Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Italien hat menschentiefere Darsteller, – doch Frankreich ist das Land der Regie.
Kein Spielleiter irgendwo hat es heraus, den Gang der Handlung zu tönen wie Antoine. Keiner, ein Kunstwerk so zu gliedern. Eine rara avis! Das Ritardando mit überlegener Macht zu brauchen, wie bald das Accelerando; herauszuheben, abzustufen, zurückzudrängen, hinwegzuhuschen; die Künstler zu formen zum Ebenbild seines brutalen Willens; und das Ganze zu bändigen, daß es »steht«, ein für allemal: darin ruht die Geniekraft dieses Mannes.
Nicht in seiner Darstellung. Antoines Grenzen sind eng, in der Simplizitätsspielerei, wie die seiner Vettern in Deutschland, und ein Italiener steckt beide in den Sack … noch als Simplizitätsspieler. Antoine ist groß als Anreger für eine Schauspielerrichtung. (Er selber bildet einen gewissen Wert in der schlichten Linie. Er spielt sozusagen mit dem Gestus der umgekehrten Hand von links unten nach rechts oben, mit der diagonalen Wucht, wobei sich etwa der große Zug mit dem groben Zug berührt.)
Aus jedem mittleren Stück macht er eine Aufführung, an die man nach zwanzig Jahren denkt, mit den Einzelheiten. Man hat das Gefühl: die Aufführung ist das Werk eines Kopfes, eine Faust schob die Puppen, zähmte Schatten und Licht. Nicht bloß im Naturalismus, – er weiß ein Traumstück wie Hannele zu inszenieren …! Man hat den Wunsch: könnte der Mann zu uns kommen, Werke zu spielen, die größer sind. Er würde den Florian Geyer auf die Beine stellen. Durch Reinhardt und seine Schar sind bei uns in der Regie Zustände geschaffen, die sich vor Antoine sehn lassen können. Doch in der Antoine-Ära ist noch im kleinsten Bumstheater an der Seine die Regie bewundernswert. Es wird die Wahrheit des Alltags in einem Dutzend Bühnenhäuserchen von wenigen Parkettreihen mit einer Täuschungskraft gespiegelt, daß dort Schmarren, Melodramen, Polizeiberichte, Sensationen, Brutalitäten tief erschüttern können.
Man erlebt die seltsamsten Theaterwirkungen, über die man staunt, dank einer diesem Volk eingeborenen Gabe der Regie; sie ist in der Antoinezeit nur zum Gipfel gelangt. Die Einzelnen sind auch hier nicht verblüffend groß: doch ihre Menge, ihre Gesamtheit wird unsterblich. Sie machen sechzig Proben und wagen alles. Eine völkische Verbreitung dieser Regiefähigkeit ermöglicht, daß in irgendeinem Zufallskasten von Meistern gespielt wird (die vielleicht Hungerpfoten saugen) mit einer Abtönung, mit einer Rapidität des Ineinanderfassens, mit einem Wahrheitsmut, daß ein nationales Unicum aufleuchtet.
Man sehe das Stück eines Spätlings wie Capus mit dem leisen Galgenhumor, mit dem Lächeln des Verzichtens, mit dem Fünfgradeseinlassen, mit dem etwas gepreßten Glück, mit dem müd ironischen Einlenken, – was für köstliche Zwischenstufler als Regisseure sind sie hier; ebenso bei dem zarteren Donnay. Es ist die Vollendung: nicht bloß an Naturtreue, sondern an Musik. In der Regie liegt heute der Gipfel von Galliens Bühnenkunst.
Antoine steht uns am nächsten von allen Franzosen. Und doch: wie fern bleibt er im »Fuhrmann Henschel«! Er ist ein Regisseur, wie wir keinen haben. Und doch: wie hat er den eigentlichen Grund des Stückes unerkannt gelassen! Er ist ein Darsteller von herrlicher Echtheit. Und doch: wie verwischt er alle tieferen Abschattungen seines Fuhrmannparts!
Die Zuschauer dort bringen für Hauptmann Gefühle der Verehrung mit. Es liegt hierin die Dankbarkeit für Hannele, für die Weber, zugleich eine beklommene Begeisterung wie für etwas Rauh-Großes. Sie gehn mit Antoine durch dick und dünn, sind entschlossen, Ungewöhnlichkeiten in Kauf zu nehmen; ernsthaft neue Dinge zu erfahren. Und doch: sie haben ein andres Stück beklatscht als Hauptmann geschrieben hat. Wie Antoine ein andres gab, als Hauptmann geschrieben hat.
Es zeigt sich, daß sie (und Antoine) im letzten Grunde doch am »mouvement« hängen, an der bewegten Handlung; daß sie zwar fähig sind, Tatsachen mit ihrem Anteil zu umfassen – wie: hat er schon bei Lebzeiten der Frau ein Verhältnis mit Hanne oder nicht; hat sie das Kind wirklich vergiftet oder nicht; welchen von beiden liebt sie im Anfang, den Pferdeknecht oder den Herrn; welchen Reiz kann Herr Siebenhaar auf Franziska Wermelskirch ausüben, man erfährt keinen Vorzug, den er hätte. –
Daß sie aber nicht fähig sind, Halbtöne zu fühlen, zwischen den Zeilen zu ahnen, seelische Schwingungen von einer gewissen Unwägbarkeit mitzumachen. Wie sie vor den letzten Abgründen einer halb russischen Psychologie am letzten Ende versagen. Wie vor Ibsen ihr klarer, kluger Sinn zu einer Art von Dummheit wird.
Stendhal, Constant, Flaubert, Bourget sind prachtvolle Meister der Psychologie: doch nur Meister der arithmetischen Tatsachen. Daß es dämmernde Räume neben den nackten Linien gibt, damit rechnen sie kaum. Musikalisch ausgedrückt: Franzosen wissen, sobald ein Ton auf dem Flügel erklingt, mit wundersamer Sicherheit: dies ist c; dies ist fis. Doch sie hören nichts von den Obertönen, welche mitklingen.
Wir aber hören sie, wie sie unhörbar in die ferne ziehen, den lauten Ton umsummend, als die eigentliche Musik dieser Welt, und in die Ewigkeit münden.
Die Zuschauer und die Darsteller erlebten hier folgendes Stück: ein alternder Mann nahm eine junge Frau, die betrog ihn, er tötete sich. Basta. Allenfalls noch etwas von »Hünengröße« und »gewaltiger Schlichtheit« dämmert in den Köpfen.
Sie hatten aber keine Vorstellung, daß im Henschel-Wilhelm ein Hiob steckt, ein rechtlicher, gütiger Mensch, der nichts begeht und furchtbar geschlagen wird; daß in diesem Drama doch eine Klage ruht gegen das Weltall; und daß in diesen Vorgängen das Geheimnisvolle der ganzen Schicksalswirtschaft mitunterläuft. Die Frau betrog ihn, er tötete sich, bums; basta. Hat er sich erhängt oder den Hals abgeschnitten? Offenbar hat er sich erhängt, denn man hört kein stärkeres Geräusch. Auch nahm er ja die Peitsche mit (Antoine macht es deutlich), so daß er sich bestimmt sogar an der Peitschenschnur erhängt hat. Na also.
»Pauvre homme!«
Ich glaube fast, es gibt keine Brücke.
Antoine vergißt einen Zug: die rechtliche Güte des Fuhrmanns. Er ist ein vorwiegend vierschrötiger Bursche. Für das Menschlich-Schmerzvolle findet er weniger Ausdruck als für das Bäurisch-Wuchtige. Wie er den Knecht hinauswarf, in der Kneipe, klatschten die Hörer; war es ein tiroler Bauernstück? So viel Gewicht auf diesen Zwischenfall gelegt.
Dann, als er den Schwager bei der Hand packt, die Rittner eisern-still umklammert hält, schlug er fortwährend auf den Schwager ein. Er brüllte wie ein Vieh: »J'veux qu'elle vienne … qu'elle vienne … qu'elle vienne.« Immer wieder stöhnendes Gebrüll: »Qu'elle vienne! …« Dann fuhr er los auf sie wie ein Tiger, mißhandelte sie sehr und fiel, als er das Geständnis zu haben glaubte, regungslos zu Boden; nicht wie ein breitschultriger Bauer, sondern wie man auf der Bühne zu Boden fällt.
»Er ist gestorben,« sagten Leute im Parkett, sobald der Vorhang unten war. Jemand sprach: »Nein, es war nur eine Ohnmacht.« Das Haus zitterte vor stürmischem Beifall.
Man kann nicht sagen, was mir ein Franzose entgegenhielt, daß Antoine seine Darstellung »dem französischen Charakter angepaßt hat«. Es ist keine Anpassung, wenn man Grundzüge mißkennt, Abstufungen auslöscht. Antoine war auch vor dem Tod ohne das Seltsam-Hellseherische in der Verzweiflung. Er sagte zwar: ich seh' in die Wolken; er hatte jedoch aber nie hineingesehn.
Daß er eine schauspielerische Leistung gab, die absolut betrachtet und jenseits von der Dichtung, etwas Grandioses war: das steht auf einem besonderen Blatt.
Die Frage nach der Brücke scheint mir zu erwägen.
Denn wie Antoine: so stehn vor dem Werke die Kunstrichter von Paris. Mit schwachem Lichtschimmer. Auszunehmen ist bloß der Jude Catulle Mendès. Er bleibt von allen der einzige, der etwas hinter den glatten Tatsachen dämmern fühlt. Der einzige, der merkt, daß in einer dargestellten niederen Menschlichkeit hier das einen Ausdruck finden sollte, was auf dem griechischen Theater an Königen und Helden verleiblicht wurde.
Antoine, ein wundervoller Spielwart im Nichtseelischen, hat es kaum gewußt. Im Nichtseelischen? Das ginge zu weit. Er ist ein wundervoller Spielwart … im Tagerfüllten.