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I.
Erstes Treffen.
Sie hat den Leib eines Kindes. Die Stimmlosigkeit einer wenig entfalteten Privatperson. Und die Erschütterungsmacht eines Propheten.
… Ein kleines, reglos-pralles Gesicht; dunkles Haar; sie scheint vierzehnjährig zu sein; in Wirklichkeit liegen etwa siebzehn Jahr' hinter ihr. Sie nennt sich Lia Rosen.
Sie ist da und spricht … und auf den Schlag tritt die Suggestion ein. Bei den Hörern: weil sie bei ihr eintritt; auf den Schlag. Das ist ein ganz merkwürdiges Geschehnis.
Hat man in diesem Mädel nur eine, sozusagen, Rezitatorin zu sehn? Oder eine Traumsprecherin? Sie hält sich für eine Rezitatorin; ich glaube vielmehr, es spielt noch andres mit … Das ist die Grenze zwischen wachem Zustand und Unbewußtsein, an der sie dahinzieht. An dieser Grenze zwar steht man bei jeder Kunstleistung: ob einer redet, ein Instrument spielt, eine Kritik schreibt, ein Bild malt, einen Tanz tut.
II.
Aber im Fall dieses Kindes ist der Grenzstein etwas mehr nach dem Dunkel verschoben. Es strömt Kälte von ihr; und inmitten dieser Kälte wird der Zuhörer wie aufgepeitscht; und man zittert. Das, was da spricht, ist ein Überbleibsel von vor dreitausend Jahren. Es schlief und verscholl und verlor sich … und erwacht noch einmal in dem Körperchen dieses unbekannten Mädels.
Heute strahlt in der Welt mehr Sonne. Das aber ist der Ruf aus furchtbaren Zeiten. Als eine Menschheit im Sterben lag. Als ein Volk nirgends mehr Hilfe sah. Als Seherische aufstanden, wandelten, retten wollten, und die Retter ein Grausen umfloß. Hier aus der Kleinen hallt, spät, der verirrte Schrei von damals.
III.
In einem Atelier traf ich sie. Nachher, eines Tages, kam sie plötzlich, sprach in meinem Arbeitszimmer, – daß vor der blutenden Gewalt ihrer Hysterie alles zu verbleichen schien. Und jetzt, wo sie (es war in einer Kunstgalerie der Wilhelmstraße) vor die Öffentlichkeit getreten ist, empfand ich denselben erschütternden Eindruck; alle fühlten ihn, die dasaßen und nicht klatschen konnten.
Sie scheint sich zu verströmen. Sie sprach nicht immerfort so gedrängt wie damals; mitunter durchzuckt von Weinkrämpfen. Aber »Jesus der Künstler« von Dehmel und einiges aus der »Elektra« wird man, wie sie es gab, nicht aus dem Erinnern verlieren. So oft ich diese Verse Dehmels hören werde: so oft muß ich, das ist gewiß, dieser Sprecherin gedenken. Es war … nicht ersten Ranges: sondern von einer zur Abwehr stimmenden Gewalt.
IV.
Ich glaube, daß hier das Dramatische dem Kataleptischen genähert ist. Enger als sonst (denn um dies Grenzgebiet schweift jede Kunst). Aber der Kern ist nicht ein Nervenschaustück: sondern eine Künstlerin seltnen Schlages.
Noch ist alles roh, unbehauen – und so soll es bleiben.
Sie hüte sich vor dramatischem Unterricht; um Gottes willen …
Später wird der Druck ihrer Verzückungen lockrer sein: das ist schade; trotzdem notwendig.
Denn sie verströmt ihr Leben.
1907. 16. März.
Man spielte Lanval, von Stucken. Alle Rosen verregnen, heißt es in dem Werk. Aber Lia Rosen ist nicht verregnet. Sie war die Schwanengeliebte. Sie ist unter Sonnenstrahlen gereift und hat von ihrem frühen Ursaft dennoch viel behalten. Bald sind es fünf Jahre, daß ich sie fand und beschrieb. Sie war ein Kind; keiner in Berlin hat sie gewollt.
Sie ist eine Traumsprecherin – dachte man. Aber »der Kern ist nicht ein Nervenschaustück: sondern eine Künstlerin seltnen Schlages«. Keiner wollte sie; Schienther nahm sie zuletzt nach Wien.
»Später wird der Druck ihrer Verzückungen lockrer sein: das ist schade; dennoch notwendig.
Denn sie verströmt ihr Leben.«
Heut ist dieses Mädel im Beginn der Zwanzig.
Zu Dem, was ihr die Natur gab an Seherischem, an steinerner Tiefe: zu dem trat Bändigung; und Erkennen. Ihr dunkles Geblüt entfaltet sich zur Sonne.
Viele Rosen sind verregnet. Viele Rosen sind verregnet. Aber diese Lia Rosen nicht.
1911. 12. November.