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»Es war während einer finsteren Nacht des Jahres 18**. Ein schröcklicher Sturm kündigte sich durch schwarzes Gewölk an. Immer näher grollte der nahe Donner, und einzelne fahle Blitze beleuchteten auf kurze Augenblicke mit ihrem schauerlichen Lichte die wilde Gegend des böhmischen Gebirges bei N . . . mit ihren wildzackigen Felsen, unheimlich dichten Wäldern, reißenden Bächen und entsetzlichen Abgründen. Die steilen Felsen erzitterten unter mächtigen Donnerschlägen, die dunklen Waldströme rauschten eilends von Fels zu Fels, riesige entwurzelte Baumstämme stürzten mit ungeheurem Gekrache hinunter, Regentropfen von nie gesehener Größe fielen hernieder, und die zackigen Blitze folgten einander Schlag auf Schlag. Beim Widerscheine eines der unheimlichen Blitze konnte man inmitten der wildesten Gegend die Gestalt eines starken Mannes von riesenhafter Größe gewahren. In einen schwarzen Mantel eingehüllt, warf er sich neben einem zerklüfteten Felsen nachlässig zur Erde hin. Den Kopf auf den Ellenbogen stützend, schien er ruhig (obgleich mit unheimlich funkelndem Auge!) das schreckenerregende Wüten der aufrührerischen Elemente zu betrachten. Unter einem breiten Hute wallte sein schwarzes, volles Lockenhaar auf die breiten Schultern hernieder. Da enthüllte ein plötzlicher Windstoß einen Teil seines wallenden Mantels, und darunter erglänzten zwei im goldgestickten und mit Edelsteinen besetzten Gürtel eingesteckte spitzige Dolche und drei große Terzerole. Augenscheinlich konnte er kein gewöhnlicher Landmann sein, sondern vielmehr – wie es der Scharfsichtige unter unseren Lesern vielleicht schon erraten hat – kein Geringerer als der große Babinsky, der edelmütige Hauptmann jener ruchlosen Räuberbande, die an der äußersten böhmischen Grenze furchtlos ihr schändliches Handwerk betrieb.«
Das ist die Einleitung. Der ganze Bestand an Phrasenschwall, Hintertreppenromantik und Kulissenkitsch ist zur Einführung des Helden aufgeboten, keine Schmiere könnte sich für eine »Fra-Diavolo«-Aufführung ein Mehr an Schund leisten als das Buch, dem diese blödsinnigen, schwulstigen und vulgären Sätze entnommen sind.
Man verzeihe mir die Ausdrucksweise, die meiner sonstigen Wesensart, der Wesensart eines leidenschaftslosen, ernsten, in nüchterner Bibliotheksarbeit ergrauten Gelehrten, widerspricht. Man wird es dem Forscher gewiß zugute halten, daß er sich zu Schimpfworten hinreißen läßt, wenn er sich von miserablen Schreibungen um Jahre wissenschaftlichen Studiums, um den Traum eines Lebenswerkes betrogen sieht.
Seit beinahe einem Menschenalter bin ich einzig und allein von dem flammenden Ehrgeiz beseelt, eine großangelegte Biographie des Räubers Wenzel Babinsky zu schreiben, der zu seiner Zeit gleichermaßen als Rinaldo Rinaldini Böhmens und als Sherlock Holmes der sechziger Jahre unglaublich populär war, so zwar, daß sein Porträt in der Festung Spielberg zu Brünn neben jenem des doch der Literaturgeschichte angehörigen Dichters Sylvio Pellico (1789 bis 1854) und jenem des doch der Weltgeschichte angehörigen Pandurenobristen Franz Freiherrn von Trenck (1711 bis 1749) aufgehängt wurde und daß jener Teil der Prachower Sandsteinfelsen bei Jitschin, in welchem die Preußen den Österreichern und Sachsen am 29. Juni 1866 in blutigem Treffen gegenüberstanden, keineswegs nach dieser Schlacht oder einem ihrer Helden benannt wurde, sondern den Namen »Babinsky-Wald« führt, nach jenem Räuber, der allerdings in der Gegend der Jitschiner Karthause, wo – ich glaube, ich werde diesen Satz vorzeitig abbrechen müssen, da ich ja nicht für eine Gemeinde von Gelehrten in einer gelehrten Zeitschrift, sondern hier bloß für Laienpublikum zu schreiben gezwungen bin, weil meine Nachforschungen leider keine derartigen Ergebnisse – nein, Schlußpunkt.
Mühselig habe ich Bibliotheken, Antiquariate, Sammlungen, Gerichtsarchive und Akten durchwühlt, um für die Arbeit Material zu erlangen, und es gelang meinem Spürsinn, sogar der seltensten, nicht einmal in den großen Bibliotheken Wiens und Prags befindlichen Literaturwerke über Babinsky habhaft zu werden. So stöberte ich unter anderem folgende Werke auf:
– ( . . . ) »Babinsky, der Räuberhauptmann in den böhmischen Wäldern.« Romantische Erzählung aus jüngster Vergangenheit. Pardubitz 1867, Verlag des Wenzel Pospissil; Druck von Johann Spurny in Prag. 8. Auflage. Preis 26 Kreuzer. (1 vol. in kl. 8°, 127 pp. zu 25 Zz; Frontispize in Holzschnitt, darstellend Ritterburg.)
– ( . . . ) Dasselbe in tschechischer Sprache. Mit dem Vermerk: »Z německého volně přeložil J. Z.« Preis 26 Kreuzer. Verlag Wenzel Pospissil, Königgrätz 1862. (1 vol. in 12°, 110 pp. zu 25 Zz.)
– »Babinsky lebt!« oder »Nach zwanzig Jahren Strafzeit«. Preis 10 Neukreuzer. Zu haben beim Herausgeber Heinrich Adalb. Nowohradsky, Insel Kampa, Meyersches Haus Nr. 493-III, 2. Stock, in Prag, gedruckt bei B. E. F. Mohrmanns Witwe und Söhne, Liliengasse Nr. 496-I, in Prag. Mit der Ansicht des Spielbergs bei Brünn, B.'s Gefängnisort (in Stahlstich), Holzschnittvignette auf dem Titelblatt, darstellend die Attribute der Justitia. (1 brosch. in 8°, 18 pp. zu 44 Zz.)
– Dasselbe Werk in tschechischer Sprache mit drei Stahlstichen im Text, darstellend Spielberg, B., einem seine einzige Kuh zum Markte führenden Bauern 200 Gulden schenkend und B. aus dem Kerker tretend, bittet alle seine Landsleute um Vergebung und Liebe. (1 brosch. in 8°, 15 pp. zu 44 Zz., Antiqua.)
– ( . . . ) »Babinsky, powiestny wudce loupeznicky, geho mlady, wiek mužny, dwacetilety neprestaly trest wiezenj a konecznie geho smrt roku 1879.« 1 vol. in kl. 8°, o. O., J. und V.; mit einem zusammengefalteten Titelblatt (Spielberg) und drei ohne Zusammenhang zum Inhalte stehenden (anscheinend einem Indianerbüchel entnommenen) Holzschnitten im Text; in goth. Lettern.
– ( . . . ) »Johann Slawik, der verwegene Freund des Räuberhauptmanns Babinsky.« Abenteuerlicher Roman aus jüngster Vergangenheit. Pardubitz 1867. Verlag Wenzel Pospissil, Druck von Johann Spurny in Prag. Preis 20 Kreuzer. (1 vol. in kl. 8º; 96 pp. zu 25 Zz.)
– ( . . . ) Dasselbe in tschechischer Sprache. Goth. Lettern.
– ( . . . ) »Wrach Babinsky.« Preis 1 Kreuzer. Jahrmarkts-Bänkel, beginnend mit den Worten: »Waszlaw ach, – To byl sslechetny wrach, –.« (Einblattdruck o. O., J. u. V.)
– ( . . . ) »Die Abenteuer Babinsky's.« Sensationeller Roman aus der ersten Hälfte dieses Jahrhundert von J. Tvrdy. Verlag Alois Hynek in Prag, Zeltnergasse. (2 vol. in Lex. 8°, I. Teil 866 pp., II. Teil 342 pp. zu 35 Zz. Preis des vollständigen Werkes 5 Gulden 70 Kreuzer, jede Lieferung 20 Kreuzer.)
– Dasselbe in tschechischer Sprache.
»Dunkle Geschichten aus Österreich.« Von Moritz Bermann. Mit Illustrationen von Vinzenz Katzler, Wien 1868. Verlag von R. von Waldheim, S. 391 bis 409: »Babinsky, der böhmische Karl Moor.« Ein Bild, »die Braut des böhmischen Karl Moor« darstellend und die Verhaftung des B. in der Waldschenke bei Dobřisch 1839 durch den als Wachmann verkleideten Prager Polizeihauptmann Hoch und die Erschießung von B.'s Geliebter Anna. (1 vol. in gr. 8°, 576 pp. zu 44 Zz.)
– Do Kartouz, Obrazy z truchloher života. Od Petra Kopřivy. (Pseud. für P. Kopal.) Prag 1880, Druck und Verlag bei Cyrill und Methodius-Buchhandlung J. Jennar a spol. (1 vol.)
– »Der Golem.« Roman von Gustav Meyrink, 122. Tausend. Kurt Wolff Verlag, Leipzig 1919. (1 vol. in gr. 8°; vide Kap. »Weib«, pp. 276 passim.)
Die gedruckte Literatur lag mir demnach vollständig vor. Mit liebevollen Schnörkeln malte ich den Titel meines künftigen Werkes, das ein Substrat aus allen diesen Büchern und mehr sein sollte, auf einen Aktendeckel: »Biographie und Delikte des böhmischen Räubers Wenzel Babinsky mit besonderer Berücksichtigung der ein solches Treiben ermöglichenden Sozialverhältnisse der sogenannten patriarchalischen Ära in Österreich, der Gründe für die häufige Verwendung von Gebieten Böhmens als Schauplatz romantischer Schilderungen in der Literatur, der Sympathie, die die zu Zeiten der Patrimonial Justiz gegen jede Obrigkeit und jeden Grundherrn verbitterte Landbevölkerung besonders in Böhmen für jeden Feind der Machthaber empfand, sowie des Einflusses der Ritter-, Räuber- und Abenteurerromane auf die Mentalität der Zeit. Von Prof. Dr. . . .«
Die Vollendung meines Werkes über den literaturgefeierten Räuberhauptmann B., mein Ruhm schien gesichert. Was war denn noch viel zu tun? Ich hatte bloß die so mühselig erlangten Bücher über B. methodisch durchzustudieren, die Ergebnisse der vergleichenden Lektüre auf Zetteln zu notieren, diese in meiner Kartothek zu ordnen und den bibliographischen Hinweisen nachzugehen.
Papperlapapp! Hat sich was mit methodischem Durchstudieren, mit Zetteln und Hinweisen! Hat sich was mit Bibliographie und Quellenangaben!
In all den dickleibigen Romanen gibt es keine für den ernsten Forscher verwertbare Zeile; statt der Jahreszahlen liest man bloß Sternchen, nirgends ein Wink auf Akten- oder Tatsachenmaterial, statt kartographischer Beilagen oder genauer Ortsbezeichnungen nur Phrasen wie: »in dem lieblichen Marktflecken N.«; und von Fußnoten, die doch das Um und Auf jedes Buches sind, sozusagen die Füße der Darstellung, fand ich bloß eine einzige, und diese erklärte das Wort »Farm« (Meierhof in amerikanischen Steppen).
Und da weder im tschechischen Konversationslexikon noch in der Bibliographie Böhmens der Name B.'s genannt ist, obwohl er doch als Titelheld einer ganzen Literatur und als Träger der Brigantenverehrung zumindest eine Erwähnung verdient hätte, und da sich schließlich die in Meyrinks »Golem« gegebene Darstellung von den durch B. begangenen Frauenmorden in Krtsch als der Versuch eines verantwortungslosen Romanschriftstellers entpuppte, die exakte Kriminalforschung irrezuführen, war ich auf eigene Recherchen und Feststellungen nach mündlicher Überlieferung angewiesen. Für werktätige Hilfeleistung bei meinen Arbeiten habe ich insbesondere dem Kerkermeister Babinskys, Herrn Pohl in Jitschin, zu danken, der bis zum Ausbruch des Krieges (unter »Krieg« versteht man in Jitschin natürlich nur den von 1866) Gefängnisaufseher in Karthaus-Walditz gewesen. Am 29. Mai 1855 war das Spielberger Staatsgefängnis in Brünn aufgehoben und das Gebäude von Militär bezogen worden; die weiblichen Sträflinge wurden in die neuerrichtete Strafanstalt zu Wallachisch-Meseritsch, die männlichen in Wallensteins Karthause bei Jitschin gebracht. Unter ihnen Babinsky, der vierzehn Jahre lang in der Zelle Nr. 14 des Josefinischen Traktes gewesen, zunächst angeschmiedet, später tagsüber als Krankenpfleger im Anstaltsspital verwendet.
»Im Spielberger Stammbuch«, dem Aufnahmeprotokoll des Brünner Staatsgefängnishauses, lautet die Eintragung über den am 16. Juni 1841 dort eingelieferten, wegen Raub, Diebstahl, öffentlicher Gewalttätigkeit und Mitschuld am Verbrechen des Betruges zu zwanzigjährigem schwerem Kerker verurteilten Sträfling: »Wenzel Babinsky, insgemein Wenz von Pokratitz oder Pokratitzer Wenz genannt, auch Josef Schmidt, Franz Mally, Anton Müller und Fischer. Aus Pokratitz, zur Stadt Leitmeritz in Böhmen gehörig, fünfundvierzig Jahre alt, katholisch, verheiratet, ohne Profession, hat früher als Gemeiner beim Infanterieregiment Wellington gedient. Derselbe hat sich vom Jahre 1830 an in Pokratitz aufgehalten, entfloh 1832 aus dem Prager Kriminalverhaft und heiratete in Lodz, in Russisch-Polen, von wo er ausgeliefert wurde. Als Mitschuldige werden angeführt: Bartholomäus Klopschitz, Franz Anton Vater, Apollonia Hofmann, Michael Latner und Ignaz Bittner.« In der Rubrik »Körperliche und sittliche Beschaffenheit« des Sträflingsstammbuches heißt es: »Gesund, übrigens ein äußerst verwegener, verstockter, der allgemeinen öffentlichen Sicherheit sehr gefährlicher Mann. Derselbe war mit einer ausgebreiteten Raub- und Diebsbande in Verbindung, ist sehr schlau und unternehmend, hat zweimal auf eine höchst verwegene, mit Lebensgefahr verbundene Art die Flucht aus dem Verhafte ausgeführt und andere mit verleitet.«
Soweit die Aufzeichnungen der Sträflingsprotokolle. Dem in Prag 1888 bei Alois Hynek erschienenen Buche »Podzemni žalářc na brnenském Špilberku a osudy nejzajímavíjšich věznů« (»Die unterirdischen Verliese des Brünner Spielberges und die Schicksale der interessantesten Häftlinge«) von Gymnasialprofessor Franz Bauer ist zu entnehmen, daß Babinskys Vater ein vermögender Schmiedemeister in Pokratitz war, daß der begabte junge Wenzel die Prima des Leitmeritzer Gymnasiums besucht hat und daß er nach Jahren verwegenen Räubertums durch Verrat seiner Geliebten, die die hohe Belohnung lockte, in der einsamen Mühle bei Ottersdorf an der schlesischen Grenze ausgeforscht und nach Belagerung durch Militär auf dem Dach angeschossen, überwältigt und dem Kreisgericht in Leitmeritz eingeliefert wurde. Ein Jahr lang stellte er sowohl dem Untersuchungsrichter als auch seinen Zellengenossen gegenüber in Abrede, daß er Babinsky sei, und verleugnete bei der Gegenüberstellung seinen Vater. Schließlich widerstand er aber der Verlockung nicht, für eine Prise Schnupftabak seinen wahren Namen zu nennen. Jedoch wird in dem Buch »Der Brünner Spielberg, insbesondere die Kasematten und merkwürdigsten Gefangenen desselben, nach historischen Quellen verfaßt von Anton Rossetti, Edlen von Rossanegg, k. k. Major des Geniestabes und Militärbaudirektors in Brünn« (Druck und Kommissionsverlag von Carl Winiker, Brünn 1880), erklärt, daß Babinsky nach einer Messe, die er von seinem ersparten Gelde für seinen Vater lesen ließ, dem Beichtvater das Geständnis abgelegt habe. Auch sonst soll er fromm und gottesfürchtig gelebt und während seiner Haft in Brünn stets einen Rosenkranz bei sich getragen und ununterbrochen gebetet haben.
In Karthaus war Babinsky bei den Barmherzigen Schwestern, die für das Heil von Seele und Leib der Gefangenen zu sorgen hatten, so beliebt, daß er ohne Ketten nach Jitschin gehen durfte. Diese Auszeichnung hat er sich teils durch seine romantische Berühmtheit, mehr aber noch durch seine Kunst als Gärtner erworben, von der Herr Pohl im Anstaltsgarten die schönsten Proben gesehen hat, zum Beispiel fünf verschiedenfarbige Rosen an einem Strauch.
Die auf die Schönheit der Karthauser Äbtissin eifersüchtigen Klatschbasen von Jitschin munkelten allerdings von anderen Gründen für die Beliebtheit Babinskys und bemühten sich, ihm ähnliche Beziehungen zu den Karthäuserinnen nachzusagen, wie sie der leichtfertige Boccaccio in seiner einundzwanzigsten Decamerone-Erzählung dem vermeintlich taubstummen Klostergärtner Masetto aus Lamporecchio andichtet. Herr Pohl setzt dieser Behauptung ein höchst mattes, amtliches Dementi entgegen, fügt aber hinzu, daß die Nonnen tatsächlich wegen dieser Gerüchte 1861 die Männerstrafanstalt verließen und – ihren treuen Gärtner Babinsky in ihre neue Wirkungsstätte mitnahmen, in die Weiberstrafanstalt Repy bei Prag, damit er weiterhin ihren Garten wohl bestelle. Dort hat er seine Tätigkeit noch ausgeübt, als seine Strafzeit abgelaufen, er ein freier Mann war. Gräfin Anna Marie Coudenhove, die in den Jahren 1866 und 1872 einige Wochen im Kloster von Repy zum Besuche ihrer Schwester, der Nonne Charitas (geborene Gräfin Coudenhove) weilte, hat die Biographie ihrer geistlichen Schwester niedergeschrieben und erwähnt darin auch ihre Begegnung mit dem im Ruhestand lebenden Räuberhauptmann Babinsky, der sich bitter über die Schlechtigkeit der Welt beklagte: »Jeden Tag werden mir Blumen und Erdbeeren aus dem Garten gestohlen!«
Aus Repy kam Babinsky sehr oft nach Prag. Obschon er den Namen »Adam Müller« angenommen hat, lüftete er gern sein Inkognito, und sowohl das Wirtshaus »Zum großen Hof« auf dem Pohoreletz als auch das Einkehrhaus »Zum goldenen Schiff« an der Ecke der Belvederegasse und der Lausitzer Gasse waren voll von Leuten, die den berühmten Mann sehen und ihn selbst von seinen Taten erzählen hören wollten. Sein Äußeres war das eines friesischen Senators, sein Gesicht von einem Backenbart umrahmt, die Stirn gewölbt. Immer in schwarzem Anzug (um den Vatermörder trug er eine schwarzseidene Biedermeierbinde), erzählte er in ernstem, ja, salbungsvollem Ton, wie er reisende Kaufleute im Walde überfallen und beraubt hatte – oder was er sonst in den Romanen über sich gelesen.
Am 1. August 1879 ist er in Repy, ergeben in den Willen Gottes, im Alter von 83 Jahren gestorben, und auf dem Friedhof oberhalb Motols liegt er begraben.
Der Babinsky-Kultus war enorm. Im Privatmuseum des Fürsten Metternich in Königswart befindet sich ein chromoplastisches Selbstporträt Babinskys, eine Statue, die der »letzte Karl Moor« während seiner Spielberger Haft aus gekautem Brot modelliert und dann koloriert hatte. Auch eine von ihm aus Brotkrumen geknetete Uhr ist in dem fürstlichen Privatmuseum. Lange Jahre hindurch galt in Prag das Sprichwort: »Besser ein Babinsky als ein Schmidinger«, womit man den ehrlichen Verbrecher in Kontrast zum verbrecherischen Verbrecher setzen wollte. (Schmidinger war Polizeikommissär in Prag gewesen, hatte unter Mißbrauch seiner Amtsgewalt eine polnische Gräfin in Marienbad beraubt und in die Landesirrenanstalt bringen lassen.) Schmidinger hat auch nie einen literarischen Verteidiger gefunden, während die Hefte mit den Taten Babinskys in vielen Tausenden von Exemplaren verschlungen wurden.
Sonst sind es Richtbeil oder Henkerschlinge, die dem Verbrecher zur populären Verherrlichung verhelfen – alle Märchen über Babinsky wurden schon zu seinen Lebzeiten gedruckt, so daß er Zeitgenosse seiner Entrücktheit ins Sagenhafte war, sich selbst als Mythos erlebte und überlebte. Die Autoren der Romane haben also – so kalkulierte ich als Gelehrter – doch wohl das Faktum, daß die Erinnerung an die Berichte über die wirklichen Taten noch so frisch sei, in Betracht ziehen und ihre Erfindung auf diese wahren Begebenheiten stützen müssen. Darum notierte ich alle jene Stellen, die sich gleichzeitig in mehreren der Babinsky-Bücher vorfanden, weil ich in der mehrfachen Erwähnung desselben Vorganges gewissermaßen eine gegenseitige Bestätigung seiner Richtigkeit annehmen zu dürfen glaubte.
Es ergab sich: als Soldat liebte Babinsky eine unschuldige Näherin Lydi, die in Not geraten war und deshalb mit ihrer todkranken Mutter auf die Straße gesetzt werden sollte, wenn sie sich weiterhin den Nachstellungen des lüsternen Hausherrn entziehe; um sie zu retten, raubte Infanterist Babinsky die Kompagniekasse aus und brachte seiner Lydi die Beute zur Bezahlung der Miete. Zu spät! Das Mädchen saß weinend am Bettrand . . . Nun schwor Babinsky allen Reichen Rache und allen Armen Heil und Hilfe. Er flüchtete in die Wälder und fand in einer Mühle Unterschlupf, in der sich ein armer Müller für seinen reichen Grundherrn abrackern mußte. In einer Nacht drangen Räuber durch einen unterirdischen Gang in die Mühle ein, Babinsky stellte sich ihnen entgegen und zwang sie, das Privateigentum des armen Pächters zu schonen. Von so viel Mut und Edelmut entzückt, wählten ihn die Räuber zu ihrem Hauptmann. Von seinen Großtaten ist insbesondere der Überfall auf den wucherischen Bankier Wallenfeld bemerkenswert, den er nötigte, von der geplanten Heirat mit der schönen Josefine abzustehen und sie ihrem mittellosen, aber wackeren Geliebten Adolf von J. zur Frau zu geben. Babinsky selbst liebte eine Müllerstocher namens Elisabeth, und als diese in seiner Abwesenheit von dem Spiegelberg seiner Bande, einem gewissen Kratky, geschändet wurde, stürzte der Räuberhauptmann nach seiner Rückkehr den rohen Gesellen in einen Wildbach, sagte sich von seiner Bande los und stellte sich den Gendarmen. In seinen Kerker schleicht sich der treue Freund Slawik, als Kapuziner verkleidet, und versucht, ihn – vergeblich! – zur Flucht zu überreden.
Diese Angaben schienen mir durch ihre Wiederholung beglaubigt. Als ich aber zu Vergleichszwecken andere Räuberromane durcharbeitete, mußte ich konstatieren, daß sich auch in den Lebensbeschreibungen des Schinderhannes, Caleb Williams, Abbälino, Lips Tullian, Cartouche, Rinaldo, Grasel, Jack Sheppard, bayerischen Hiesl die gleichen Taten, ja sogar mit ähnlichen Namen vorfanden. Schwindel!
In allen Babinsky-Werken ist nur eine Stelle enthalten, die sonst in keinem der Wälzer zu finden ist und der ich daher hier Raum geben will. Sie handelt vom Tode des geflüchteten Slawik und lautet: »Nachdem er nämlich in einer sandigen Wüste im fernen Arabien, wo weit und breit kein Tropfen Wasser aufzufinden war und er keine Menschenseele zu erblicken vermocht hatte, zu Boden sank, da gedachte er der strafenden Gerechtigkeit Gottes, die, wenn auch spät, so doch sicher, ihn im fernen Lande zu erreichen wußte, und mit dem Rufe ›Babinsky!‹ hauchte er sein Leben aus.«