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Vor Fastnacht kamen die Stürme. Wer das Land dort nicht kennt, vermag es nicht zu glauben, daß sie den Frühling bringen sollen. Düster, heulend, kalt brechen sie aus der Carolather Heide hervor, fegen den körnigen Schnee über das Odereis und rütteln an den Kähnen drunten vor der Stadt und an den Dächern und Fensterladen der alten Häuser über dem Fluß. Das Eis der Oder scheint nicht aufzutauen – viel eher ist es so, als zerberste es im Sturm in klobige Blöcke, die durcheinanderstürzen und sich gegenseitig zerschlagen. Manchmal spritzt das dunkle Wasser hoch auf, so gewaltig zersprengen sich die riesigen Schollen. Die Schiffer sehen wieder Wasser, und deshalb beharren sie dabei, es werde Frühling; und ihre Kinder bringen aus der fahlen Mittagssonne einen Zweig mit Weidenkätzchen zum Beweis.
Im geschützten Hafen schmolz das Eis etwas rascher. Aber der Wind raste stark von der freien Oder her um die Schleppkähne, klapperte mit ihren Stegen, schlug Kajütentüren schmetternd zu; wenn einer sie nur einen Spalt öffnen wollte, warf er sich wie Wogen gegen die Bordwände, die seinem Anprall zugekehrt waren.
Da fühlte sich nur der Schiffseigner sicher, der seinen Kahn neu gerichtet, gut geteert, vom Tischler und vom Maler aufs genaueste überholt wußte. Durfte die junge Wilhelmine Butenhof nicht zu jenen sorgsamen Schiffsvätern zählen, durfte sie nicht ein wenig verächtlich von den Stürmen der Oderebene denken und das Segel ihrer ›Helene‹ für das Frühjahr wohlgefällig prüfen?
Wilhelmine betrachtete ihren Kahn nicht ohne Mißtrauen. Heut nacht hatte sie ein Splittern gehört, das sie beunruhigte. Ja, ja, schon gut. Das Eis ums Heck war geborsten diese Nacht. Aber dieses langgezogene ruckweise Knacken, erst rechts, dann links, dann noch einmal mehr auf das Bug zu –.
Sie wollte ihre Angst nicht übertreiben. Doch einen schrecklichen Verdacht konnte sie nicht von sich weisen. Vielleicht war der Vater doch ein besserer Schiffer gewesen als sie. Vielleicht hatte sie sich zuviel Selbständigkeit angemaßt. Vielleicht hatte Malermeister Senftleben in Koben nur von seinem Handwerk etwas verstanden, aber zu wenig nach der Haltbarkeit eines Kahnes gefragt, den der Vater Schiffer vor seinem Tode schon aufgegeben hatte, wenn er auf eine neue ›Helene‹ sparte. Vielleicht hätte Maler Senftleben seinen Schwippschwager, den Kapitän, zu Rate ziehen sollen. Ach, Kapitäns –
In den Kojen schwadronierten die Männer und lärmte lachend das Fräulein. Der Onkel war auch erschienen und wollte sich erkundigen, ob er in seiner Stube, Kammer, seiner Küche und dem Flur ans Großreinemachen denken müsse, falls es etwa rasch losginge mit der ersten Frühlingsfahrt.
Sein Mündel sah ihn mit beinahe müden, fremden Augen an. Es war allein auf Deck, blickte nach Mast, Segel, Ankerwinde, Steg und Lagerraum, wie gejagt.
»Bis die Oder frei ist – es kann noch lange dauern, Onkel. Und hoffentlich dauert es lange, Onkel«, verlangsamten sich Wilhelmines Worte, und ihre Stimme zitterte, »denn ich glaube, ich muß den Kahn noch mal nachsehen lassen –«
Aber dem Onkel wurde es zu kalt, zu windig und zu unverständlich, und er kroch schon zur Kajüte hinab.
Das Mädchen kratzte an der blauen Farbe, es nahm sich vor, in einem unbelauschten Moment das Messer zu Hilfe zu ziehen. Es mußte wissen, genau wissen, ob der Kahn morsch war, so morsch, daß ihn nichts mehr rettete – daß der Frühling kommen würde und die Dampfer – die Steuerleute würden am großen Ruder hantieren, auf den anderen Kähnen – abstoßen vom Land, auf den anderen Kähnen –
Und vom Oberlauf her würde das schwarze Motorboot der Wasserpolizei aus Glogau heruntergejagt kommen, sobald der Fluß nur eisfrei wäre. Auf ihr Schiff würden die Beamten steigen, überallhin kriechen, alles begutachten, sich anschauen, sie anschauen, im Beiboot um die ›Helene‹ fahren, ganz langsam, ganz prüfend –
Wilhelmine erkannte sie alle am Ufer: den Vormund und den Zauberkünstler, den Schlangenmenschen und den Steuermann, das Fräulein und den Bootsjungen, alle von der ›Helene‹ gewiesen wegen – Untergangsgefahr. Untergangsgefahr. Morsch. Leck. Ausbesserung nicht mehr lohnend.
Jeder Gedanke war für Wilhelmine ein Stich durch ihre Schläfe. Sie hockte auf dem umgelegten Mast, zog ihren Mantel fest um sich, streifte sich die Haare aus der Stirn und warf sie mit unruhigem Ruck wieder ins Gesicht zurück; ihre Füße scharrten hin und her; unter den Augen, die sich verdunkelten, erschienen wieder die geraden, bläulichen Striche – die Hast und Heftigkeit, mit der ihr Herz klopfte, machte sie schwindlig.
»Du weißt also –«, zögerte Michel, der von der Butenhof unbemerkt über den Steg gekommen war, »– weißt also – von wem –?«
»Seh' ich doch. Seh' ich doch«, rieb Wilhelmine das Kinn mit der Faust, immerzu.
»Nein, gesehen hast du doch nicht«, erschrak der Freund, »du doch nicht. Das hätten sie mir doch im Stall gesagt ...«
»Was ist im Stall?« strichen die Hände des Mädchens noch immer über sein Gesicht, als höre es nicht, als wäre es in unaussprechlichen Jammer versunken, von seinem Elend verwirrt.
»Jetzt weiß ich gar nicht, was du gehört hast und gesehen«, packte den großen Jungen die Sorge – »nach Hannchen war ich gucken. Ob wir wieder anfangen können mit dem Marktfahren. Noch mal anfangen, ehe – ehe du mitmachst mit dem ersten Schleppzug. Aber Hannchen wird –«
Und nun war es gut, daß Wilhelmine die Augen schon mit den Händen bedeckt hatte und auf dem umgelegten Mast kauerte.
»Red' erst unten nichts«, erhob sie sich und steckte ihr Taschentuch weg, »gelt, red' erst nichts.«
*
Der Tierarzt und der Ackerbürgersohn führten Hannchen aus ihrem Stall. Fast war es, als spüre das alte Russenpferdchen den Steppenwind der Heimat, als tue die matte Sonne seinen trüben Augen wohl.
»Na ja, ja«, klopfte der Tierarzt Hannchens stumpfes, struppiges Fell und hob ihre Lider ganz vorsichtig.
»Was gut ist für Hannchen, Herr Doktor«, hatte die Butenhof nur noch zu sagen; aber ihr Blick ging scheu über den Mann; er hatte ein gutes, einfaches Gesicht.
Wilhelmine hatte mit Hannchen nichts mehr zu tun. Sie ging gleich zum Hoftor hinaus, gerade, festen Schrittes wie immer, schnell, nach freundlichem Gruß. Nur der Kopf steckte tiefer als sonst im dürftigen Mantelkragen.
Michel wagte nicht, sie zu begleiten. Aber eine Bangigkeit nach dem Mädchen überfiel ihn so hemmungslos, daß ihm war, als könne er diese Bangigkeit nie mehr loswerden. Seine Augen waren wie schmale Striche, und seine Lippen verschwanden fast.
Keinen Gedanken hatte Wilhelmine Butenhof für ihr Hannchen, keine Empfindung. Nur daß sie den stillen, glühenden Sommer fühlte, ein Ährenfeld sah, ein Wrack und ein Glockenspiel, über und über von weißer Winde umwuchert.
Dabei kam der Vorfrühling so schwer, so kämpfend, so kühl über der Oderebene herauf.
*
Hannchens Grab hat sie sich dann sogar zeigen lassen und nichts damit und mit sich selbst nichts hergemacht. Aber sie wußte, daß es etwas Rührendes und Feierliches war, wenn ihr altes Pferdchen hier am Anger ruhte, auf noch brauner, nasser Wiese am Oderdamm, ganz nahe am Fluß, bei der Strömung und den unruhigen Wolken.
So viel Weite hatte alles. Wie nichts im Leben des störrischen, verspielten Ponys sie besaß. Seine kleine Bühne in der Schaubude; sein winziger Stall; der Verschlag auf dem Kahn –
Doch selten war ein Pferd so weit und so viel gefahren worden wie ihr Pony Hannchen: einen Strom hinauf, einen Strom hinab; und manchmal war das kleine, alte Pferd auf seiner Flußfahrt sogar mit Federbüschen und goldbenagelten roten Lederzäumen geschmückt.
Auf dem Wege zum Kahn fand Wilhelmine am Rand von Geibraschs Garten, am Zaun, unter den kahlen Büschen drei Schneeglöckchen, nahe beieinander. Die Holzlatten des Bretterzaunes waren von einem feuchten, grünen Schimmer überlaufen. Der Hafen zur Linken war still. Es rauschte nicht mehr von Eisschollen; die waren aufgetaut; das Wasser stieg.
Zum ersten Mittwochs-Fastengottesdienst muß eigentlich auch immer schon etwas Frühling sein. Sonst bekommen die Konfirmanden zu Palmarum ihre weißen Veilchensträuße nicht.