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XXV. Oderkrebse, Brieger Gänse

Halb Zeuthen wartete auf der Brücke. Alle wollten es sehen, wie die flachen Eisscheiben an klobigeren Blöcken zersplitterten, wie die schweren Schollen sich gegeneinander stauten und ihre Schneekrusten sich verhafteten – wie in wenigen Minuten die Oder zum Stehen kam. Das Rauschen und Knistern verebbte, es verwandelte sich in ein hartes Knacken; es dröhnte unter der Brücke. Ganz weit drunten, an der Carolather Biegung, sah man noch die »Brieger Gänse« schwärmen, von Nenkersdorf flogen neue heran. Treibeis! Treibeis!

Lattersch zog Wilhelmine zum anderen Brückengeländer hinüber, damit ihr das Schauspiel nicht entginge.

»Herr Steller auf der Oderfähre –
sein Kahn geschmückt um jeden Preis,
ging mit den Seinen so zur Wehre;
kraft seines Amtes ging's durchs Eis«,

sprach er dabei sehr vernehmlich, aber dem Sinn nach völlig unverständlich vor sich hin. Er wollte gefragt sein. Wer hätte nicht gefragt?

»Das hab' ich dir mitgebracht«, schmunzelte der Zauberkünstler und Rekommandeur, zog ein in der Mitte längszusammengefaltetes Diarium aus der Manschesterjoppe und drückte es in Wilhelmines Hand. Aus diesem Grunde wollte er sie bei sich auf der anderen Brückenseite haben. Damit seine Schiffseignerin erführe, daß er ihr eine Sammlung Gedichte verehren wolle. Eigene.

Die Oberaufsicht über die ›Helene‹ während ihrer letzten Fahrt in diesem Jahre habe ihn nicht sehr viel Zeit gekostet.

»Ohnesorge ist ordentlich«, nickte die Kleine sachverständig, sah auf ihre Stiefelspitze und legte die Hände auf den Rücken, »Sie brauchen sich nicht groß zu entschuldigen.«

Nein, er hätte sogar gedacht, ihr eine kleine Freude zu bereiten. Gedichte seien es, von der Oder. Sie wisse doch, er könne reimen. So kleine Sprüche vor der Vorstellung, das sei immer seine Stärke gewesen. Die Schlesier aus der Oderebene könnten eben alle ihren Sonntagsrock nicht anziehen, ohne eine kleine Strophe herunterzudichten. Und immerzu untätig in der halbdunklen Koje zu sitzen, das wäre nichts für ihn gewesen.

Wilhelmine Butenhofs Schuhspitze klappte noch immer auf und nieder: »Da möcht' ich mir wohl mal alles vorlesen lassen. Aber wissen Sie, ich verstehe mich nicht auf Versel, Lattersch. Wir werden zu Fräulein Leitgöbel, zum Fräulein Zerline gehen. Die hat's nur so mit der Kunst.«

Manchmal war es gut, daß des Fräuleins Spielwarengeschäft nicht mehr sonderlich gut ging. Wie hätte Zerline sonst Zeit gefunden, sich zwischen die Butenhof und Herrn Lattersch auf das Ledersofa zu setzen und laut und langsam aus dem Diarium zu deklamieren, als stände sie nun endlich auf ersehnter Bühne.

»Sehr hübsch«, blickte sie von vornherein Herrn Lattersch ermutigend an, »schon die erste Überschrift, wirklich, sehr hübsch. ›Fürstenhochzeit‹!«

»Erinnerungen«, erklärte der Verfasser, »aber keine eigenen; nach Erzählungen von Müßiggang, Erzählungen hier aus der Gegend.«

»Dann ist es besonders kunstvoll«, pochte Zerline energisch mit der Rechten auf die aufgeschlagene Seite.

»Denke dir«, riß es Zerline wieder von neuem mit, »alles nur nach den Erzählungen eines anderen!«

Die Butenhof zeigte sich enttäuscht: »Ich dachte, es wäre mehr von der Oder.«

Das Fräulein verwies sie, und Wilhelmine mußte warten, bis die Oder an die Reihe kam:

Die Oder lang je Feu'r an Feu'r,
es tat sich ja ins Weite zieh'n,
ein Licht, es war ja ungeheuer,
wie schön leucht' Carolather Kien;
es blinkten hell die Oderwogen,
gefärbet wie ein Regenbogen.
In Kahn und Odermühle Licht,
was dagewesen ist noch nicht.

Fräulein Leitgöbel entschuldigte sich sehr, daß sie manchmal etwas stockte. Aber einmal sei die Handschrift von Dichtern meist schwer leserlich; und dann müsse man sich einen solchen Vortrag auch etwas einüben. Und es sei sehr schade, daß man sich nicht dazu kostümieren könne.

Lattersch fand es für die ernsteren Gedichte nicht einmal so passend; die wären auch nach Selbsterlebtem. Deshalb bat ihn das Fräulein, sie auch selbst zu lesen. Der alte Mann suchte sich eine Positur, und dann sprach er, tief und scharf betonend:

In vor'ger Woche, in der Hitze,
da ging ein junges Knechtelein,
erst siebzehn Jahr', von Lippen, Titze,
ja, in den Oderstrom hinein,
wollt' baden sich, das war sein Zweck,
und er ertrank sein Leben weg.

»Ich muß auch bewundern, wie Sie sprechen«, sammelte sich Zerline, »das Organ, wie im Theater. Und die Sprechweise auch. Als ob Sie ausgebildet wären, Herr Lattersch; nicht nur als Dichter, auch als Schauspieler.«

Nun mußte alles herauskommen. Wie das Fräulein es erraten hätte! Erstaunlich wäre das! Und da Zerline Leitgöbels Sinn für das Theatralische so unumstritten feststand und man bei ihr keine üble Nachrede und mißgünstige Auslegung zu befürchten hatte, durften der grauköpfige Artist und seine blondlockige Schutzherrin sich gehen lassen. Beinahe alles führten sie dem Fräulein vor, die »besten Stückel« aus der Lantschvorstellung in Koben und vom Winzerfest in Tschicherzig. Lattersch bedauerte nur, daß er seine Zaubergeräte nicht bei sich hatte, und Wilhelmine ahmte vor allem das Pony Hannchen nach. Auf »allen vieren« kroch sie im Zimmer herum, suchte die Schönste, rechnete, mit dem »Vorderbein« scharrend, und stieß zur Verdeutlichung des Glockenspieles Fräulein Zerline streng nach der Melodie mit der Stirn ans Knie.

Dem Fräulein fiel das Heft zur Erde, und das erinnerte allgemein daran, daß man sich eigentlich bei einer Vorlesung befand. Lattersch warb für sein neuestes Gedicht; es stehe im Zusammenhang mit der Fracht der ›Helene‹ und der ›Alten Hütte‹ in Neusalz. Das mußte auch die Butenhof interessieren, die nicht gar so sehr auf eine Fortsetzung der Lektüre aus war.

Fräulein Leitgöbel rügte an Wilhelmine, daß sie nicht begriff, was es hieß, Gedichte gewidmet zu erhalten, und daß sie nun sogar zu lachen wagte. Sie selbst, bekannte Zerline, habe auch kein sehr feines, sogar ein sehr rauhes Benehmen. Aber wo es um Kunst gehe, da sei nur Respekt und Begeisterung am Platze. Und Werben, Werben für die Künstler. Herr Dorn müsse in seinem ›Beobachter an der Oder‹ alle diese Gedichte abdrucken, nach und nach natürlich; und dann werde man sie aufheben, ausschneiden und in ein Heft kleben. Das sei dann wie ein Buch. Überallhin könne man es ausleihen. Das Schwierige sei nur der Titel. Denn die Verse wären Kostbarkeiten von der Oder.

Der Dichter fand ihn sofort; vielleicht hatte er schon vorher an etwas Ähnliches wie an einen Buchtitel gedacht.

Oderkrebse.

»Den Titel muß der Dichter immer selbst wählen«, war Fräulein Zerline überzeugt, und Wilhelmine wurde unwirsch gegen sich selbst, daß sie gekichert hatte, wo es um etwas so Ernsthaftes ging. Stand die Sache aber so, wollte sie auch ihr Recht wahren. Auf die erste Seite sollte deutlich geschrieben werden: »Dies gehört der Schiffseignerin Wilhelmine Butenhof.«

Und ob nicht etwas mehr von der ›Helene‹ direkt hineinkäme.


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