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XX. Streik und Gefahr

Dem tatkräftigen Kinde gefiel es zunächst ganz gut, blaß, müde und umhegt im Bett zu liegen. Wilhelmine hauchte mehr, als sie sprach. In jede neue Lage versetzte sie sich mit aller Inbrunst. Nachdem sie den letzten Rest des Schlafmittels ausgeschlafen hatte, stellte sich allerdings Heißhunger bei ihr ein. Sie unterdrückte ihn gewaltsam. Darüber wurden ihr die Schwierigkeiten bewußt, vor die sie plötzlich gestellt war. Sie durfte nicht gesund werden. Da mit Gura alles geglückt war, hatte ihr Schwächeanfall weiter als der Anfang einer schweren Erkrankung zu gelten. Woher sie nehmen, ohne daß es auffiel? Wie sich leidend verhalten, wenn man nicht einmal wußte, wie man sich bei den verschiedenen Unpäßlichkeiten zu benehmen hatte? Wilhelmine Butenhof war ein sehr gesundes Kind.

Den Vormund und die Kapitänsfrau beurteilte sie richtig. Das waren viel zu brave, ordentliche Leute, als daß sie nicht nach einer baldigen Genesung ihrer Patientin auf deren Rückkehr nach Fürstenberg bestanden hätten, auf einsamer Rückkehr per Eisenbahn. Denn das war klar: der Rektor der Schifferschule würde den Dingen keineswegs ihren Lauf lassen. Wilhelmine konnte es sich gut ausdenken, wie häßlich man in Fürstenberg wieder von ihr reden mochte:

»Bei Kunstreitern treibt die Butenhof Wilhelmine sich 'rum. Schulfieber hat sie. Die Polizei wird sie holen.«

Jetzt war ihr aber wirklich schlecht im Magen. Sie sah es in ihrer Kabine von Ärzten, Polizisten und Rektoren nur so wimmeln und eine ganze Klasse von Ordnungsschülerinnen mit ausgestrecktem Zeigefinger auf sie deuten:

»Die wird nicht konfirmiert und hat dabei ihren Vormund vom Pastor bekommen!«

Das Kind warf sich in seinem Bett unruhig hin und her.

»Will es immer noch nicht besser werden?« schalt Frau Kapitän bekümmert und war unglücklich, daß der letzte Marketender weder Rindfleisch für eine Brühe, noch Eier unter seiner Ware an Bord gehabt hatte.

Viel zu gut will es werden, hätte Wilhelmine am liebsten losgeheult. Von Brühe und Eiern vermochte sie gar nicht zu hören. Aber ihr blieb kein anderes Mittel als der Hungerstreik, und jeden der Männer, der sich an der Kajütentür nach dem Zustand des Mädchens erkundigen kam, mußte Frau Woitschach enttäuschen: »Sie ißt nichts. Nicht einen Bissen will sie haben.«

Gura behauptete, das sei die schwerste Krankheit, die er je mit angesehen habe.

Nach ein paar Tagen fanden auch die anderen nicht so übertrieben, was er sagte. Wilhelmine war wie verfallen. Zwei gerade, dunkle Striche zeichneten sich quer unter ihren Augen ab. Sie redete nicht mehr und zuckte nur wimmernd zusammen, wenn der ›C. W. V‹ seine Sirenenpfeife ziehen mußte, wie jetzt eben vor dem Anlegen in Küstrin.

Es war noch nicht so spät, daß man Fordan nicht noch auf das Hafenpostamt schicken konnte, nach den postlagernden Sendungen für die Schiffer zu fragen. Herrn August Müßiggang aus Zeuthen erwartete ein amtliches Schreiben, das ihn während des Küstriner Aufenthaltes baldmöglichst zu einer Vernehmung zitierte. Deshalb mußte die Fahrtunterbrechung verlängert werden.

Der Polizeibeamte erklärte dem Vormund, Herrn Müßiggang, daß man unter diesen Umständen polizeilicherseits nicht mehr eingreifen könne. Der unter diesen Umständen allein zuständige beamtete Schularzt sei Medizinalrat Kramer. Der äußerte sich dahin, daß die Schülerin in ihrer gegenwärtigen Verfassung für den Schulbesuch und die Erziehung in einem Internat nicht in Frage käme. Wegen exorbitanten Kräfteverfalls sei die Zurückstellung vom Schulbesuch und von der Aufnahme in ein Internat unter Kinder von gesundheitlich normalem Zustand anzuraten.

Soweit legte Herr Medizinalrat seine Meinung schriftlich fest, für den Rektor und die Polizei. Privat vermutete er, daß der Kleinen das Leben auf der Oder ohne regelmäßige Pflege durch weibliche Personen nicht bekomme. Er hielt für angebracht, daß nach der Landung in Stettin – so drückte Herr Medizinalrat sich etwas seemännisch aus – ein Spezialist konsultiert werde. Der müsse seinem Ermessen nach, wahrscheinlich wenigstens, die Verschickung der Schülerin in völlig andere Umgebung respektive Gebirgsklima veranlassen. Doch möchte er dem Entscheid des Fachkollegen nicht vorgreifen.

Die Kapitänin und Müßiggang sagten zu allem »Ja« und »Besten Dank« und »Das haben wir auch schon gedacht«.

Beim Verlassen der Kajüte bemerkte der Medizinalrat noch, auf vorzeitige Störungen durch die Erscheinungen des Entwicklungsalters bei Mädchen von so labiler Konstitution sei besonders achtzugeben. In Gegenwart von Müßiggang fand Frau Kapitän das ziemlich unanständig, während sie ein ernstes Gespräch von Frau zu Arzt nicht ungern geführt hätte.

Der Küstriner Aufenthalt bot Frau Woitschach immerhin die willkommene Gelegenheit, sich alles zu besorgen, was sie zu Wilhelmines Stärkung für notwendig hielt. Nach der Visite des Arztes war das Kind auch dazu bereit, ein paar Löffel Bouillon zu sich zu nehmen. Es empfand die Notwendigkeit, sich widerstandsfähiger zu machen für einen neuen Kampf, den Kampf gegen eine zweite Untersuchung, gegen die geplante Abschiebung ins Gebirge.

Beim ersten Aufstehen hing das schwarze Kleidchen viel zu weit um Wilhelmine herum. Die Locken hatten etwas von ihrem Glanz verloren. Die Hände wirkten dünn und bläulich, die runden Wangen schlaff und eingefallen. Die derbe, laute Stimme war ganz schüchtern geworden. Kapitänin und Vormund zeigten sich nicht fähig, ihre Verwirrung und Rührung zu verbergen, als die herrische, kleine Person jetzt so flehentlich und zaghaft bettelte. Immerzu fröstelte es sie, und man mußte ihr ein Tuch umhängen.

Was Wilhelmine aber sprach, verriet dennoch ihre alte, ungebrochene Entschlossenheit. Seit ihr der Kahn gehörte, wollte sie keinesfalls mehr von ihm heruntergehen. Und es war ihr unerträglich, in einem Schlafsaal mit den vielen Mädchen zu liegen, wo sie ihre eigene Kajüte hatte. Und Hannchen. Und ›Helene‹. Und alles hier.

»Ostern komme ich sowieso aus der Schule. Und lernen tue ich nie etwas. Seht doch meine Hefte nach.«

Voller Verantwortlichkeitsgefühl konnten ihre beiden Freunde nicht umhin.

Wilhelmine mußte ihnen erklären, was das in den Diktaten hieß: »Das Trummele hat eine Schüzbe« und »Die Hödaunde böllen vor dem frezen.«

Der Turm hat eine Spitze. Die Hunde bellen vor dem Fressen.

»Du bist doch sonst so ein redegewandtes Tochterle. Wie ein Erwachsenes sprichst du doch, Mindel.«

Und die Nebenflüsse könne sie auswendig, betonte die Butenhof und schnurrte nur so herunter: »Oppa, Zinna, Hotzenplotz, Glatzer Neiße, Ohle, Weistritz, Katzbach, Bober, Lausitzer Neiße. Und Bartsch und Warthe rechts.«

Aber schreiben könne sie eben nicht. Das ginge immer los mit den Buchstaben, daß sie nicht wisse, was anfangen.

Die Schrift war auch ganz holprig und hart, zu groß und zu kindlich.

Wilhelmine zog die Stirn übermüdet in tiefe Falten. Es war schon wieder zu viel für sie.

»Was haben sie denn bloß in der Schule dazu gesagt, in Fürstenberg?«

»Ich war die Verachtetste aus der ganzen Klasse.«

Die Butenhof blickte scheu auf den Onkel, Frau Woitschach und dann vor sich hin.

Das durften Vormund und Kapitänin für die Zukunft nicht dulden. Aber die Einsegnung? Nun war Konfirmandenunterricht unmöglich.

»Nicht einsegnen«, schloß das Kind, und die Erwachsenen hofften noch immer auf einen Ausweg. Die unnatürlich groß gewordenen Mädchenaugen blieben auf ihnen haften.

»Ich werde immer wieder hungern, wenn ihr mich zurückschicken wollt.«

Sie taten Wilhelmine auch den Willen, als sie nach Tagen die Oder wieder sehen wollte. Man rückte ihr einen Stuhl neben Hannchens Stall. Dort war sie vor dem Wind etwas geschützt.

»Das wird aber ein Hochwasser«, legte die Kranke die Hände in den Schoß.

Die Wiesen um Schwedt waren wie endlose Seen, von schmalen Wiesenstreifen durchschnitten. Alle Kühe hatte man schon seit Stunden von der Weide getrieben. Wo sonst die Buhnen lagen, kreisten Ketten von wirbelnden Strudeln. Von den Weiden ragten nur halb entlaubte Wedel aus dem Wasser. Die Oder rauschte machtvoll, unheildrohend in trübem Gelb dahin.

»Kommen wir noch gut bis Stettin?« bangte sich das kleine Mädchen mit einemmal vor Erregungen.

Es fühlte sich fiebrig.

»Wachswasser macht mich immer bissel krank.«

Doch jeden Morgen wollte Wilhelmine Butenhof es wissen, was auf der Oder geschah. Einer Butenhof konnte man eine Gefahr für ihren Kahn nicht verbergen. Manchmal ließ sie sich eine Stunde lang nicht von der Seite des Steuermannes vertreiben.

»Wißt ihr auch ganz genau, daß wir hier nicht auf eine Mole rammen? Hinter Schwedt hier war doch bestimmt eine Mole.«

Dann beruhigte sie sich, weil sie noch die äußerste Spitze eines weißroten Schiffahrtszeichens über der Strömung entdeckte.

»Kommen wir noch unter der Brücke durch?«

Alle fühlten sie die Pfeiler unter dem Ansturm der Wassermengen beben und waren bedrückt, daß Dampfer und Kahn nur noch so flach unter der Brücke hindurchkrochen. Abgebrochene Äste, Gewinde aus Stroh, Tang, Laub und Schmutz, ein losgerissenes Beiboot trieben neben ihnen.

Die Dörfer, die kleinen Städte, die tiefer gelegen waren, standen unter Wasser. Von Haus zu Haus waren Bretter über Pflöcke gelegt. Dort, wo die Menschen schon in das obere Stockwerk geflüchtet waren, führten die schmalen Stege nur von Fenster zu Fenster. Die Kinder ruderten in dichtbesetzten Kähnen zur Schule.

Es war gar nicht mehr, als trete die Oder über ihr Ufer. Fremde Fluten von modrigem Geruch schienen über ihr zusammenzuschlagen; von überall, her strömte gurgelndes Wasser heran, um Baumkronen, kahle Äste unheimlich brodelnd. Kadaver von Hasen und Rehen wurden herangeschwemmt und fingen sich in ihnen wie in einer Wildfalle.

Zum erstenmal, seit er Schiffer war, verspürte der Bootsjunge Fordan eine dumpfe Angst. Was Wilhelmine denke?

»Die Oder ist nicht gut«, ließ sie ihre Augen über die zerfetzten Wolken hinstreifen, die voll unermeßlichen Regens tief über dem Aufruhr des Stromes hingen. Nirgends war noch ein Kahn.


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