Egon Erwin Kisch
Prager Pitaval
Egon Erwin Kisch

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Trauerfall bei Tomascheks

In einer trüben und eiseskalten Winternacht des Jahres 1850 bewegte sich zu Berlin, der großen Hauptstadt Preußens, ein Zug ernster Männer mit flammenden Fackeln über den katholischen Hedwigskirchhof am Oranienburger Tor.

Sie machten halt vor einem Grabe, auf dessen Stein sie beim flackernden Lichte die eingemeißelten Worte zu lesen vermochten:

 

 

Hier ruht in Gott
Herr

FRANZ TOMASCHEK

Schneidermeister aus Kopenhagen
geboren am 20. November 1801
in Sobietusch in Böhmen
gestorben am 20. November 1848
in Berlin.

Tiefbetrauert von Gattin, Kind
und Bruder.

Er ruhe in Frieden!

 

Einige Minuten blieben die Fackelträger vor dem Marmorstein unschlüssig stehen. Waren sie dermaßen ergriffen oder war es die wehmütige Inschrift auf marmornem Stein, die sie in ihrem Vorhaben unschlüssig machte? Nur Geduld, wir werden es bald genug erfahren.

Zuvörderst aber, lieber Leser, ehe wir dem Gebaren dieser nächtlichen Friedhofsbesucher folgen, wollen wir uns hinwegbegeben von dieser Stätte düsterer Trauer und uns um zwei Jahre zurückversetzen in jenes unglückselige Jahr 1848, in welchem die irregeleiteten Völker es freventlich unternommen, drohende Kritik zu üben an den unfehlbaren Ratschlüssen ihrer edlen, an nichts als das Wohl ihrer Untertanen opferfreudig denkenden Fürsten!

Im Hause Nr. 47 der schönen Straße Unter den Linden lebte damals der Schneider Anton Tomaschek, der aus dem Dorfe Sobietusch bei Königgrätz nach Berlin gekommen war und hier im Kreise seiner Bekannten und insonderlich der Hausnachbarn nicht anders als »der Eidesleister mit dem eisernen Ring« genannt wurde. Zu Beginn des Jahres 1848 waren nämlich in den Berliner Zeitungen Inserate erschienen, die in Holzschnitt eine Fratze mit einer Klammer um den Hals zeigten; dem bombastischen Text war (mit Mühe) zu entnehmen, daß der Schneidermeister Anton Tomaschek, welcher diese Annoncen unterfertigte, sich von einer Berliner Brandschaden-Versicherungsgesellschaft für geschädigt hielt, da man ihn anläßlich eines bei ihm ausgebrochenen Werkstättenfeuers nicht zum Zeugenschwur zugelassen hatte. Die Stilisierung der Anzeigen war verschieden, immer gleich blieb jene ringumhalste Fratze und die einleitenden mystisch-unverständlichen Worte: »Ich, Eidesleister mit dem eisernen Ring . . .«

Die Inserate waren groß und zahlreich, also kostspielig. Doch »Ich, Eidesleister mit dem eisernen Ring«, das heißt natürlich, Anton Tomaschek, lebte in Geldverhältnissen, die ihm höchstens gestattet hätten, seine öffentlichen Anklagen im Kleinen Anzeiger des »Sobietuscher Lokalblattes« zu erheben. Kurzum, Anton Tomaschek war zwar ein angesehener Inserent, aber arm, obgleich er seine jeweiligen Zimmerherren (zuletzt hatte der spätere Kunsthistoriker Anton Spinger bei ihm gewohnt) ausgiebig betrog.

Am 23. Oktober des Jahres 1848, in dem sich die Revolution und die Einschaltung der Eideshelfer-Annoncen vollzogen hatte, traf bei Anton Tomaschek sein Bruder Franz aus Dänemark ein. Selbiger war nach seiner Angabe aus Kopenhagen geflüchtet, dieweil die fanatisierte dänische Nationalistenmenge sich große Ausschreitungen gegen die Deutschen zuschulden kommen ließ und man auf die Einwendungen Franz Tomascheks, daß die Tschechen keine Deutschen seien, dänischerseits erwidert hatte, auf solche spitzfindigen Unterscheidungen könne man sich nicht einlassen.

In Berlin erkrankte nun Franz Tomaschek, hütete acht Tage das Zimmer und zwei Tage das Bett und starb laut des mit »Dr. Meyer« unterzeichneten Totenscheines nach wiederholtem Bluthusten am 20. November 1848 zwischen elf und zwölf Uhr nachts. Die Beerdigung fand am 25. November auf dem Kirchhof von St. Hedwig statt. Sein Bruder Anton, den wir schon früher als braven Inserenten kennen und lieben gelernt haben, veröffentlichte Gedichte zum Andenken an den Seligen in den Zeitungen, schmückte dessen Grab mit Blumen und Kränzen und setzte ihm jenen Grabstein, der auch an den Beginn dieser Geschichte (im Wortlaut) gesetzt ward.

Jetzo aber sei der vom Tode Franz Tomascheks sicherlich tief erschütterte Leser, beziehungsweise schöne Leserin, wieder zu jener Schar von Fackelträgern geleitet, die wir vor seinem Grabe in Nacht und Winter stehengelassen haben. Was taten die Männer dort? Der Rasenhügel wurde abgestochen und unter gespanntester Erwartung die Ausgrabung des Sarges vorgenommen.

Wer könnte sich der Entrüstung erwehren, wenn er der auf dem Grabstein Franz Tomascheks eingemeißelten Inschrift »Er ruhe in Frieden!« gedenkt und diesem wahrlich frommen Wunsch in schroffstem Maße Hohn gesprochen sieht durch das Beginnen, den Frieden des Toten zu stören! Aber die nächtlichen Kirchhofsbesucher schienen von solchen pietätvollen Bedenken frei zu sein; mit rauher Hand öffneten sie den Sarg, der die sterblichen Überreste des gottseligen Franz Tomaschek . . .

Nein, sie fanden diese Überreste nicht vor.

Wie von den Männern, die eine aus Vertretern von Polizei und Staatsanwaltschaft zusammengesetzte Kommission bildeten, protokollarisch festgelegt ward, enthielt der Sarg nicht etwa eine modernde Leiche, sondern ein Bügelbrett, ein mit Stroh und Hobelspänen umwickeltes, mit einem Sterbehemd bekleidetes Bügelbrett. Und eine weiße Totenmütze war dem verewigten Bügelbrett aufgesetzt!

Wo aber war die Leiche Franz Tomascheks? Zwei Tage später wurde sie in lebendem Zustande vom kaiserlichen Gendarmeriepostenkommando in Königgrätz auf Weisung der Berliner Kriminalbehörde in Sobietusch verhaftet. Ach, hätte sich Franz Tomaschek, der hier in seiner Heimat unter seinem wirklichen Namen unbefugt weiterlebte, statt ordnungsgemäß in seinem Grabe zu ruhen, nicht im Gasthause dessen gerühmt, daß er ein lebender Leichnam sei, niemals hätten die Berliner Behörden von der amtswidrigen Weiterführung seiner Existenz erfahren! So aber war eine anonyme Anzeige nach Berlin gelangt, die die Exhumierung eines Bügelbrettes und die Verhaftung einer Leiche zur Folge hatte.

Auch Anton Tomaschek, der trauernde Hinterbliebene, Dichter der gereimten Nachrufe und Eidesleister mit dem eisernen Ring, wurde festgenommen. Sintemalen sich nämlich herausstellte, daß er der Urheber des nicht eingetretenen Todes gewesen. Aus Wut darüber, von der Brandschaden-Versicherung in seinem vermeintlichen Rechte geschmälert worden zu sein, hatte er der ganzen Branche Rache geschworen und seinen Bruder veranlaßt, sich bei der Assurance Company (Versicherungsgesellschaft) »Globe« auf tausend Pfund Sterling zu versichern (bei der Kopenhagener Lebensversicherung war Franz Tomaschek bereits versichert), zu sterben und gestorben zu sein, obwohl, wie der aufmerksame Leser bereits gemerkt haben dürfte, dieser Tod keineswegs erfolgt war. Die Gattin Franz Tomascheks in Kopenhagen war damit einverstanden gewesen und hatte auch später von dem an sie ausgezahlten Gelde zweitausend Taler dänisch an Anton Tomaschek gesandt; sie hatte sich dessentwegen in Kopenhagen vor Gericht zu verantworten.

In Berlin aber standen am 15. April 1852 die Brüder Tomaschek, der überlebende und der tote, lebendig vor den Schranken der Justiz. Ihr Mitangeklagter war der Wundarzt Kunze, der den Totenschein ausgestellt, darauf die Unterschrift des Arztes Meyer gesetzt und in einem Attest an die Kopenhagener Versicherungsgesellschaft erklärt hatte:

 

»Vom 29. Oktober an habe ich den Verewigten ärztlich behandelt und mich vielfach überzeugt, daß ihm von seinem Bruder und den übrigen Angehörigen die innigste Teilnahme und liebevolle Pflege in jeder Beziehung bis an sein seliges Ende zuteil geworden ist, was den Hinterbliebenen in der Fremde gewiß großen Trost und Beruhigung gewähren muß und ich, auf Verlangen, der Pflicht und Wahrheit getreu bezeugen kann.«

 

Für diese Arbeit hat der Wundarzt Kunze von Anton Tomaschek (Franz war in der Nacht seines Todes aus Berlin fortgereist) nicht mehr als acht Dukaten und später fünfzig Taler erhalten.

Die drei Angeklagten wurden der Fälschung öffentlicher Urkunden schuldig gesprochen und hierfür zu drei Jahren Strafarbeit verurteilt, ferner wegen Betrugs mit einer Geldbuße von je 15 333 Talern und 10 Silbergroschen belegt, welche im Unvermögensfalle für die Brüder Tomaschek in eine fünfjährige, für Kunze in eine vierjährige Strafarbeit zu verwandeln seien. Nach Abbüßung der Strafe wurden die Brüder Tomaschek in ihr Heimatland abgeschoben, das scheintot gewesene Bügelbrett aber öffentlich versteigert und für fünf Taler losgeschlagen. Wo mag es heute modern? Oder modert es vielleicht überhaupt nicht, ist es verbrannt worden, wie ein gewöhnliches ausgedientes Bügelbrett? Friede seiner Asche!

 


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