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Dem preußischen Königtum und der preußischen Junkerregierung, die sich eines Stieber bedienten, hat Karl Marx, als er die »Enthüllungen aus dem Kölner Kommunistenprozeß« schrieb, ein Jena geweissagt. »Jena, das ist das letzte Wort für eine Regierung, die solcher Mittel zum Bestehen, und für eine Gesellschaft, die solch einer Regierung zum Schutze bedarf: Jena!«
Und als Marx 1875 zu seinem prozeßkritischen Meisterwerk einen Nachtrag schrieb, schloß er ihn mit einer Wiederholung dieser Prophezeiung, unbekümmert darum, daß, nunmehr bei Königgrätz Preußens Vormachtstellung errungen und in Versailles das Deutsche Kaisertum für »ewige Zeiten« errichtet war, ein Jena für ewige Zeiten unmöglich schien.
Bei den Friedensschlüssen von 1866 und 1871 war Dr. Stieber anwesend, der Sieger über den inneren Feind bei den Siegern über den äußeren Feind, Stieber vertrat die Herrschaft der politischen Polizei im neuen preußisch-deutschen Reiche. Er war an Ansehen und Würde gewachsen, seitdem ihn ein erlauchter Lockspitzelvater, Friedrich Wilhelm IV., zu dem Gewerbe angeworben hatte, das der königliche Auftraggeber selbst »nicht unter die lauteren classifizieren« wollte; er war arriviert, seitdem Marx ihn überführt hatte der Lüge, der falschen Zeugenaussage, des Renegatentums, des Meineids, des Betruges, der Lockspitzelei, der Anstiftung zum Einbruchsdiebstahl und zur Urkundenfälschung.
Der solchermaßen entlarvte, von Demokraten und Sozialisten als widerlichster Lump aller Lumpen charakterisierte Mann weilt nun 1866 und 1871 bei den Siegesverhandlungen. Er hat die Kommunisten niedergeworfen, und sollten sie sich doch noch regen, so wird ein Sozialistengesetz bald ihre letzte Spur von der Erde tilgen.
Zwar hat der Dor. Marx in seiner Streitschrift von einer Maximalzeit von fünfzig Jahren gesprochen, innerhalb welcher Ideen reifen – aber ist's nicht klar, daß das nur Gefasel ist, billige Weissagungen! Wer wird nach fünfzig Jahren im deutschen Kaiserreich überhaupt noch etwas davon wissen, daß es jemals Sozialisten, jemals einen Kommunistenbund, geschweige denn einen Dor. Karl Marx gegeben habe!
Diesen »demagogischen Schreibereien« gerade zum Trotz hatten König und Junker den Dr. Stieber zu den höchsten Stellen aufrücken lassen, obwohl ihnen seine Machenschaften zeitweise in die adeligen Nasen stanken. Solange er nur dort mit widerrechtlicher Freiheitsberaubung vorging, wo es sich darum handelte, die erotischen Skandalaffären preußischer Prinzen vor Aufdeckung zu schützen, konnte das den obigen Herren nur recht sein. Als er aber auch im Interesse von reichen Bürgern die diesen unbequemen Leute einfach verhaftete, als sich deshalb die Presse und selbst die Staatsanwaltschaft gegen seine Praxis auflehnte, wurde es der Regierung zu toll: am 13. Mai 1860 mußte Stieber, aktiver Chef der Kriminalpolizei, aus seiner Wohnung in der Alexanderstraße, wo er sich im Kreise seiner Familie beim Abendessen befand, abgeholt und nach der Stadtvogtei gebracht werden. Er wurde ungesetzlicher Pressionen angeklagt: der Damenschneider Vysoky, der von Stoffersparnissen Damenmäntel genäht und verkauft hatte, war von Stieber gezwungen worden, dem Modewarenhändler Gerson tausend Taler Schadenersatz zu zahlen, eine Obligation von zweitausend Talern als Pfand zu belassen und eine gegen Gerson gerichtete Strafanzeige zurückzunehmen; den Rentier Goldberg und den Stallmeister Fürstenberg hatte Stieber genötigt, eine an das Bankierhaus Schragow & Co. gerichtete Forderung von viertausendvierhundert Talern zurückzunehmen; ein ähnlicher Druck wurde auf den Hilfsboten Wagner mit der Begründung ausgeübt, er habe vom Bühnenleiter Wallner dreihundertfünfundsiebzig Taler zum Bau eines verdeckten Ganges von der Blumenstraße zum Theatergebäude erhalten und nicht sofort dazu verwendet. Aber die Haft Stiebers dauerte nicht lange. Er wurde freigesprochen, und seine Gegner, darunter der preußische Justizminister Oberstaatsanwalt Starck, wurden pensioniert.
Ebenso hatte er Glück mit seinem Kindesmord. Der angesehene Schriftsteller Dr. Eichhoff hatte in der »Hamburger Reform« geschrieben, Stieber habe eines seiner 21 Kinder (von denen zwei Drittel eines auffallend frühen Todes starben) bei einem berufsmäßigen Hehler untergebracht, um es durch Aushungerung töten zu lassen. Stieber verklagt den Dr. Eichhoff nicht, aber der Staatsanwalt erhebt selbst die Anklage, da durch die Beschuldigung die Amtsehre eines preußischen Beamten verletzt sei; bei der Verhandlung werden Polizeibeamte als Zeugen geführt, die angeben, daß das Kind natürlich natürlich starb, und Dr. Eichhoff wird verurteilt.
Immerhin ist Stieber seines Amtes als Kriminaldirektor enthoben. Er macht nun Polizeidienst in der Berliner russischen Gesandtschaft, bis er nach dem Blindschen Attentat auf den Grafen Bismarck (6. Mai 1866) aus Marienbad nach Berlin berufen wird, um eine politische Feldpolizei zu organisieren.
Ende Juni fährt der neuernannte Feldpolizeidirektor Stieber auf den böhmischen Kriegsschauplatz, im gleichen Zuge, der Wilhelm I., den Prinzen Karl und das engere Hauptquartier von Berlin aus befördert; er leitet die Überwachung des Königs und Bismarcks während des Feldzuges und schildert die Ereignisse in Privatbriefen, die uns erhalten sind. Sie beweisen, welch eitles Männchen der Zeuge von welthistorischem Geschehen ist und wie der zum Polizeidirektor avancierte Achtgroschenjunge seine Anfänge nicht verleugnen kann, sich nur auf die äußerlichen Bagatellen einstellt und die Situation von Grund auf falsch beurteilt. In Reichenberg, wohin das Große Hauptquartier am 30. Juni 1866 aus Berlin übersiedelt, erlebt Stieber das erste Abenteuer und rühmt sich dessen: da die Preußen alles Eisenzeug weggenommen und nicht bezahlt hatten, die Schlossereien verschlossen und die Schmiedegesellen davongelaufen sind, findet sich nicht gleich jemand, der Hemmschuhe auf Stiebers Karosse machen kann; kurzerhand läßt er zwei Schmiedemeister als Geiseln ausheben und schickt sich an, auch den Bürgermeister zu verhaften, als endlich ein Wagner die Hemmschuhe anbringt. Auf diesen Erfolg tut sich Stieber viel zugute.
Von Reichenberg rückt das Hauptquartier nach Jitschin ein, von dort am 3. Juli, da die Nachricht von der Entscheidungsschlacht bei Königgrätz eingetroffen ist, nach Hofitz. Daß Stieber aufs Schlachtfeld hinausgefahren sei, wo noch Tausende von Toten und Tausende von Verwundeten umherlagen, ist zu bezweifeln, weil er es behauptet. Außer der denkwürdigen Tatsache, daß er, der Vater von vierzehn in fremder Obhut vorzeitig zugrunde gegangenen Kindern, vor Edelmut getrieft und zwei Flaschen Wein an Freund und Feind hingegeben habe, weiß er nichts über diesen grausamen Schauplatz einer politischen Umwälzung zu sagen. Dagegen: »Der König und Graf Bismarck waren am Abend vorher ohne Küchenwagen vorgerückt . . .! Das Hauptquartier mußte sich auf offener Straße lagern. Endlich fingen wir an, die Häuser zu erbrechen, um einzudringen. Ich erbrach ein früheres Gasthaus, holte unsere Küche vor und kochte Kaffee auf dem Billard. Aber gleich darauf drangen die Militärärzte in das offene Haus und belegten dasselbe mit Verwundeten; an der Stelle, an der ich Kaffee gekocht, wurden zehn Minuten später sechs Offiziere, vier Preußen und zwei Österreicher, amputiert. Blutjunge vornehme Leute; einem österreichischen Fähnrich von Milch und Blut wurden beide Beine abgenommen. Mir verging sehr bald jeder Appetit. Die Ärzte versicherten mir, die Hälfte der Leute müßten rettungslos sterben, es fehlt hier an allem, namentlich an Eis, welches die Hauptsache sei. Ich erbrach nun ein anderes Haus, quartierte mich ein und versuchte auf einem alten Polsterstuhl zu schlafen, aber in wenigen Viertelstunden lag ich wieder unter stöhnenden Verwundeten. Ich rückte also wieder aus und brach ein drittes Haus auf, wo ein altes, zitterndes, schmutziges Böhmenweib zum Vorschein kam . . . Mittags, gegen elf Uhr (am Tage nach der Schlacht), kam Herr von Bismarck auf dem Markt zum Vorschein. Ich konnte nicht umhin, auf ihn loszustürzen, ihm die Hand zu drücken und meine Freude darüber auszusprechen, daß er unversehrt geblieben. Er war sehr freundlich und, ich kann wohl sagen, gerührt. Gleich darauf begegnete mir Herzog von Ujest. Ich bat ihn um ein Stück Brot für meine Trainsoldaten. Er beteuerte mir, er habe selbst keinen Happen genossen. ›Nun denn‹, sagte ich, ›will ich Euer Durchlaucht, den reichsten Mann im Lande, traktieren. Sie können bei mir eine Tasse schwarzen Kaffee trinken.‹ Man kann sich hieraus ein Bild von den hiesigen Zuständen machen. Gleich darauf kam Prinz Karl die Straße entlang. Er drückte mir mit Tränen in den Augen die Hand und erzählte mir die ganze gestrige Schlacht. Die Garde hat furchtbar verloren, namentlich das 1. Garderegiment. Ein Bataillon hat alle Offiziere verloren, so daß ein Feldwebel das Bataillon geführt hat. Bei der Erzählung drehte sich der Prinz um und weinte bitterlich. Der Prinz hat wohl eine Stunde lang mit mir geplaudert und mir alles ganz speziell erklärt. Herr Hiltl aus Berlin, der als Berichterstatter hier ist, war auch dabei. Hier hört auch aller Unterschied der Stände auf.«
Über Pardubitz und Hohenmaut zieht das Hauptquartier nach Mähren, wo in Zwittau und Cernahora genächtigt und am 12. Juli in Brünn Quartier bezogen wird:
»Ich begab mich sofort auf das Rathaus und forderte Übergabe der Polizeiverwaltung, der Post und des Telegrafenamtes. Mit großer Freundlichkeit wurde mein Verlangen erfüllt. Am Nachmittag fand eine Sitzung des Magistrats statt, in welcher ich in voller Galauniform erschien und mein Amt antrat. Der König rückte mit dem Hofstaat erst gegen Abend ein, und ich hatte bereits die Ehre, mit dem Magistrat und der hohen Geistlichkeit Se. Majestät am Eingange der Stadt zu begrüßen. Ich bin in einem sehr noblen Gasthofe mit voller freier Kost einquartiert. Eine Equipage und zwei Polizeidiener stehen zu meiner Verfügung, und wenn ich ausfahre, reiten zwei preußische Gendarmen vor, ein österreichischer Polizeidiener sitzt auf dem Bock, und ich spiele keine geringe Figur. Von den hier erscheinenden Zeitungen habe ich fünf unterdrückt, vier erscheinen unter meiner Zensur weiter.« In einem Brief an seine Gattin am folgenden Tage (13. Juli) schreibt Stieber aus Brünn: »Wenn ich hier auch eine bedeutende Stellung einnehme, so bin ich nicht auf Rosen gebettet; die Zahl der Vorgesetzten ist zu groß, und es ist mit den höheren Offizieren sehr schwierig zu verkehren. Herr von Bismarck hat unter den hohen Militärs, wie ich sehe, auch eine sehr schwierige Stellung.«
Am 17. Juli, nachmittags, wird das Hauptquartier nach Nikolsburg verlegt. »Nikolsburg«, schrieb Stieber am 19. Juli an seine Frau, »ist eine schöne Besitzung des österreichischen Ministers der auswärtigen Angelegenheiten, der diesen ganzen Krieg herbeigeführt, des Grafen von Mensdorff. Als Graf Bismarck gestern hier ankam, sagte er zu mir: ›Mein Schönhausen ist ein bescheidenes Häuschen gegen diesen fürstlichen Sitz; es ist doch besser, ich schlafe bei Herrn von Mensdorff, als er bei mir in Schönhausen.‹«
Kennzeichnend, wie jemand die Präliminarien zwischen Preußen und Österreich schildert, der auf dem Ausblick steht und keinen Einblick hat: »Ich verkehre in den geheimen Gängen des weitläufigen Schlosses von Nikolsburg, in welchem Napoleon I. nach der Schlacht von Austerlitz gewohnt hat, und es ist höchst interessant, wenn mir dann bald ein österreichischer, bald ein italienischer, bald ein französischer, bald ein preußischer Diplomat über die Bühne huscht und wenn ich alle diese verschiedenen Gesichtszüge studiere. Dazwischen erscheinen manchmal wie ruhig leuchtende Meteore unser König, auch Prinz Karl, Herr von Bismarck und Herr von Roon. Ich hatte vorgestern abend gerade im Portal des Schlosses zu tun, als zwei ziemlich dürftige Landkutschen und eine Wiener Droschke Nr. 382 vorfuhren und die vier österreichischen Friedensunterhändler brachten. Es waren der Kriegsminister Graf Degenfeld, der österreichische Gesandte in Berlin Graf Karolyi und die Legationsräte von Brönner und Kufstein. Ich selbst führte die Herren den Schloßgarten hinauf. Es war ein großer historischer Moment, der die Landkarte von Europa bedeutend verändern wird, als die Abgesandten des stolzen Hauses Lothringen, des Kaisers von Österreich, an der Türschwelle des ehemaligen Vasallen, des Burggrafen von Nürnberg, erscheinen, um den Frieden zu erbetteln und die Schonung der Stadt Wien zu erflehen, in der die Grafen von Hohenzollern einst beim Kaiser Hofdienste zu verrichten hatten. Es geschah dieses Ereignis noch dazu in dem eroberten Schlosse des österreichischen Reichsministers. Der König nahm die Gesandtschaft erst am anderen Tage an, Herr von Bismarck aber hielt noch an demselben Abend mit Herrn von Karolyi, der ihm früher in Berlin so stolz begegnete, ein vertrauliches Zwiegespräch bei einer Kanne Bier, welches ein Kanzleidiener, der mit mir den Schloßberg hinabstieg, in einem irdenen Krug holte, den mir das Dienstmädchen nicht zum Waschwasser vorsetzen dürfte. Es ist wunderbar, wie unscheinbar sich solche große historische Momente in der Wirklichkeit vollziehen! Herr von Bismarck will übrigens viel weiter gehen als der König, aber es scheint, als setze er seinen Willen nicht ganz durch, selbst der Kronprinz, höre ich, steht auf seiten des Herrn von Bismarck.«
Am 25. Juli glaubt Stieber (der keine Ahnung hat, daß gerade Bismarck nicht »weit gehen« will, sondern für einen Frieden ohne Annexionen und Entschädigungen ist), die Verhandlungen seien wohl als gescheitert anzusehen! »Herr von Bismarck tritt sehr energisch für sein Vaterland auf, er will einen möglichst günstigen Frieden für Preußen und ist noch immer nicht einig mit der Hofpartei. Preußen kann diesem großen Manne wirklich ein Denkmal setzen. Wenn es nach Bismarck ginge, wären wir längst in Wien.« . . . Nachschrift: »Soeben werde ich ins Schloß gerufen, man hält den Fortgang des Krieges für möglich, da werde der Teufel daraus klug. Ich traue es dem Herrn von Bismarck zu, daß er den ganzen Frieden umwirft, wenn ihm die Bedingungen nicht passen. Noch hat Italien nicht zugestimmt.«
Woher die Attentatsgerüchte stammen, auf Grund deren er sich mit Sicherungsmaßnahmen für die Person des Königs verdient machen konnte, ist weder in den Akten, noch in den Privatbriefen gesagt, aber wär's auch darin gesagt, so ergäbe das noch keine Kontrolle für die Authentizität. Die Deutschen hatten keine nationalen Gründe, gegen die Preußen aufzutreten, und den Tschechen konnte es ziemlich egal sein, ob sich in ihrem Lande die Wiener oder die Berliner Aristokraten und Offiziere als Herren aufspielten.
Aus Versailles, wo fünf Jahre später Stieber während der Belagerung von Paris wieder Polizeidirektor ist und mit rücksichtsloser Schärfe gegen die erbitterte Bevölkerung vorgeht, hat er bösere Zwischenfälle zu berichten. Durchsuchung aller Häuser, Aushebung von Geiseln und Verhaftungen, die zur Erschießung seiner Opfer führen. Als Jules Favre zu Bismarck kommt, muß er bei Stieber wohnen, ohne daß ihm der Beruf seines Gastfreundes genannt wird, und mit der Feder desjenigen, den selbst ein Polizeipräsident (Hinckeldey) als den größten Halunken Deutschlands gekennzeichnet hat, mit der Feder Stiebers wird die erste Fassung des Präliminarfriedens geschrieben.
Auch bei der Kaiserkrönung spielt Stieber eine beträchtliche Rolle: »Die Hof- und Militärpartei war ziemlich kühl«, schreibt er, »ich vertrat hier die Zivilpartei und das deutsche Volk. Wunderbare Zeiten!«
Fürwahr, wunderbare Zeiten, in denen ein Polizeispitzel »die Zivilpartei und das deutsche Volk« vertritt! Kein Wunder, daß es fünfzig Jahre später schon mit dem Reich zu Ende ist, das solche aus der Taufe hoben. Das »Jena« war gekommen. Und der »Kommunistenbund« erstand in neuer Form, doch durchaus in altem Geiste, im Geiste Marx'.