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XXII. Marketenderfahrt

Die Fensterladen waren aufgeschlagen, das Haus gelüftet, Küche, Kammer, Flur und Stube gescheuert. Um es kurz zu sagen: August Müßiggang war wieder daheim, ganz wie ein Schiffer, nur etwas zu zeitig, noch vor dem Treibeis. Darin allein verriet sich der Unterschied. Deshalb sprach sich der Onkel eigentlich auch weniger mit den Leuten am Hafen und in der tiefer gelegenen Schiffer-Neustadt aus. Die Neustadt nun war aber nicht etwa modern, nein, armselig und alt. Alle Häuser hatten Schimmerlinge von den Hochwasserjahren her, waren wie modrig und wie verwaschen.

Müßiggang machte sich seinen Weg zu den Ackerbürgern die Fischertreppe hinauf oder den Schwarzen Berg an der Odermühle oder hintenherum am Schützenhausweg. Die Ackerbürger hatten ihre Felder mehr auf den Wald und das Erlicht zu, und daher verstanden sie nicht so viel von der Oder, und man konnte ihnen berichten, ohne daß sie alles besser wußten oder manches langweilig fanden.

Dabei war es beim Vormund Müßiggang jetzt gar nicht die richtige Erzählfreudigkeit. Der Onkel wollte so ein bißchen über etwas hinwegreden, sich etwas vom Halse schaffen. Er war nicht gern mit dem Mündel daheim. So seltsam kommt es manchmal. Man kann es sich kaum erklären.

Beim Großreinemachen hatte Müßiggang regelrecht herumgeschnauzt. Er war grob gegen Wilhelmine, schroff zum mindesten. Wem man Unrecht tut, den behandelt man schlecht, den läßt man allein sitzen. Nicht nur der Onkel hält das so.

Erst schalt er Wilhelmine undankbar, daß sie nicht vergnügter wäre. Als ob sich so ein Kajütengehocke nicht verkriechen müßte vor dem schönen, freien Leben in einer richtigen Wohnung: Stube, Kammer, Küche, Flur. Der Onkel reckte und dehnte sich ordentlich. Wilhelmine putzte blaß an dem Küchengerät herum.

Ob sie etwa glaube, daß diese – na, er wollte den Namen nicht aussprechen und sich auch nicht erst im Ton vergreifen – daß diese, Wilhelmine wisse schon, ihr etwa mehr zu bieten gehabt hätten.

Und gerade dort steckte der vermaledeite Grund für all die Grämlichkeit des Onkels. Angst und bange wurde ihm, wenn ihm von früh bis abends, Stück für Stück, einfiel, worum er sein Mündel gebracht haben könnte.

Das Haus in Storkow in Pommern, bestimmt nicht schlecht im Stand. Er hatte nur die kleine Mietswohnung am Hafen.

Das ehrenvolle Leben als Kapitänstochter auf dem Dampfer ›C. W. V‹.

Die dadurch immerhin nahegerückte gute Partie, im Hinblick auf später. Auch das wurmte den Onkel.

Ein Vermögen. Die Kapitänin hatte es nur so herausgeschmettert in ihrem Zorn (aber als Wilhelmine nicht zugegen war): »Sechsundzwanzigtausend Mark, und es werden noch dreißig!«

Die weibliche Fürsorge. Die das Mäderle brauchte.

So aber mußte Wilhelmine für andere sorgen, zahlen, um Ansehen kämpfen, eine Zuflucht schaffen, sparen.

»Kapital wollten sie aus dir schlagen, dich mit Hannchen auftreten lassen«, ereiferte sich Müßiggang, als Wilhelmine Butenhof zu seinen erregten Überlegungen schwieg. Schließlich konnte sie nicht ahnen, was in des Alten Kopf vorging. Daher antwortete sie: »Den Eindruck hatte ich nun eigentlich nicht. Aber es mag schon alles gut so sein. Auf einen Dampfer gehe ich nur, wenn er mir gehört wie die ›Helene‹. Und von der ›Helene‹ kriegt mich niemand weg, ehe nicht Schluß ist mit ihr. Was du sonst redest, Onkel, das andere ist: alles Mumpitz. Laß nur gut sein. Wenn ich bloß wüßte, was machen mit den Leuten im Winter. Und wie sie mir den Kahn herbringen werden. Und wann sie kommen, mit Hannchen.«

Die Spannung versetzte Wilhelmine in solche Unruhe, daß sie täglich zum Hafen und auf den Oderdamm lief, Ausschau zu halten. Aber die Sicht war durch den Carolather Wald, die weite Biegung, verschlossen. Wenigstens um die Ecke dort sehen können! Dabei war es noch – besonderer Ladeaufenthalte wegen – um Wochen zu früh.

»Michel!« zuckte es durch ihre Gedanken, und sie rannte den Damm entlang; vom Hochwasser her war er noch ganz zerspült und inzwischen notdürftig mit Asche, Reisig und Scherben aufgeschüttet. Es ging sich schlecht; aber die Butenhof hetzte an Hinterlachs Anger und Neuferts Kohlenhof, an der Odermühle, an Pyras' Kaffeeterrasse vorüber, bis sie an der Fischerei anhalten durfte im atemlosen Lauf.

»Na, endlich«, sah Michel Burda sie von seinem Boot aus. Er verstaute gerade noch zwei Deckelkörbe mit Ware unter dem Steuersitz und hatte seinen Kahn noch nicht losgemacht.

»Willst du mitfahren?« scholl es zur Fischertreppe, auf deren unterster Stufe Wilhelmine einen erhöhten Ausblick suchte.

»Bis zur Carolather Biegung«, flog sie auf den Jungen zu, »machst du so weit 'runter?«

»Bestimmt«, schüttelte er ihre Hand, »vielleicht ganz bis Carolath. Dem Rauch nach ist der Schleppzug noch so weit weg; und wenn er dann lang wie die letzten ist, schaffe ich gerade alle Kähne, bis wir wieder oben sind.«

Schon saß Wilhelmine auf einer Kiste mit Pantoffeln.

»Da wäre ich ja wieder auf der Oder«, sah man ihre runden Zähne, und sie kniff vergnügt die Augen zusammen. Der schmale, kleine Kahn stieß schon von Land.

»Dünn bist du geworden und bissel käsig«, rief der Junge stockend, weil er mit der Potsche so schwer im Stehen hantieren mußte.

»Und du bist gewachsen. Und immer noch verbrannt«, erwiderte die Butenhof und nahm nichts übel. »Ich habe halt den Schädel voll Sorgen«, betrug sie sich dann erwachsen und strich sich ein paarmal über Rock und Knie.

»Eigentlich geht's mir immer besser, seit du mir den guten Rat gegeben hast.«

Die Potsche versank bis zum Griff.

»Seit ich aus der Schule bin und der Vatel Geld von mir sieht, läßt er mich in Ruhe.«

Jetzt hatte Michel das Stoßruder wieder in der Mitte umpackt: »Ich spare auf eine Maschine.«

Der Kahn glitt in die Strömung, das Ruder wurde eingezogen. Michel konnte sich setzen.

»Auf 'nen Motor fürs Boot. Oder ein ganz neues Motorboot. Für später.«

»Da wird aber dein Vatel mit seiner Fleischerei erst emal tüchtig mit Geld machen müssen«, tat die Butenhof erfahren.

»Geht auch. Wenn er mir nur das Geld gleich wieder 'rausrückt. Wird ja jetzt viel mehr an die Kähne los. Paß nur auf, wie das dann wird.«

Schon kramte das Mädchen in der Ware herum. Aber Michel strebte aus der Fahrtrinne heraus, auf die untere Stadt zu.

»Du erfrierst mir ja. Das wird zu kalt, bis wir wieder heim sind.«

Und da des Onkels Haus ein ganzes Stück weiter stromab lag, ließ es sich einrichten, Wilhelmine ihren Mantel zu holen. Auf diese Weise kam Michel auch dazu, seinen Großonkel nach dessen Rückkehr zu besuchen und den Alten darüber zu beruhigen, daß das Mädel jetzt zwei, drei Stunden wegbleiben würde.

»Machst du dir denn so viel daraus, daß du dann so weit mit stromauf willst?« vergewisserte Michel sich, als er die Begleiterin warm verpackte, »es wird höllisch kalt bei der langsamen Fahrt.«

»Ich mach' mir so viel daraus«, nickte die Kleine, »denn vielleicht gehen wir auch einen einzelnen Dampfer an oder einen Motorkahn, der unterwegs die ›Helene‹ überholt hat. Da kann ich fragen.«

Dazu kam es nun eigentlich nicht. Am Carolather Schloß, dem einzigen Bergschloß über der Oder, begegneten sie einem langen Schleppzug mit doppelter Kahnreihe. Das wichtige Geschäft mußte da ganz in den Mittelpunkt rücken. Auch Wilhelmine hatte diese Einsicht, ja, sie leistete erhebliche Hilfe, weil sie sich auf der Oder rasch in die verschiedensten Verhältnisse schicken lernte. Sie begriff kaum, wie Michel seinen Betrieb sonst allein bewältigte. So viel war zu tun.

Michel zeigte seine eigene Taktik. Aus zehn Meter Entfernung etwa winkte er dem Dampfer mit einer großen, weißen Tüte zu. Da machte sich auf Deck schon der Bootsjunge bereit, dem herantreibenden Marketenderkahn das Tau zuzuwerfen. Michel band sein Boot fest, stellte sich auf die Bank, um besser zum Dampfer hinaufsprechen zu können, und wartete auf seine Auftraggeber.

Die versammelten sich bald. Schweigend standen vier Männer in Schafspelzen und gefütterten Ledermützen mit Ohrenklappen, Strohbündel um die Stiefel gewickelt, an der Bordkante und redeten keinen Ton. Denn zuerst hatte immer das Angebot zu erfolgen. Das ist Marketenderbrauch, und der Zeuthener Junge sah keine Notwendigkeit, ihn zu ändern.

Dem eigentlichen Handel ging die Einladung zum Trinken voraus:

»Helles Bier, Malzbier, Korn zum Erwärmen – was nehmen wir zuerst?« hob der Marketender Flasche um Flasche empor. Denn mochte der Handel werden oder nicht – während man darüber diskutierte, wurde getrunken; und das sicherte Michel immerhin eine Mindesteinnahme. Obwohl niemand einen Entschluß zu fassen schien, ließ sich eigentlich immer vorausbestimmen, wer kaufen würde. Denn der hielt sein Portemonnaie schon mit beiden Händen bereit und stand auch nicht lange auf Deck, sondern hockte sich nieder und gab zu dem jungen Marketender hinunter seine Weisung.

»Schöne Knoblauchwurst, gleich zum Heißmachen? Semmeln, ganz frisch aus der Bäckerei, besonders groß? Tabak? Eine neue Pfeife? Zigaretten?«

Der vierte, der sich noch nicht wie die anderen hingekauert hatte, holte nun doch sein Geld aus der Kajüte. Der Bootsjunge vom Dampfer zog das Tau ein. Wilhelmine war schon dabei, es vom Kahn loszuwickeln. Michel imponierte es nicht wenig, wie sie immer gleich zupackte.

An den ersten beiden Schleppkähnen wußten sie nun, daß sie an der Reihe waren. Die vom links nebengekoppelten Kahn kletterten herüber; sieben Männer erwarteten das Boot, wieder warf der Junge das Tau; Michel bestieg seine Bank, hob die erste Flasche:

»Helles Bier, Malzbier, Korn zum Erwärmen – was nehmen wir zuerst?«

Er schaukelte mit den Dampferwellen.

Einige Männer hockten nieder, noch schwieg alles, dann klappte das erste Portemonnaie auf, das Wühlen und Rumoren in Körben und Kisten, das Emporreichen und Geldwechseln fing von neuem an. Vieles wurde stumm geprüft und mit mißbilligendem Kopfschütteln zurückgegeben. Wieder wurden nur Zigaretten abgesetzt.

»Im Sommer dauert es noch viel länger, bis ich sie zum Kaufen herumkriege«, flüsterte der Junge dem Mädchen zu, als sie beide mit den Köpfen in einer Kiste steckten, um aus ihrem Grunde die angeforderten Streichhölzerpakete heraufzuholen, »jetzt geht's schnell gegen sonst, weil die Kerle frieren.«

Er selbst trat von einem Bein aufs andere und steckte zwischendurch immer wieder einmal die rotgefrorenen Hände in die Jackentaschen.

Der Junge vom dritten Schleppkahn wartete schon.

»Wir haben die Frau mit«, gab er dem Marketender einen guten Rat, der ihm auch zwei Zigaretten eintragen sollte.

Wo sich eine Frau auf dem Kahn befand, zog sich Angebot, Nachfrage, Besichtigung, Ankauf zwar noch unvergleichlich länger hin. Dafür wurde man aber auch bestimmt Fleisch, Salz, Persil und Scheuerlappen los.

Eine ganze Menge kleiner Geldstücke glitt in Michels Hand und manchmal leider auch in die Oder.

Weiter drunten im Schleppzug ließen sie ein Fahrrad in das Marketenderboot hinunter, und ein Schiffer im Sonntagsanzug und der blauen Mütze kletterte zu den beiden:

»Muß nach Glogau 'rauf. Schaffen wir's noch bis zum Fünfzuge?«

Ganz selbstverständlich wählte er seinen Platz auf dem freien Sitzbrett neben den Flaschen. Solche Forderung kostenloser Überfahrt war der Marketender gewohnt.

Der Steuermann vom gleichen Kahn wurde ein guter Kunde für Propheten, Schusterjungen, Mohnbrötel und Schnecken; anscheinend hatte er Auftrag von den Kollegen, die nicht in die Kälte hinaufkommen wollten. Aber dieser Steuermann kannte Wilhelmine.

»Nicht in der Winterschule? Du bist schon eine.«

»Bin krank«, schlug die Butenhof einen riesengroßen weißen Papierbogen um die Kuchenstücke.

»Und da treibst du dich bei dem Wetter auf dem offenen Kahn 'rum?«

»Hat der Doktor verordnet. Täglich eine Spazierfahrt, ehe es dunkel wird.«

Was ungewöhnlich war: auf seiten des Marketenderbootes wurde das Tau vorzeitig abgebunden, bevor noch alle Möglichkeiten, die Ware anzupreisen, erschöpft waren. Kuchen eingepackt, Tau los! hieß es für Wilhelmine. Da kam sie gar nicht zum Frieren. Und es war doch bitterkalt. Naß, grau und kahl raschelten die entlaubten Äste im Oderwald, früher Nebel und eisiger Hauch stiegen vom Wasser auf, die Wolken hingen schwer von Schnee, der Atem der Schiffer und der Marketender war im schneidenden Flußwind wie der Rauch aus den engrohrigen Kajütenschornsteinen.

Über Steuer und Beiboot kletterte ein Junge von Kahn zu Kahn und schrie nach Michel: »In meiner Zigarettenschachtel ist kein Bild. Und ich hab' sie bloß wegen der Bilder gekauft. Ich will die beiden Bilder.«

Es war nicht nötig, zu klagen und zu schimpfen. Aus halbleeren, für den Einzelverkauf bestimmten Schachteln, wurden ihm alle Bilder zusammengesucht.

»Gib das auch noch, Mindel.«

Michel Burda und Wilhelmine Butenhof hatten noch nie Zeit gefunden, Bilder zu sammeln.


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