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Nichts liest man in den Chroniken von den Konstanzer Martern des Prager Magisters Johannes Hus mit so nachhaltender Anteilnahme wie die Schilderung seiner letzten Haft. Die Qualen, die er im Turm des Dominikanerklosters auf der Rheininsel und in der Feste Gottlieben erlitten, Schmach und Schmerz seiner Festschmiedung an das kalte Gestein, die Nähe der Kloake, die Dunkelheit seiner Kerkerzelle, sein Leiden an Nieren- oder Gallensteinen, das durch die Klistiere eher erhöht als gemildert wurde – das alles bleibt hinter der grenzenlos schlauen Heimtücke zurück, mit der man ihn in den ersten Junitagen des Jahres 1415 »zur Verfügung des Konzils hielt«, das heißt, für die Verhandlungen ungeeignet zu machen versuchte.
Bei diesen Verhandlungen im Refektorium des Franziskanerklosters standen Hunderte von Anklägern gegen den einen, Kaiser, Päpste, Patriarchen, Erzbischöfe, Bischöfe, Äbte und Dompröpste gegen den schlichten Magister; sobald er etwas auf die Anschuldigungen zu erwidern wagte, »stürzte die ganze Menge mit Geschrei auf ihn ein, er hatte sich nach allen Seiten, nach rechts und links, nach vorn und hinten, zu wehren«. Andere meckerten ihr Hohngelächter, um seine Verteidigung unhörbar zu machen. Schwieg er achselzuckend, weil in diesem Höllenkonzert seine Stimme doch verhallen mußte, so jubelten alle: »Siehst du, jetzt mußt du schweigen, weil du nichts zu entgegnen weißt!«
Während am Abend die Hohen Herren in Kaleschen in ihre Absteigequartiere fuhren, um sich an gastronomischer Tafel und in weichen Daunenbetten für die morgigen Plädoyers zu stärken, wurde der kranke Magister – seit beinahe sieben Monaten hatte er nur Kerkerluft geatmet und das Tageslicht durch die eisernen Filter gesehen – keineswegs in die Kasematten des Schlosses Gottlieben zurückgeführt (wo inzwischen der Mann saß, der im Vorjahre den Hus verhaften ließ, aber nun der entlarvte Betrüger Balthasar Cossa und nicht mehr unfehlbarer Papst war), sondern man schleppte ihn durch finstere Treppengänge in das Verlies des Hauses.
Nichts war mehr heil an dem Märtyrer Hus, und am nächsten Tage sollte er gegen die Welt der Mächtigen und Neunmalweisen die Wahrheit behaupten. Nichts war heil an ihm als der Kopf, mit dem er denken, und der Mund, mit dem er das Gedachte aussprechen konnte. Doch da geschah es, eben im Kerker der barfüßigen Franziskaner, daß ihn in der Nacht vor dem letzten Verhör (8. Juni) auch der Kopf verließ und der Mund. Schwindelanfälle packten ihn, er konnte kein Auge schließen, und die Wachsoldaten geben an, er habe gestöhnt vor Kopfweh, Fieberschauern und Zahnschmerzen. (»Nam et noctem praeteritam dolore dentium totam insomnem duxerat«, sagt der Bericht über den letzten Tag des Prozesses.)
Was mag er gelitten haben, als er den Zahnschmerz fühlte? So lange hatte er auf Hunderte von inquisitorischen Fragen zu antworten vermocht mit einer lauten Stimme, die das einzige war, was ihm in dem Wolfsgeheul der öffentlichen Verhandlung die Möglichkeit gegeben, sich Gehör zu verschaffen. Und nun verschloß ihm der Himmel, dessen Sache er zu vertreten meinte, den Mund durch die Schikanen eines Zahnes, durch Anschwellen der Backe, durch einen rasenden, in den Kopf dringenden Schmerz! Es konnte nicht Zufall sein: Diese banale Krankheit tauchte auf unmittelbar vor der letzten Gelegenheit zum Widerruf, zur Abschwörung, so heftig, daß Johannes fürchten mußte, er werde am nächsten Tag nicht mehr die Kraft haben, dem Kreuzverhör zu begegnen! Wollte also Gott mit dieser Heimsuchung das Zeichen zur Unterwerfung geben?
Vom Zahnschmerz gefoltert, rief Johannes Hus die Instanz an, die entscheiden sollte. Und als sich am Morgen die Sonne aus dem Stadtgraben erhob, wußte er, was er zu tun habe. Er stand den Kirchenfürsten Rede, solange es sein Körper vermochte, dann wurde er leichenblaß und taumelte.
Der Bischof von Riga und die Hellebardiere trugen den offensichtlich von Gott gestraften Erzketzer in das unterirdische Mauerloch zurück, das er nicht mehr verließ bis zur Hinrichtung auf dem Scheiterhaufen.
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Dieser letzte und schauerlichste Kerker des verbrannten Magisters ist in Konstanz nicht leicht zu finden. Während selbst Neubauten, die an der Stelle bedeutsamer Häuser aufgeführt wurden, als historische Stätten markiert sind (so z. B. weist das moderne Wohnhaus Obere Laube Nummer 19 eine Gedenktafel für Hieronymus von Prag auf), ist der Gefängnisturm des Franziskanerklosters nicht gekennzeichnet. Weder Reiseführer noch Hotelportier wissen, daß es ein Franziskanerkloster in Konstanz gibt. Nur für den Besitzer alter Stadtchroniken ist der Gebäudekomplex, der freilich längst teils »Gewerbeschule«, teils »Knabenschule« heißt und erneuert ist, mitsamt dem Turmvorbau zu erforschen. Der Haupteingang in das Volksschulgebäude liegt am Stephansplatz, die hintere Front hat die Bezeichnung »Untere Laube Nr. 12«. Hier war früher die Stadtmauer, und keine Pforte führte von dieser Seite in das Kloster. Knapp bevor die Klosterfront zu Ende ist, springt der massive Turm quadratisch vor, so daß nördlich von ihm nur ein etwa vier Meter breiter Fassadenteil des Hauses übrigbleibt, der von der Straße aus gleichfalls turmartig wirkt. Das gewaltige Klostergebäude hat noch im vorigen Jahrhundert als Kaserne und der Turm – traditionsgetreu – als Arrest gedient. Zur Zeit des Konzils waren die Gefangenen ebenerdig untergebracht, über ihnen befand sich nur das Dach und dort, wo sich die aus zwei Meter breiten Quadersteinen bestehende Mauer lukenartig verjüngt, ein unerreichbares Fenster. In dem heute als Waschküche eingerichteten Raum sieht man auch die ungeschickte Arbeit des nachträglich eingefügten Plafonds; in der angrenzenden Rumpelkammer, die von der Renovierung verschont wurde, überrieselt einen der Gedanke unheimlich, daß hier ein Mensch auf den Steinfliesen lag; der schauerlichste aller Kerker war der des Magisters Johannes Hus, der freilich gefährlicher war als ein gewöhnlicher Ketzer; ein Rebell, ein Kämpfer für das Volk, mit Recht unter die Vorläufer des Sozialismus eingereiht.
Frau Adelsegg, die Schuldienersgattin, bewohnt den Turm, und da man ihr erklärt, was man zu sehen wünscht, schlägt sie die Hände zusammen: »Also ist es doch wahr, was der Vater immer gesagt hat!« Und beim Gitterfenster sitzt der Vater, ein Herr Anslinger, mit grauem Backenbart, achtundsiebzig Jahre alt. Er ist hier selbst Schuldiener gewesen und lebt in der alten Dienstwohnung beim Schwiegersohn im Ruhestand. »Wie ich eingezogen bin, als ganz junger Mensch, hat mir der Herr Rektor gesagt: ›Das ist eine geheiligte Stätte, wo Sie jetzt wohnen werden, das war der letzte Kerker von dem böhmischen Reformator Johannes Hus.‹« – »Wir haben es aber nicht geglaubt«, wirft die Tochter ein. – »Ja, war denn nie jemand da, um den Turm zu besichtigen?« – »Ich wohne schon vierzig Jahre hier, und noch niemand ist gekommen. Sie sind der erste.« Der Alte ist ganz stolz, weil sich noch zu seinen Lebzeiten herausstellt, er habe nicht geflunkert, und der Gast aus einem alten Werk über das Konstanzer Konzil nachweisen kann, daß ein Irrtum ausgeschlossen ist. Herr Anslinger fängt zu erzählen an, wie man vor vielen, vielen Jahren den Riesenstein aus Hegne gebracht hat, um ihn in der Konstanzer Brühl aufzustellen, wo Hus und Hieronymus verbrannt wurden. »Acht Pferde haben den Wagen mit dem Stein gezogen, und trotzdem sind in der Kanzleistraße zwei Pferde gestürzt, und eines hat sich den Fuß gebrochen, ich war selbst dabei. Die Leute haben geschrien: ›Das ist ein Zeichen Gottes! Weil sie dem tschechischen Ketzer ein Denkmal errichten wollen!‹ Alle Fuhrleute haben ihre Pferde ausgespannt, und man hat den Stein mit Ochsen hinausfahren müssen, das hab ich mit eigenen Augen gesehen . . .«
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