Egon Erwin Kisch
Prager Pitaval
Egon Erwin Kisch

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Man überwältigt den Grasel

Aufregend gestaltet sich der Herbst 1815, Napoleon ist schon dingfest gemacht, und die Wiener Beschissenheit bedarf einer neuen Ausrede; Kaiser Franz, sein Hof, die Armee, die Justizbehörde und die Bevölkerung werden von Verfolgungswut gegen den Grasel befallen, und riesige Treibjagden setzen gegen den Räuberhauptmann ein. Er befindet sich jetzt nicht mehr in Mähren, seiner Heimat, sondern auf niederösterreichischer Erde und verübt mit seiner Bande hier Einbrüche und foltert die Überfallenen, bis sie den Aufbewahrungsort ihres Geldes verraten.

Am 4. November rücken sechshundert Mann Infanterie und zweihundert Mann Kavallerie unter dem Kommando eines Obersten in Schwarmlinie durch die Wälder bei Oberhollabrunn vor, vergeblich. Der Polizeiminister stellt den Antrag, es möge aus der Privatschatulle Seiner Majestät eine Prämie von viertausend Gulden für den ausgesetzt werden, der den Grasel tot oder lebendig einliefert; den Mitschuldigen, die am Fang beteiligt sind, mögen zweitausend Gulden und Straflosigkeit zugesichert werden. Die Belohnung wird nur für den Fall bewilligt, daß Johann Georg Grasel lebendigen Leibes dem Wiener Stadtmagistrat überantwortet werde. Der gute Kaiser Franzl möchte für sein Geld wenigstens eine öffentliche Hinrichtung, das goldene Wiener Herz liebt das so sehr! Man macht Ernst mit Grasel. Vor keinem Mittel schreckt man zurück, man geht so weit, die Plakate mit der Belohnungsausschreibung auch in tschechischer Sprache drucken zu lassen, das alles nützt aber nichts, und wenn schließlich Österreich doch gerettet wird, so geschieht das durch einen Lockspitzel.

Der heißt David Mayer, ist aus Proßnitz, und sein Plan ist verflucht gescheit. Er läßt – natürlich mit Hilfe eines Justizverwalters – seine Gehilfin namens Penkhart zum Schein ins Drosendorfer Gefängnis werfen, in dieselbe Zelle, wo Therese Hamberger sitzt, Grasels geliebtes Reserl. Mayer schickt sich nun nach einigen Tagen an, die Penkhart »mittels Dietrichen zu befreien«, und die Reserl bittet dringend, auf die Flucht mitgenommen zu werden. Nach kurzem, gut gespieltem Zögern (als ob diese Mitnahme nicht der Zweck der Ausbruchskomödie wäre) wird das Flehen erhört, und die drei jagen auf Vorschlag der ahnungslosen Reserl nach Horn, wo sie ihrem Befreier Aufnahme im Hause des Schinders verschafft. Das liegt abseits der Gesellschaft, abseits von deren Ansiedlungen und beherbergt Grasels Komplicen. Aber der Räuberhauptmann selbst? Er ist nicht da, und für Mayer und seine angebliche Geliebte beginnen Tage gefährlichen Harrens. Noch aufgeregter ist der Drosendorfer Justizverwalter, Herr Schopf; eigenmächtig hat er die Geliebte und wichtige Gehilfin des gefürchteten Bandenführers aus der Haft entweichen lassen, und eine peinliche Untersuchung durch das Gericht steht ihm bevor, wenn er nicht durch die Verhaftung Grasels beweisen kann, daß er schlau und zweckentsprechend gehandelt habe. Nervös wartet er in einem Zimmer des Horner Gasthofes.

Bald müssen alle fort. Die Schindersleute wollen der Reserl, deren Flucht in ganz Österreich Aufsehen hervorgerufen hat (das Volk glaubt, der »Hansjörgel«, wie man Grasel nennt, habe sie befreit), keinen Unterschlupf mehr gewähren, ebensowenig ihren »Rettern«, dem Mayer und der Penkhart. So fahren sie ab – und der Justizverwalter Schopf hinterher. Mayer hat in der Wasenmeisterei seine Adresse zurückgelassen (er wird in eine der Penkhart gehörigen Hütte in Klobouk bei Brünn übersiedeln) und versprochen, den Grasel über die Grenze nach Preußisch-Schlesien zu bringen, falls ihm dieser bei einem Einbruch in die Lettowitzer Fabrik helfen sollte.

Ein paar Tage später langt ein Bote in der Klobouker Hütte ein, Mayer möge den Grasel mit einem Wagen aus Horn abholen. Wirklich lernt nun der Geheimagent dort den Schrecken Österreichs kennen. Ja, Grasel fällt dem Mayer um den Hals: »Ach Gott, jetzt hab ich doch einen Freund, der mir hilft, damit ich aus Österreich fortkomme!« Bei Sonnenuntergang fahren sie von dannen; aber das Opium wirkt nicht, das der Spitzel seinem Opfer in den Kaffee gemischt hat, ein Rad bricht, und sie verfehlen die von Mayer verständigten, auf die Beute lauernden Gendarmen.

Vor Mörtersdorf, kurz nach Mitternacht, läßt David Mayer den Wagen halten, er wolle noch einen Diebsgenossen abholen. Grasel und die Penkhart bleiben im Wagen sitzen, während der Polizeiagent durch das nächtliche Dorf schleicht, den Justizverwalter suchend; der aber wartet beim Dorfrichter auf das Anrollen eines Fuhrwerks, hört und sieht nicht den Mayer, der zu Fuß kommt.

Mayer muß andere Leute finden, die ihm bei der Überwältigung des Räuberhauptmanns Hilfe leisten könnten. Lärm schlagen darf er nicht. Schon das Echo seiner Schritte erschreckt ihn. Vielleicht hat Grasel Verdacht geschöpft, vielleicht lauern dessen Genossen im Hinterhalt auf den Verräter? Die Bauernhäuser schlafen, während Mayer, das Herz in den Hosen, umherirrt und draußen auf seinen Feuerwaffen der Mann sitzt, »der in Landmanns Nachtgebet hartan an dem Teufel steht«.

Da – aus einem Fenster dringt ein Schimmerchen Licht, ein Schimmerchen Hoffnung. Mayer lugt durch die Spalte: ein kleines Schankzimmer, darin Bauern mit zwei beurlaubten Kanonieren Karten spielen. Er klopft leise an die Scheibe. Heraus tritt der Wirt und erfährt: »Ich bin ein Vertrauter der Brünner Polizei, habe den Grasel auf meinem Wagen und werde gleich mit ihm da sein, Ihr und Eure Gäste müssen mithelfen, ihn zu binden . . .«

Der Dorfwirt schlägt sich mit dem Daumen auf die Stirn, Mund und Brust, da er den Namen Grasel hört. Schlottert, stottert. Will nichts davon wissen. Grasels Freunde! Sie werden sich rächen, sie werden kommen . . .

Der Polizeiagent zerschneidet die hervorgestoßenen Einwände: »Wenn Ihr Euch weigert, so wird Euch das Euer Haus kosten. Ich selbst werde Euch verhaften!«

Diese Drohung erschreckt den Wirt noch mehr. Er willigt ein, muß einwilligen. Die Gäste werden ins Vertrauen gezogen, Versprechungen gemacht. Nur zwei Personen sollen im Gastzimmer bleiben, der Wirt und Kanonier Vollmost. Wenn Grasel in die Stube eintritt, wird Mayer fragen: »Also, Herr Wirt, wo ist unser Zimmer?« Darauf haben die anderen aus dem Nebenzimmer und den Verstecken zu springen, auf Grasel zu. Fesseln werden vorbereitet.

Nun geht David Mayer vors Dorf hinaus, wo die Kutsche hält. Die Penkhart hatte inzwischen große Mühe gehabt, den durch das lange Ausbleiben seines Begleiters unruhig gewordenen Grasel daran zu hindern, vom Wagen zu steigen; sie hatte wiederholen müssen, ihr Freund sei sehr vorsichtig und spioniere immer vorerst alles ab, bevor er sich irgendwohin begebe.

Mayer berichtet dem Grasel, er habe ein Gasthaus gefunden und dort ein Zimmer bestellt, im Dorfe sei alles sicher. Er lenkt das Gefährt durch Mörtersdorf vor den Gasthof. »Wir lassen vorläufig angespannt«, mit diesen Worten (Fluchtbereitschaft!) zerstreut er den vielleicht auftauchenden Verdacht Grasels. Sie treten in die Wirtsstube. Hinter den beiden Männern geht die Penkhart. Es ist ein Uhr nachts.

»Also, Herr Wirt, wo ist unser Zimmer?« Nichts rührt sich. Der Wirt bleibt sitzen, aus der Kammer kommt niemand hervor. Das Stichwort verhallt. Nichts rührt sich in der Kammer, nichts rührt sich im Schrank! Wer sollte es auch wagen, sich auf einen Menschen zu stürzen, der den gefürchtetsten aller Schreckensnamen trägt: Grasel!

Der Geheimagent wiederholt die Worte, ärgerlich laut: »Also, Herr Wirt, wo ist unser Zimmer?« Wieder nichts. Er öffnet die Tür ein wenig und flüstert: »So kommt doch heraus!«

Dem Grasel scheinen diese Sekunden nicht zu gefallen. Seinen Mantel hat er auf den Tisch gelegt, jedoch er setzt sich nicht. Plötzlich geht er zum Ausgang, er wolle seine Sachen vom Wagen holen.

Mayer ist wie von Sinnen. Soll ihm sein Opfer noch jetzt entweichen, sollen ihm die viertausend Silberlinge verlorengehen, das Zivilverdienstkreuz II. Klasse, soll die Arbeit von Monaten vergeblich geleistet, alle Gefahren umsonst ausgestanden sein? Nein, nein! Eher soll es mein Leben kosten! Der Agent hat alle Kaltblütigkeit verloren. David stürzt sich auf Goliath. Der strauchelt, im selben Augenblick kommen die versteckt gewesenen Wirtshausgäste mit Heugabeln, Pistolen, Dreschflegeln, ein verzweifeltes Handgemenge entspinnt sich, der Überfallene wehrt sich mit Fäusten und angeblich mit einem Stilett, allein schließlich liegt Johannes Georg Grasel gebunden auf dem Boden. Der Justizverwalter Schopf hat den Wagen rollen gehört und kommt gerade zum Ende des Kampfes. Der Räuberhauptmann wird, mit den schwersten Hand- und Fußfesseln angetan, nach Wien gefahren und muß auf der Reise neben dem Mann sitzen, von dem er sich Rettung erhofft hatte und der ihn aufs Schafott liefert.

Der Spitzel erhält 2509 Gulden Spesenersatz und die ausgeschriebene Prämie von 4000 Gulden, die Penkhart als Gehilfin des Spitzels 400 Gulden, die Helfer im Gasthaus 70 Gulden beziehungsweise 30 Gulden, der Justizverwalter Schopf (Urgroßvater des Grasel-Biographen Robert Bartsch) die Mittlere Zivilverdienstmedaille und Johann Georg Grasel das Todesurteil.

Erst mehr als zwei Jahre später, am 31. Januar 1818, führt man ihn zum Blutgerüst beim Neutor auf dem Glacis, vor Hansjörgls Augen henkt man seine Freunde Jakob Fähding und Ignatz Stangl, genannt den Schönen Natzl, und dann legt der Scharfrichter auch ihm die Schlinge um den Hals.

Der Verurteilte bittet um einen Augenblick Geduld. Man glaubt, er wolle noch etwas sprechen, aber er blickt bloß mit einem verlorenen, erstaunten, verächtlichen Lächeln auf die Menschenmenge, auf die sechzigtausend Wiener, die den Galgen umstehen, und langsam, welch Schluß eines Räuberlebens, sagt er: »Jessas, so viel Leut!« Dann zieht man den Strick in die Höhe.

 


 << zurück weiter >>