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Eigentlich müßte man, keine Bestialität der Details unterdrückend, den Meuchelmord im k. k. Provinzialstrafhause von St. Wenzel an die Spitze des Prager Pitavals stellen.
Dieses Verbrechen oder vielmehr die Empörung, die es hervorrief, wirkte wie der erste Axthieb gegen das Gemäuer des vormärzlichen Strafvollzugs. Jetzt erst hörte der Spielberg auf, der Spielberg zu sein – das, was Kaiser Joseph nicht vermocht hatte, hatten acht vertierte Mörder unbeabsichtigt herbeigeführt. Andere Strafanstalten wurden gesperrt oder umgebaut. Wenn sich auch nur aus Neugier das Volk so tumultuös zu den Gerichtsverhandlungen gegen die mörderischen Zellengenossen vom St.-Wenzels-Haus drängte und wenn es auch bloß die niedrigsten Triebe waren, die den Ansturm der Massen gegen die Galgen und ihren Anprall gegen das Truppenkarree zu einem gefährlichen Kampf gestalteten – der Staat fühlte, daß er selbst schuld sei, wenn in seinem geschlossensten Hause kaltblütig und ohne Gegenwehr gemordet werden könne. Hatte er doch acht verbrecherische Veranlagungen addiert, indem er ihre acht Träger in ein Kerkerloch sperrte. Nunmehr, nach dem Mord, wurden die Massenzellen in ganz Österreich beseitigt, das Kontrollsystem reformiert.
Als einige Jahre später das Wenzelsstrafhaus niedergerissen wurde, erfüllte den sozial empfindenden Dichter diese Maurerarbeit mit Bewegung und Hoffnung. Jaroslav Vrchlicky sang:
». . . Ja, von Tränen benäßt scheint
Dieses tote Gestein, das die Faust der Arbeit
Dröhnend zerschmettert;
Sie, diese starke, heilige Faust voll Schwielen,
Die sich von ehrlichem Fleiß und von Mühsal ernährt,
Niederreißt sie die Kerker, von Flüchen erfüllt,
Sprengt sie den Käfig,
Darin das Verbrechen sich krümmte,
Schüttelnd das Haar, vom Blute des Bruders besudelt,
Darin der Erbe des Kain büßte
In Fesseln und Dunkel.
Vor mir sehe ich nun das Sinnbild der künftigen Zeiten:
Die Hände des Fleißes reißen Gefängnisse nieder.
So wie Christus einstmals die Schächer vom Tempel vertrieben,
Vertreibt nun die Arbeit nieder,
Mit der Geißel des Zorns das Verbrechen,
Kraftvoll wirft sie die Schuld, wirft sie die Sünde
Und der Verzweiflung Wohnhaus macht sie dem Boden nun gleich,
Rufend nach Freiheit . . .«
Der Mord aber, der zu dieser hoffnungsvollen Demolierung Anlaß gab, hatte sich folgendermaßen abgespielt:
In einer Zelle der St.-Wenzels-Strafanstalt auf der Prager Neustadt saßen 1852 neun der schwersten Verbrecher Böhmens: Matthias Soukup, im Jahre 1800 geboren, wegen versuchten Raubmordes zu zwanzigjährigem Kerker verurteilt; Matthias Bašta, geboren 1815, gleichfalls wegen versuchten Raubmordes zu zwanzigjährigem Kerker verurteilt; Franz Stepina, geboren 1810, achtzehn Jahre Kerker wegen Raubes; Josef Stempin, 1815 geboren, Schuster, wegen Raubmordes und Diebstahls zu lebenslänglichem Kerker verurteilt, zu achtzehnjähriger Kerkerhaft begnadigt; Johann Petroušek, zu lebenslänglichem Kerker wegen Raubes verurteilt, zu vierzehnjähriger Haft begnadigt; Johann Loula, zwölf Jahre wegen Raubes; Wenzel Sišan wegen Raubmordes und Diebstahls zu lebenslänglichem Kerker verurteilt, begnadigt zu achtzehn Jahren; Ignaz Černy wegen Brandstiftung zu zwanzig Jahren verurteilt, zu zwölfjähriger Haft begnadigt. Der neunte Häftling der Zelle war Franz Schubert, wegen Raubes zu zwölf Jahren abgeurteilt.
An hundertfünfzig Jahre Kerkerstrafe in einem Raum! Nichts begreiflicher, als daß diese neun Verbrecher nur an ihre Flucht dachten. Sie hatten verabredet, die Gitterstäbe des Fensters herauszubrechen, auf zu Streifen zerschnittenen Decken sich in den Hof hinunterzulassen, über die Mauer in die Freiheit zu klettern. Und nach Dalmatien zu fliehen, »irgendwo ans Meer, wo uns kein Mensch kennt und uns keiner sucht«. Drei Messer, die ihnen gegebenenfalls zur Gegenwehr dienen sollten, waren unter den Strohsäcken versteckt. Neun Männer warteten auf die passende Gelegenheit zur Flucht und vertrieben sich mit Kartenspielen die Zeit; die Karten hatten sie aus Tabakpapier geschnitten und mit Ziegelstaub und Kohle markiert.
Am 3. Juni 1852 entstand zwischen Schubert und den acht übrigen ein erregter Streit beim Kartenspiel, wobei Schubert drohte: »Wartet, das werde ich euch einsalzen!« Aus diesem Satz schlossen die Zellengenossen, er wolle in seiner Wut die verabredete Flucht verraten. Bestärkt wurden sie in dieser Auffassung, als Schubert hinzufügte, er werde sich zum Rapport melden und »in den Speck gehen«, das heißt sich in eine Einzelzelle sperren lassen.
Daraufhin verabredeten sie sich, den Schubert zu erschlagen: es muß ihm wie Holofernes ergehen. Einer nahm ein Handtuch und probierte am Hals, ob es zum Erdrosseln geeignet sei. Als Schubert eingeschlafen war, stürzten sich die acht auf ihn, schlugen und würgten ihn. Auf seine Bitte: »Kameraden, laßt mich, ich verrate euch ja nicht«, antworteten sie mit Hohngelächter. Der Angefallene wehrte sich, er biß den Bašta und den Loula in die Hand, aber acht waren es gegen einen, der Mond schien hell durch das Gitterfenster, so daß jeder der acht aneinandergepferchten Mörder verabredetermaßen seinen Anteil leisten, jeder vor den Zellengenossen zeigen konnte, was er für ein Kerl sei. »Jeder hat eine Vorliebe«, zischte Stepina bei der Gerichtsverhandlung, 9. bis 17. Dezember 1852, seinen Zellen- und Mordgenossen ironisch ins Gesicht: »jeder hat so ein Steckenpferd, Loula den Hals, Černy den Unterleib«. Aber Stepina hatte selbst dem Schubert den Rest gegeben, als dieser schon bewußtlos war. Mit den Worten: »Er hat genug, ich habe ihm das Genick gebrochen!«, meldete er den Kameraden das Ende.
Bašta knüpfte dem Toten das Halstuch ab und band es sich um, auch das Laken holte er von Schuberts Lager und legte sich darauf. Loula suchte sich aus der Tasche des Opfers die Schnupftabaksdose und nahm eine Prise: »An Stelle des Seligen.« Černy rühmte sich (in Anspielung an Schuberts Drohung: »Das werde ich euch einsalzen«): »Dem habe ich eingesalzt!« Und Bašta belobte den Černy: »Das hätte ich dem Burschen nicht zugetraut!«
Dann zerschnitten sie ein Handtuch und hängten damit ihr Opfer an den Fensterrahmen, nachdem sie ihm das Blut vom Munde gewaschen hatten. Der Tote baumelte noch ein wenig, wobei sein Rücken an die Kerkerwand stieß, was den Mördern unsäglich komisch vorkam: »Der wetzt sich noch nach dem Tode den Hintern ab!«
Unterhalb des Leichnams schütteten sie Wasser aus, »weil jeder Erhängte Harn läßt«, und riefen um drei Uhr früh durch das Guckloch dem Wachposten zu: »Der Schubert hat sich erhängt!«
Als die Kommission in die Zelle trat, heuchelten die Mörder tiefes Bedauern: »Der arme Kerl hat sich aufgehängt.« – »Niemand hat ihn doch gekränkt.« – »Er war so eine gute Seele, gestern nachmittag hat er noch so fromm gebetet.«
Aber die Spuren der Gewalttat waren erkennbar, und es galt festzustellen, wer sie begangen. In der Voruntersuchung leugneten alle, jeder versuchte die Schuld von sich abzuwälzen. Erst bei der Hauptverhandlung, als einer dem anderen die Beschuldigung ins Gesicht schleuderte, rächten sie sich durch neue Angaben – Morde, deren Täterschaft die Häftlinge einander einst anvertraut hatten, kamen nun an den Tag.
Die acht wurden zum Tode durch den Strang verurteilt und hörten dieses Urteil ohne sichtliches Zeichen von Bewegung an. In der Zelle dichtete Černy eine Elegie auf die Untat, Loula verfaßte eine Bittschrift, er wolle nicht begnadigt werden, sondern die Todesstrafe erleiden. Aber sowohl Loula als auch Černy, Sišan und Petroušek erhielten Amnestie, und nur an Soukup, Bašta, Stepina und Stempin wurde die Todesstrafe vollstreckt.
Am 14. April 1853 waren bei Žižkow vier Galgen aufgerichtet, durch Bretterwände voneinander getrennt, damit keiner den Todeskampf und die Leiche seines Komplicen erblicke. Infanterie und Husaren bildeten um den Galgenberg Karree, Polizisten und die gesamte Gendarmerie Böhmens versahen den Ordnungsdienst. Trotzdem durchbrach die neugierige Menge dreimal die militärische Absperrung. Zeitgenössische Berichterstatter schätzten die Zahl des Publikums auf etwa hunderttausend. Nachdem die Hinrichtungen vollzogen waren, verteilte man in zweihundert tschechischen und zweihundert deutschen Exemplaren ein vom Gericht ausgegebenes Galgenblatt, das die Untat der Hingerichteten schilderte, und die Verschalungen zwischen den Galgen wurden beseitigt. Bis fünf Uhr nachmittags konnten die Prager die Leichen von vier Mördern baumeln sehen und sich an der Gerechtigkeit der Justiz erfreuen, die den Schauplatz für die Bluttat beigestellt, die gewesenen Mörder und das zukünftige Opfer dort jahraus, jahrein, bei Tag und bei Nacht eingeschlossen hatte, bis der neue Mord geschah.