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Von dem dreiteiligen Gebäude, das im Norden des Pankratzer Strafanstaltskomplexes steht, bis zu dem dunklen Häuschen an der Ecke der Mauer schreitet der militärische Wachtposten 94 Schritte. 94 Schritte. Nicht einen mehr, nicht einen weniger. Der Soldat hat, sich langweilend, die Schrittzahl dieser Strecke, die ihm als Bewegungsraum zugemessen ist, nachgezählt. 94 Schritte sind keine große Entfernung. Wären in dem dreiteiligen Gebäude, dem Anstaltsspital, die vergitterten Fenster geöffnet, dann könnte man in dem nur 94 Schritte entfernten dunklen Häuschen das Husten und Hüsteln der Kranken deutlich hören. Aber darin wohnt niemand, der es hören könnte.
Es ist die Totenkapelle.
Für den, den man die 94 Schritte trug, gibt es keine Hoffnung auf Entlassung mehr, keine Hoffnung auf Flucht.
Auch dem Toten öffnen sich die Türen der Anstalt nicht. In Mannshöhe ist ein Loch in die Mauer gehackt und mit einem Deckel aus starkem Eisenblech verschlossen. Durch dieses Loch schiebt man um sechs Uhr morgens den schwarzen Holzsarg, auf den ein weißes Kreuz gemalt ist, ins Freie.
Draußen stehen sieben Sträflinge, von vier Justizsoldaten bewacht, Gewehr geladen, Bajonett aufgepflanzt. Man lädt den Sarg auf die Tragbahre. Die Klappe des Mauerlochs wird wieder versperrt. Der Kondukt rangiert sich. Ein Sträfling mit einem Kreuz voran, die sechs anderen tragen den Sarg. Die Bajonette, die geladenen Gewehre gehen neben und hinter dem Leichenzug.
Über eine Viertelstunde lang bewegt sich die traurige Karawane auf Feldwegen zum Anstaltsfriedhof. Dort verscharrt man den Toten, steckt ein Kreuz (zwei Holzlatten) an die Kopfseite des Hügels, läutet die Totenglocke in dem kleinen Turm und verläßt dann den Kirchhof, den kein Fremder betreten darf.
Nahe davon: der große katholische Friedhof auf der Ebene »Grüner Fuchs« zwischen Ober-Krtsch und Ober-Pankratz. Telegrafenstangen stehen an der Straße, rechter Hand liegen Felder mit Düngerhaufen, auf denen Hunderte von Spatzen sich gütlich tun, aus einem sorgsam mit Wachsleinwand überzogenen Leierkasten dröhnen Gassenhauer. Plötzlich hört die zementierte, gepflegte und gerippte braune Wand des Gottesackers auf. Eine andere Mauer flankiert den Weg – zerbröckelt, verwahrlost, ungepflegt.
Ein Holztor zwischen zwei schmucklosen viereckigen Pfeilern, deren obere Ecken abgebrochen sind, unterbricht das Mauerwerk. Wie das Tor eines Gehöftes sieht es aus. Kein Kreuz, keine fromme Inschrift, kein Zierat. Sonst hätte wohl niemand an das Tor jene Zeichnungen gekratzt, wie man sie gemeiniglich an den Wänden der Gasthausaborte findet, hätte niemand Plakate hierher geklebt: Kino Jandáček lädt zum Besuch des neuesten Films. Am 27. Juli findet im Restaurant »Am Bahnhof« in Krtsch zu Ehren aller Annen eine große Garten-, Konzert- und Tanzunterhaltung statt. Von anderen Plakaten flackern nur noch Fetzen im Wind.
»Das ist der Friedhof der Sträflinge.« Ein Mann sagt das, der bezecht den Weg entlangtorkelt.
»Ja, ich weiß es.«
»Du weißt es? Also bin ich ein Vieh, weil ich es gesagt habe.«
»O nein. Sie konnten ja nicht wissen, daß ich den Friedhof kenne.«
»Nein, nein. Ich bin ein Vieh.« Dem Betrunkenen gefällt es, sich wegen seiner überflüssigen Mitteilung zu beschimpfen, sich dadurch zu geißeln, daß er hartnäckig und weinerlich betont: »Ich bin ein Vieh.« Dann schwankt er von dannen.
Es wäre nicht uninteressant, diesen Friedhof zu besichtigen, den kein Baedeker, keine Chronik schildert. Aber gerade dem, der solches zu erfahren wünscht, hat es das Justizministerium durch einen eigenen Erlaß verboten. Und die Oberstaatsanwaltschaft hat es ihm heute mitgeteilt. Und der Bescheid ist in des Journalisten Tasche. Und ist eine eingeschriebene Dienstsache, schwarz-gelb versiegelt:
»Nr. 10.231/11 G. W.
K. k. Oberstaatsanwaltschaft in Prag.
An Herrn Egon Erwin Kisch, Redakteur in Prag.
Zufolge Erlasses des k. k. Justizministeriums vom 7. März 1911, Z. 5974/11, kann Ihrem an dasselbe gestellten Ansuchen um Erteilung der Erlaubnis zum Besuche der k. k. Männerstrafanstalt Pankratz, bzw. des Anstaltsfriedhofes keine Folge gegeben werden, da nach der Justizministerialverordnung vom 17. August 1887, Nr. 28, V. Bl., im Interesse des ungestörten Dienstganges in den Strafanstalten und zur Wahrung des Ernstes der Strafe die Besichtigung in der Regel nur zu wissenschaftlichen oder dienstlichen Zwecken gestattet werden kann.
Merhaut, m. p.
Prag, am 15. März 1911.
Das sieht der Adressat gewiß ein: den ungestörten Dienstgang im Sträflingsfriedhof darf er nicht stören. Und wenn er's auch nicht einsehen würde: kann jemand ein so präzis an ihn gerichtetes Verbot des Justizministeriums und der Oberstaatsanwaltschaft überschreiten?
Überschreiten? Die Mauer ist zwei Meter hoch. Mit einem Sprung vermag man allerdings die Hände an ihren Rand zu klammern. Aber ob man sich dann hochziehen kann, ist fraglich. Zum Glück ist diese kleine Rille in der Mauer ein Stützpunkt für den rechten Fuß. So. Oben wäre man. Noch ein Sprung – nur zwei Meter tief! – und man ist drinnen.
In der Tasche knistert ein strenger Erlaß des hohen k. k. Justizministeriums.
Kein Personal ist da, keine Grabgäste, kein Friedhofswärter, kein Totengräber, kein Totenglöckner, kein Küster. Mutterseelenallein geht ein Lebender durch Totenzeilen.
Da liegen die Gräber, je zwanzig nebeneinander, alle gleich. In den hinteren Reihen sind die Holzkreuze dunkelgrau und verwittert, in der vordersten (noch unvollständigen) Gräberreihe zeigen die zwei ungehobelten, unlackierten Latten, die das Kreuz bilden, das Gelb von Kistenbrettern. Nesseln, Disteln, Huflattich, Löwenzahn, allerhand anderes Unkraut und staubiges Gras wuchern auf den Gräbern. Zu Füßen eines Kreuzes liegt ein Kranz, einst grün gewesen, von Treue geflochten, die weiterlebte, als jener zum zweiten Male starb, dem sie galt. Nun ist der Kranz braun, verwelkt, zerzaust, spröde.
Keine Inschrift auf den Kreuzen, nicht einmal der Name des Beerdigten. Will man dem im Kerker Verstorbenen keine Schande mehr bereiten? Befürchtet man, daß Neugierde, Haß oder Blutrache sich noch gegen das Grab kehren könnten? Oder aber soll jener, der als Nummer lebte und als Nummer starb, auch nur als Nummer beerdigt sein? Die Ziffern sind mit einer Schablone auf die Kreuze gemalt. Nicht die Nummer, mit der man den Sträfling zu seinen Lebzeiten drüben im hochummauerten Totenhaus rief – der Tod hat eine andere Reihenfolge eingeführt: die Zellen in der Erde sind so numeriert, wie sie nebeneinander liegen. Das graueste, verwittertste der Kreuze, das in der Ecke rechts vom Eingang, trägt eine Eins. Auf dem frischesten Grab hebt sich der Nagel, mit dem die zwei schmalen Latten zur Kreuzesform zusammengefügt sind, silbergrau vom Gelb des Holzes ab, und kein Grashalm beglückt noch den Hügel Nummer 380.
Alle ruhen sie nun, die namenlos Unglücklichen, namenlos nebeneinander, so wie sie der Tod zur Gerichtsverhandlung rief, die Lebenslänglichen und die Zehnmonatigen, die alten Diebe und die Opfer ihrer Weltanschauung, die Jugendlichen und die Gewohnheitsverbrecher, die Raubmörder neben jenen, die besinnungslos ein Messer zückten, als sie sich von der Liebsten betrogen sahen. Alle nebeneinander. Der Tod, letzter Nachrichter, kennt keinen Unterschied zwischen schwerem Kerker und Arrest, zwischen Einzelzelle und Jugendlichenhaft, er hebt die Unterschiede auf.
. . . nein, er hebt sie nicht auf.
Im Winkel an der Eingangsmauer gibt es sechs Gräber, von den anderen ostentativ abgesondert. Sind es die letzten Wohnstätten jener, die den geistlichen Trost vor dem Tode abgelehnt haben, sind es die Totenzellen der ruchlosesten, reuelosen Mörder, denen man nicht einmal auf diesem Armesünderfriedhof das »ehrliche« Begräbnis, nicht einmal die Totenruhe neben anderen gönnte? Nein, die sechs Verfemten sind Selbstmörder. Es sind die, die mit ihrem Handwerkszeug unbemerkt ihre Bettdecke zu Streifen zu zerschneiden vermochten, um sich an dem Fenstergitter zu erhängen, es sind die, die mit eigener, unberufener Hand die von einem unfehlbaren, weisen Gerichtshof über sie verhängte Haft verkürzten. Sie haben ein Urteil an sich vollstreckt, das das Gesetz für ihr Verbrechen nicht vorschreibt und zu dessen Vollzug es der kaiserlichen Bestätigung bedarf.
So müssen sie denn abseits liegen, zur Strafe für ihre letzte Tat auf Erden, zum abschreckenden Beispiel für die anderen. Aber wer kann wissen, ob der Blick, mit dem die schaufelnden und grabenden Sträflinge den Selbstmörderwinkel manchmal streifen, nicht ein neidvoller, ein sehnsüchtiger ist und einen Wunsch birgt?
Zwei Gräber nur weisen einen anderen Schmuck auf als das Holzkreuz. Das eine, Nummer 79, ist mit einem von Wind und Wetter so arg mitgenommenen Bronze-Kruzifix geziert, daß man nicht mehr erkennen kann, ob die Aufschrift im Laufe der Jahre unleserlich geworden ist oder ob es überhaupt nie eine Aufschrift getragen hat; an dem kleinen Grabmal schlingt sich Efeu empor. Das andere aber schmückt ein ziseliertes, großes Kruzifix, zu dessen Füßen zwei Engel knien, eine breite Gruftplatte und eine Gedenktafel. Vor die Tafel jedoch hat die verschämte Verwandtschaft einen Geißblattstrauch gepflanzt, durch dessen dichtes Gerank man sich quetschen muß, um zu entziffern, daß hier Josef O. ruhe, der am 20. Februar 1896 im neununddreißigsten Lebensjahre starb. »Heilige Maria, Mutter Gottes, gebe ihm ein feierliches Auferstehen im Heiland Jesus Christus!« Das ist die einzige Inschrift, der einzige fromme Wunsch auf dem ganzen Kirchhof.
Auf einem drei Meter hohen Türmchen, das wie ein Miniaturminarett aussieht, hängt die Glocke. Sie ist Armesünderglöckchen und Totenglöckchen zugleich. Vor dem Turm liegen ein zerbrochener, verrosteter Blechkrug, nicht weit davon die zwei Hälften eines morschen Sarges. Sonst ist hier nichts zu sehen.
Der unberufene Besucher des Friedhofes klettert also wieder über die Mauer. Arbeiter, Teller und Tassen in Tücher gewickelt, kommen des Weges und schauen erstaunt, verdächtigend und unwillig dem Mann nach, der sich eben, sichtlich bewegt, über die Mauer des Armesünderfriedhofes geschwungen hat.