußten. Der kleinen Butenhof war es unfaßlich, daß der Dampfer gestern noch eine Fahrtrinne gefunden hatte. Ach, es lohnte nicht, auf die Oder auch nur einen Blick zu werfen. Sie war ein Kinderspott geworden. Aber die Schiffer konnten darüber verarmen. Ergrimmt wandte das Mädchen sich der Stadt zu.
Der Hafen lag ländlich, schön und unbrauchbar unter alten Bäumen. Eine schmale, aber langgedehnte Wiese, der Köbener Lantsch, trennte die ersten Häuser von ihm ab. Gestern noch waren die Gräser dicht und lang gewesen; nun hatte die Glut sie welk zusammenfallen lassen. Hinter der Wiese stiegen glatte, graue Festungsmauern empor, an die sich bescheidene Ackerbürgerhäuser und zwei Kirchen mit spitzen Türmen lehnten. Die stille, graue Stadt und die alten steinernen Wälle wurden von einer Sichel von reifen Feldern im Halbrund umschlossen. Es zog Wilhelmine Butenhof zu ihrer rauschenden Fülle hin. Dort, dort war die Armseligkeit der Oder nicht zu spüren, dort drüben wurde die unerbittliche Sonne zu Segen und Reichtum!
Auf dem eigenen Kahn und im übrigen Schleppzug regte sich keinerlei Leben. Obwohl Wilhelmine sich gern mit ihren Leuten herumgezankt hätte, mußte sie ihnen doch recht geben, wenn sie in den Hochsommertag hinein faulenzten. Die ›Helene‹ und die Oder brauchten heut keinen Menschen. Auf dem Wasser war es ja schon weit gekommen, wenn eine Schifferstochter am Morgen den Entschluß fassen mußte, in den Feldern hinter einer Stadt spazieren zu gehen!
Ohne Hut, barfuß in Schuhen lief Wilhelmine den Feldern zu, so sehr verlangte es sie danach, sich von den gelben Wogen umfangen zu lassen.
Im Frühling, als die Oder noch breit und stark dahinfloß, hatte sie weithin die Äcker der Ebene getränkt. Ja, es war, als habe sie sich an sie verschwendet, daß nun die Ähren so schwer, so voll von hohen Halmen hingen. Das Kind war wie versöhnt. Auch in dem goldkörnigen Weizen, in der langgefiederten Gerste und dem wie Gräser zitternden Hafer, dem blonden, schwankenden Roggen fand es den Fluß wieder. Roten Mohn, blauen Rittersporn, Kornraden, Zichorienblüten und Glockenblumen, Klee und weiße Margueriten trug ihm die Oder ans Licht.
Wilhelmine Butenhof kümmerte sich nicht um die Landgesetze und schlug ihren Weg quer durch das reife Korn ein. Sie war in der Wandlung dieser Stunde den aufschreckenden grauen Feldschmetterlingen nicht minder freundlich gesinnt als den flirrenden blauen Libellen über dem Strom.
Und dann wußte das kleine Mädchen jäh, daß es auf dem Grund der alten Oder hinschritt. Eine tiefe Mulde tat sich in unruhigen Buchtungen zwischen den Feldern auf: das Flußbett der Oder, ehe der große König ihr neue Bahnen grub. Sauerampfer und Rhabarber wucherten über längst versickerten Wasserstellen, dichte Gerstenbüschel hingen von den erhöhten Rainen, die einmal Ufer waren.
Schwarz, groß und schwer ragte ein Schiffsbug aus den Ähren, die wehenden Dolden streiften seine Planken. Feldwinde und Brombeergesträuch umrankten in blühender Wirrnis das Wrack. Federnelken und Wiesenschaumkraut drängten sich unter seinem Kiel hervor.
Das Herz des Schifferkindes klopfte hörbar; eine unbeschreibliche Zärtlichkeit ließ Wilhelmine den toten Kahn scheu streicheln und seine Wände betasten. Sie kniete in seinem Schatten in dem hohen Gras und spürte den Geruch des Wassers in den Planken des Schiffes.
Dunkel ruhte das Wrack unter zitternden Ähren und steilen, weißen Wolkenzügen, ein Abbild milden, feierlichen Sterbens. Den Kahn, versunken auf dem Grund eines tiefen Stromes, hob die Erde dem Himmel näher und näher und schmückte ihn mit den Halmen und Blumen fruchtbarer Felder.
Die Hände hingen dem vom ungewohnten Fußweg rasch ermüdeten Kinde schlaff herab, nur seine Locken, die in die Farbe der reifen Ähren übergingen, streichelten noch in bangen Bewegungen die Bordwand. Wilhelmine hatte den Kopf an das Wrack gelehnt, so eng, daß die heißen Wangen an das kühlende Schiffsholz gepreßt waren.
Die jagende Strömung der Oder hatte den Kahn umpocht und umspült – nun tropften einzelne, scheue Kindertränen über sein morsches Gebälk. Die Augen des Kindes waren weit geöffnet, aber ihr Glanz war ausgelöscht, verdunkelt von der Trauer um die plötzlich begriffene Vergänglichkeit des Kahnes ›Helene‹.
In der steigenden Sonne blitzten Sensen über dem Wall der Ähren. Rufe zur Arbeit weckten das kleine Mädchen. Die Ernte begann, und unter einer schwingenden, im Morgenlicht aufstrahlenden Sense sank ein voller Streifen ährenschwerer Halme hin, als bahne ein Fluß sich ein Bett in die Felder.
Wilhelmine streifte einen Marienkäfer von ihrer Stirn, schüttelte einige Ameisen aus ihrem Rock und suchte den Heimweg zum Hafen. Nirgends war ein Rain. Nur dort, wo der karge Kiefernwald an das Getreide grenzte, waren Halme niedergetreten, und sie erschrak.
Die Oder, überall im Land die Oder. Ein Schifferhut aus fahlem, gelbem und grünem Stroh, wie der Steuermann ihn trug, hing in den Kornblumen und Zichorienblüten. Da rannte Wilhelmine Butenhof querfeldein.
Und der junge Steuermann ihres Kahnes wußte nichts von der Nähe eines Menschenkindes, als er das Glück genoß, nicht in der engen, düsteren, rauchigen Hinterstube eines Hafengasthauses, sondern in dem goldenen Garten des hohen Sommers bei einem Mädchen zu liegen, das dunkeläugig war wie der Wasserspiegel der Oder und hellen Leibes wie die weißen Möwen über dem Fluß.